Jusletter IT

Simulation normierter Verfahren durch situative Modelle

  • Author: Georg Schwarz
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Advanced Legal Informatics Systems and Applications
  • Collection: Tagungsband IRIS 2014
  • Citation: Georg Schwarz, Simulation normierter Verfahren durch situative Modelle, in: Jusletter IT 20 February 2014
Normierte Verfahren sind durch Lektüre des Normtextes oft schwer verständlich. Denn die Textform zwingt zu einer sequentiellen Beschreibung der Verfahrens-schritte, die zumeist vielfache voneinander abhängen und vernetzt sind. Es kann daher durchaus Sinn machen, normierte Verfahren über situative Modelle zu simulieren und dabei stets den Bezug zum Normtext zu vermitteln. Der Beitrag zeigt einen Ansatz, mit dem dies durch Assoziation der Textstellen einer Norm mit der formalen Beschreibung der situativen Modelle des Geltungsbereichs und der Sollensanordnung der Norm gelingt. Eine Brücke zwischen Normtext und (Lebens-) Situation wird geschlagen. Die Zweckmäßigkeit dieses Ansatzes soll in der Folge an Hand einer prototypisch entwickelten Anwendung mit dem Namen «Fallnavigator» beurteilt werden.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Einblicke in die Konzeption
  • 2.1. Normen und deren Situationstypen
  • 2.2. Die Formalisierung von Situationstypen
  • 2.3. Die Verknüpfung der Situationstypen mit dem Normtext
  • 2.4. Die Erweiterung auf Verfahrensnormen
  • 3. Das Projekt «Fallnavigator»
  • 3.1. Die Grundfunktionalität
  • 3.2. Die Navigation
  • 3.3. Der Ausbau des Prototyps zur Verfahrenssimulation
  • 4. Zusammenfassung und Ausblick
  • 5. Literatur

1.

Einleitung ^

[1]
Kennen Sie die Situation, sich in ein neues gesetzlich geregeltes Verfahren einlesen zu müssen? Ein juristischer Berater stößt in einer solchen Situation manchmal auf das Problem, den Verfahrensablauf mit all seinen Ausprägungen allein durch Lektüre des Gesetzestextes nicht zu verstehen. Vielfach wird ein ausreichendes Verständnis erst dann erreicht, sobald das Verfahren in seinen unterschiedlichen Ausprägungen durchlebt worden ist, begleitet durch wiederholtes Nachschlagen im Gesetzestext und Lektüre der zugehörigen Literatur. Ein Beispiel, dass mir sofort aus meiner Praxis1 einfällt, ist das deutsche Umwandlungsrecht, daraus insbesondere jene Regelung, mit dem Unternehmen ihr Vermögen – oder Teile davon – im Wege einer Gesamtrechtsnachfolge auf andere Unternehmen übertragen können. Der Gesetzestext des deutschen Umwandlungsgesetzes (UmwG) versucht das sehr vielfältige Verfahren auf Basis einer allgemein geregelten Grundvariante zu regeln. Je nach Variante2 kann dieses Grundverfahren durch bis zu fünf Gliederungsebenen der Spezialisierung ergänzt und abgeändert werden. Dies hat den Effekt, dass selbst erfahrene Berater im Umwandlungsverfahren Unsicherheiten zeigen.
[2]
Dies vorausgeschickt kann festgehalten werden, dass normierte Verfahren durch Lektüre ihres Normtextes3 oft schwer verständlich sind. Denn die Textform einer Norm zwingt zu einer sequentiellen Beschreibung der Verfahrensschritte, die zumeist vielfache voneinander abhängen und vernetzt sind. Der Leser eines solchen Textes muss dieses Bedingungsnetz in eine eigene Vorstellung übersetzen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe für das Gehirn und gelingt bei komplexen Verfahren kaum in der Erstlektüre. Wir sind auf Hilfsmittel angewiesen, etwa durch Nachschlagen in Kommentierungen oder Lektüre der auslegenden Literatur. Letzten Endes ist es aber die durchlebte Erfahrung, die zu einer rechtssicheren Anwendung komplexer Verfahren führt.
[3]
Es kann daher durchaus Sinn machen, komplexe Verfahren computerunterstützt zu simulieren und während der Simulation den Bezug zu den anwendbaren Teilen des Normtextes aufzuzeigen. Denn Computersimulationen stellen eine interessante Möglichkeit dar, Erfahrungen zu sammeln, Fehler und Missverständnisse zu erkennen, ohne dabei einen Schaden zu riskieren.
[4]
Neue semantische Technologien aus dem Bereich der Wissensrepräsentation scheinen an dieser Stelle geeignet zu sein, diese Simulationen zu ermöglichen. Im Folgenden soll ein Ansatz vorgestellt werden, mit dem eine computerunterstützte Simulation eines Verfahrens gelingen kann. Eine Brücke zwischen dem Normtext und der Verfahrenssituation kann geschlagen werden.

2.

Einblicke in die Konzeption ^

[5]
In den folgenden Ausführungen möchte ich – kurz und vereinfacht skizziert – Einblicke in die konzeptionellen Grundlagen eines laufenden Projekts der Faktor Zehn AG geben. Dieses Projekt untersucht technische Möglichkeiten, in Textform normierte Regelungen möglichst transparent maschinell zu verarbeiten. Es entstand im Rahmen eines Gesamtprojekts zur Industrialisierung von Geschäftsprozessen in Versicherungsunternehmen. Im Speziellen sollen Versicherungs-vertragsbedingungen fallabhängig und automatisiert verarbeiten werden. Ein erster Prototyp für die Untersuchung der technischen Machbarkeit der entwickelten Konzepte ist eine Software mit dem Namen «Fallnavigator». Den aktuellen Entwicklungsstand dieser Software darf ich am Ende dieses Beitrags vorstellen.
[6]
Das spannende an den entwickelten Ansätzen dieses Projekts ist, dass sowohl die Konzepte als auch die Software inhaltsneutral sind. Mit dem Fallnavigator können nicht nur versicherungsvertragliche Regelungen verarbeitet werden, sondern auch andere, z.B. aus dem Bereich des materiellen Rechts oder auch des Verfahrensrechts. Vor dem Hintergrund meiner eingangs erwähnten Tätigkeit als juristischer Berater, entstand sehr bald die Idee, das Projekt auch auf normierte Verfahren zu erweitern.4 Der Begriff des normierten Verfahrens umfasst dabei nicht nur verfahrensrechtliche Regelungen, sondern alle Verfahren, die durch textuell gefasste Regelungen statuiert sind, also insbesondere auch Regelungen des materiellen Rechts (z.B. das in der Einleitung erwähnte deutsche Umwandlungsrecht).

2.1.

Normen und deren Situationstypen ^

[7]
Der im Projekt verfolgte Ansatz basiert auf der Annahme, dass jeder Norm Situationstypen zugeordnet sind. Ein Situationstyp beschreibt dabei eine abstrakte Situation, die sich in einem bestimmten Raum-Zeit-Gebiet realisieren kann. 5 Jede Norm erhält einen Situationstyp für ihren normativen Geltungsbereich sowie – in den meisten Fällen – einen für ihre Sollensanordnung (siehe Abbildung 1).6 Der Geltungsbereich einer Norm ist dabei so definiert, dass sobald eine konkrete Situation dem Situationstyp des Geltungsbereichs entspricht, die Rechtsfolgen der Norm eintreten. Und diese Rechtsfolgen sind durch den Situationstyp der Sollensanordnung definiert. Die Sollensanordnung ist damit prinzipiell als eine verpflichtende Situationsfolge zu verstehen.

Abbildung 1: Situationstypen der Norm

[8]
Zur besseren Veranschaulichung ist vielleicht ein sehr einfaches Beispiel hilfreich: Wir schaffen die Verpflichtung, bei Regen stets einen Schirm zu benutzen, etwa durch die folgende Regelung in Textform: «Bei Regen hat jede Person stets einen Schirm zu benutzen.» Definierbar wäre nun ein Situationstyp für den normativen Geltungsbereich, nämlich mit einer Person, die im Regen steht sowie ein Situationstyp für die Sollensanordnung, nämlich einer Person, die im Regen steht und die einen Schirm benutzt.
[9]
Wir könnten dieser Norm auch einen weiteren Situationstyp zuordnen. Denn die Norm soll nicht bloß eine kausale Implikation von zwei Ereignissen statuieren, sondern eine Verpflichtung. Wie kann aber ein solcher Situationstyp aussehen? Eine Möglichkeit wäre, nicht nur das verpflichtende Verhalten als Sollensanordnung der Norm zu definieren, sondern auch jene typisierte Situation, die Eintritt, sofern der Verpflichtung nicht nachgekommen wird, also die Sanktion der Norm. In unserem sehr einfachen Beispiel würde sich die Sanktion darin zeigen, dass die Person nass wird. Der zusätzliche Situationstyp ist damit wie folgt skizziert: Eine Person, die im Regen steht und nass wird.
[10]
In gleicher Weise wie diese Verpflichtung könnten im Übrigen auch Verbote beschrieben werden. Denn das Verbot ist nichts anderes als die Verpflichtung, ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen.7

2.2.

Die Formalisierung von Situationstypen ^

[11]
Falls sich sich nun ein maschinell berechenbares Metamodell findet, das in der Lage ist, diese Situationstypen formal und adäquat zu beschreiben, könnten normierte Situationen hinsichtlich ihres Zusammenwirkens durch Computersysteme berechnet und letzten Endes simuliert werden. Diese Berechenbarkeit sollte idealerweise nicht nur für die Kausalitäten sondern auch für die deontischen Beziehungen der normierten Situationen gelten.
[12]

Neue semantische Technologien, insbesondere die Bildung von Ontologien mittels Beschreibungslogik, sind heiße Kandidaten, diese Metamodelle zu bilden. Im Gebiet der Rechtsinformatik wurden bereits erste derartige Ontologien entwickelt. Das «European project for Standardized Transparent Representations in order to Extend Legal Accessibility» (Estrella, IST-2004-027655) ist meines Erachtens hier sehr bedeutend. Estrella ist ein EU-gefördertes Projekt, welches informationstechnische Methoden und Modelle entwickelt hat, um die juristische «Wissensarbeit» zu unterstützen. Das Legal Knowledge Interchange Format (LKIF-Core) stellt einen Kern der Entwicklung dieses Projekts dar.8 LKIF-Core beinhaltet eine Sammlung von Metamodellen und Ontologien, unter anderem zur Repräsentation von situativen und normativen Inhalten.

[13]

Die in diesem Projekt entwickelten Metamodelle basieren auf Standards des World Wide Web Consortium (W3C)9, insbesondere dem XML, RDF und OWL Standard. Die beiden letzten Standards definieren moderne Beschreibungssprachen auf Basis der Beschreibungslogik10. Sie besitzen – soweit sie den Bereich der Beschreibungslogik umfassen – eine formal theoretische Semantik und sind mittels ihres logischen Kalküls maschinell berechenbar. Implizite Aussagen können automatisiert abgeleitet, Schlussfolgerungen im Rahmen des Kalküls gefunden werden.

[14]
Der hier vorgestellte Ansatz nutzt die gleichen Standards und auch ähnliche Metamodelle. Um eine – wenn auch nur vage – Vorstellung zu geben, wie eine formale Beschreibung von Situationstypen auf Basis dieses Ansatzes aussehen kann, ist es vielleicht am einfachsten, sich eine Definition eines Situationstyps anzusehen.11 Wir nehmen dazu unser Regen-Beispiel her. Die Definition erfolgt mittels der sogenannten «Manchester Syntax»12, die eine verhältnismäßig «lesbare» Syntax bietet.

    Geltungsbereich_Norm1 ≡ Situation and besteht_aus some Person

    and besteht_aus some Regen

    Sollsituation_Norm1 ≡ Situation and besteht_aus some

    (Person and nutzt some Regenschirm)

[15]
Mit diesen beiden Axiomen werde zwei Situationstypen definiert, einen für den Geltungsbereich und einen für die Sollensanordnung. Der Geltungsbereich ordnet dem Situationstyp eine Person sowie Regen zu. Die Sollensanordnung gibt der Person den Regenschirm. Sobald eine konkrete Situation dem definierten Konzept entspricht (rechte Seite der Definition), wird sie als Situationstyp der betrachteten Norm klassifiziert. Situationstypen müssen daher nur jene Ausprägungen besitzen, die für die Definition ausreichend sind.

2.3.

Die Verknüpfung der Situationstypen mit dem Normtext ^

[16]
Die Beschreibungslogik ermöglicht in dieser Weise eine formale Definition der Situationstypen einer Norm. Die Norm selbst verbindet diese zu einem (deontischen) Situationszusammenhang. Diese Verbindung kann entweder direkt über ein logisches Axiom oder auch datentechnisch über eine sogenannte Annotation des Situationstyps erfolgen. Wieder zur Veranschaulichung und skizzenhaft die Basisaxiome für die Verknüpfung der Norm mit ihren Situationstypen im Wege eines logischen Axioms.

    Geltungsbereich_Norm1 ⊑ kontext_von some {Norm1}

    {Norm1} ⊑ verpflichtet_zu some (Geltungsbereich_Norm1 and gefolgt_von

    some Sollsituation_Norm1)

    kontext ≡ kontext_von-1

[17]
Das erste Axiom sorgt dafür, dass sobald eine konkrete Situation dem Situationstyp Geltungsbereich_Norm1 entspricht, diese Situation eine Relation kontext_von zu unserer Norm1 erhält. Die Verknüpfung zur verpflichtenden Situation stellt das zweite Axiom her. Im dritten Axiom wird eine sogenannte Umkehrrelation definiert. Sobald eine konkrete Situation eine Relation kontext_von zu einer Norm erhält, wird auch einer Relation (hat) kontext von der Norm zur vorgenannten Situation gebildet.

2.4.

Die Erweiterung auf Verfahrensnormen ^

[18]

Der vorgestellte Ansatz sollte auch in der Lage sein, Verfahrensregelungen über eine zeitliche Kette von Situationstypen formal zu beschreiben und automatisiert zu verarbeiten. Ähnlich einem Comic folgt dabei eine Situationsbeschreibung der vorherigen. Die dabei möglichen Situationstypen können durch die Situationstypen der Verfahrensnormen ermittelt und mittels zeitlicher Relationen (gefolgt_von und folgt) vernetzt werden (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Situationskette im Verfahren

[19]
Sobald eine konkrete Situation unter den Geltungsbereich einer Verfahrensnorm fällt, erhält diese Situation eine Relation kontext_von zu dieser Norm bzw. die Norm eine Relation kontext auf die Situation. Damit ist auch der Situationstypen der Sollensanordnung gefunden und das System kann mögliche verpflichtende Erweiterungen des Sachverhalts berechnen. Eine computergestützte Simulation des normierten Verfahrens ist möglich.

3.

Das Projekt «Fallnavigator» ^

3.1.

Die Grundfunktionalität ^

[20]

Um die vorgestellten Ansätze zu überprüfen, haben wir in der Faktor Zehn AG eine prototypische Software entwickelt. Diese Software mit dem Namen «Fallnavigator» soll zeigen, inwieweit eine technische Realisierung des Ansatzes machbar ist, insbesondere wo die Grenzen einer praktischen Anwendung liegen. Anzumerken ist, dass der aktuelle Stand der Software noch nicht alle vorgestellten Konzepte umsetzt. Die Verknüpfung der Norm mit den Situationstypen ist nicht mittels logischer Axiome, sondern mittels einer datentechnischer Verknüpfung realisiert (siehe Abschnitt 2.3).13 Zudem ist es noch nicht möglich, die Ereignisse einer Situationskette im Rahmen einer Verfahrenssimulation getrennt zu bearbeiten.

Abbildung 3: Screenshot Fallnavigator

[21]

Abbildung 3 zeigt einen Screenshot der Software. Nach Start kann der Anwender einen Pool von Normen laden. Dies geschieht durch Aufruf einer entsprechenden Datei, die unter anderem die formale Beschreibung der Normen einschließlich der zugehörigen Situationstypen enthält. Die Anwendung analysiert beim Laden dieser Datei die enthaltenen Normen. Das Ergebnis dieser Analyse ist ein universaler Situationstyp, der alle Situationstypen der geladenen Normen zu einem Situationstyp zusammenfasst.14 Die so geladenen Normen sind nach erfolgreicher Analyse im Fensterbereich «Regelungstext» aufgelistet. Die konkrete Situationsausprägung (der Sachverhalt) kann im Fensterbereich «Situation» per Mausklick aufgebaut werden.

[22]
Sobald ein Sachverhalt einem Situationstyp entspricht, der im Geltungsbereich einer geladenen Norm liegt, erfolgt eine Markierung dieser Norm mittels eines Haken-Symbols. In der Folge berechnet das System aus den Sollensanordnungen der einschlägigen Normen die verpflichtenden Situationstypen und fügt die entsprechenden Ergänzungen – unter farblicher Kennzeichnung – dem Sachverhalt hinzu. D.h. die Anwendung lässt aktuell nur normgemäße Sachverhalte zu, da die Verpflichtung durch eine harte Implikation implementiert ist.
[23]
Im Gesamtblick erhält der Anwender sowohl ein – jetzt noch sehr einfaches – Modell seines Sachverhalts als auch jene Normen, die auf den Sachverhalt anwendbar sind, einschließlich des Normtextes präsentiert. Eine Brücke zwischen Normtext und Lebenssituation ist – in der einfachen Simulation – geschlagen.

3.2.

Die Navigation ^

[24]
Über die Grundfunktionalität hinaus kann die Anwendung zielgerichtet durch die Beschreibung eines Sachverhalts führen. Der Anwender hat einerseits die Möglichkeit, einzelne Normen anzukreuzen. Die Anwendung berechnet in der Folge jene Ergänzungsmöglichkeiten des aktuellen Sachverhalts, die für die Anwendbarkeit der angekreuzten Normen entscheidend sind. Es werden dabei jene Stellen des Sachverhalts mit einem Stern-Symbol markiert, die zu ergänzen sind.15
[25]
Andererseits analysiert die Anwendung die möglichen Erweiterungen des Sachverhalts, die sich aus der Verpflichtung einer möglicherweise anwendbaren Norm ergeben. Der Anwender kann damit, wie z.B. im Screenshot dargestellt ist, das Vorliegen eines verpflichtenden Anspruchs prüfen. Auch hier sind die Ergänzungsstellen des Sachverhalts mit einem Stern-Symbol markiert.

3.3.

Der Ausbau des Prototyps zur Verfahrenssimulation ^

[26]
In der jetzigen Ausbaustufe kann die Anwendung lediglich eine Situation im Kontext der geladenen Normen ausprägen. Wie oben dargestellt, sind normierte Verfahren für den dargelegten Zweck besser über Situationsketten darstellbar. Dem könnte in der Benutzeroberfläche dadurch genüge getan werden, indem mehrere zeitlich aufeinander folgende Situationen zu bearbeiten sind. Eine extra visualisierte Situationskette ermöglicht die Selektion und Bearbeitung der entsprechenden Situation in der Kette. Die einzelnen Situationsbilder würden ähnlich einer Comic-Bildfolge ein Verfahren «erzählen.» Eine Simulation des Verfahrensablaufes mit direktem Bezug zum Normtext wäre möglich.

4.

Zusammenfassung und Ausblick ^

[27]
Der vorgestellte Ansatz zeigt, dass mit Hilfe der Beschreibungslogik die Situationstypen einer Norm (Geltungsbereich, Sollensanordnung und Sanktion) zunächst in einfachen Zügen formal beschrieben und maschinell berechnet werden können. Die Sprachmittel ermöglichen auch die datentechnischen Verbindung des Normtextes mit diesen vorgenannten Lebenssituationen. Damit ist der Grundstein der Berechnung von normierten Situationen gelegt. Das vorgestellte Projekt «Fallnavigator» zeigt eine erste technische Umsetzung dieser Möglichkeit. Einfache Sachverhalte können in dieser Anwendung im Kontext des Normtextes beschrieben und Normfolgen abgeleitet werden. Der Anwender wird durch die Beschreibung des Sachverhalts navigiert, entweder um die Anwendbarkeit einer Norm oder um eine bestimmte Normfolge zu prüfen.
[28]
Die Anwendung kann derzeit lediglich eine beschränkte Anzahl an Normen verarbeiten. Die genutzten Technologien verbessern sich aber sehr schnell. Darüber hinaus ist die Software zu erweitern, so dass Situationsketten bearbeitet werden können. Damit wäre die Simulation eines normierten Verfahrensablaufes, vorstellbar und wohl auch technisch realisierbar.

5.

Literatur ^

[Baader, 2003] Baader, F. (2003). The description logic handbook: theory, implementation, and applications. Cambridge university press.

[Barwise and Perry, 1987] Barwise, J. and Perry, J. (1987). Situation und Einstellungen: Grundlagen der Situationssemantik. Grundlagen der Kommunikation. de Gruyter, New York.

[Breuker et al., 2007] Breuker, J., Hoekstra, R., Boer, A., van den Berg, K., Sartor, G., Robino, R., Wyner, A., Bench-Capon, T., and Palmirani, M. (2007). OWL ontology of basic legal concepts (LKIF-Core). Technical Report Deliverable D1.4, Estrella.

[Hoffmann et al., 2011] Hoffmann, H., Lachmayer, F., and Schwarz, G. (2011). Von der Regel zur Rolle – die Unterstützung der juristischen Abfrage durch situative Ontologien. In Strukturierung der Juristischen Semantik – Structuring Legal Semantics, Liber amicorum, page 411 ff. Weblaw, Bern.

[Horridge et al., 2006] Horridge, M., Drummond, N., Goodwin, J., Rector, A. L., Stevens, R., and Wang, H. (2006). The Manchester OWL Syntax. In OWLed, volume 216.

[Sartor, 2006] Sartor, G. (2006). Fundamental legal concepts: A formal and teleological characterisation*. Artificial Intelligence and Law, 14(1–2):101–142.

[Schwarz, 2010] Schwarz, G. (2010). Visualisierung juristischer Zusammenhänge mittels OWL. In Globale Sicherheit und proaktiver Staat – Die Rolle der Rechtsinformatik, page 569 ff. Österreichische Computer Gesellschaft, Wien.


 

Georg Schwarz

Faktor Zehn AG

Neumarkter Straße 71, 81673 München, DE

Georg.Schwarz@faktorzehn.de; http://www.faktorzehn.de

 


  1. 1 Ich bin als interner juristischer Berater für ein IT-Unternehmen in Deutschland tätig.
  2. 2 Insbesondere folgende Varianten sieht das deutsche Umwandlungsrecht vor: Verschmelzung, Aufspaltung, Abspaltung, Ausgliederung, mit und ohne Ausgründung, Beteiligung von Personengesellschaften oder GmbHs oder AGs etc.
  3. 3 Im Folgenden verwende ich die Begriffe Norm und nicht Gesetz, da die vorgestellten Ansätze nicht auf Gesetze eingeschränkt sind.
  4. 4 Meine ersten konkreten Ideen einer softwaretechnischen Simulation habe ich in [Schwarz, 2010] beschrieben.
  5. 5 Ich verwende hier die Bezeichnung «Situationstyp» gemäß der in [Barwise and Perry, 1987] herausgearbeiteten «Theorie der Situationen».
  6. 6 Vgl. auch bereits [Hoffmann et al., 2011].
  7. 7 Das ergibt sich aus den klassischen deontischen Beziehungen, die durch den vorgestellten Ansatz nur in einem sehr kleinen, dem Zweck entsprechenden Ausmaß realisiert werden. Eine sehr weitreichende Darstellung der klassischen Beziehungen gibt sicher [Sartor, 2006].
  8. 8 Die Metamodelle des LKIF-Core sind unter der Webseite http://www.estrellaproject.org/lkif-core/ veröffentlicht. Dort kann ich insbesondere [Breuker et al., 2007] empfehlen.
  9. 9 Einen umfassenden Einblick in die Web Ontology Language gibt die Webseite http://www.w3.org/ des W3C, etwa unter http://www.w3.org/TR/owl-features.
  10. 10 Einen hervorragenden und sehr tiefen Einblick in die Welt der Beschreibungslogik bietet [Baader, 2003].
  11. 11 Die vorgestellten Axiome zeigen nur einen kleinen und sehr vereinfachten Ausschnitt und dienen lediglich dazu, eine vage Vorstellung über die Formalisierung zu vermitteln. Insbesondere fehlen die erforderlichen Axiome, welche für die deontische Schlüssigkeit sowie für ein – beschränktes – nicht monotones Schließen sorgen.
  12. 12 Die Manchester Syntax ist eine formale Sprache zur Definition von Konzepten im Sinn der Beschreibungslogik bzw. von Klassen im Sinn der Web Ontology Language. Sie wird durch den weit verbreiteten OWL Editor «Protege», genutzt. Eine Darstellung der Manchester Syntax liefert [Horridge et al., 2006].
  13. 13 Der zu Beginn des Projekts genutzte Reasoner war noch nicht in der Lage, eine Verknüpfung mittel logischem Axiom in angemessener Zeit aufzulösen.
  14. 14 Im aktuellen Entwicklungsstand der Anwendung ist dieser allgemeine Situationstyp noch nicht vernetzt, sondern baumartig strukturiert.
  15. 15 Anzumerken ist an dieser Stelle, dass die Beschreibungslogik eine sogenannte «open world semantic» besitzt. Das bedeutet, dass eine fehlende Information im Sachverhalt nicht als «nicht vorhanden», sondern als «unbekannt vorhanden» interpretiert wird. Sachverhaltsergänzungen sind daher stets sowohl positiv als auch negativ einzugeben.