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Die Anforderungen an Sprachen zur Formalisierung von Verwaltungsrecht

  • Author: Johannes Scharf
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Advanced Legal Informatics Systems and Applications
  • Collection: Tagungsband IRIS 2014
  • Citation: Johannes Scharf, Die Anforderungen an Sprachen zur Formalisierung von Verwaltungsrecht, in: Jusletter IT 20 February 2014
Der Beitrag beginnt mit einer Einführung in die Problematik. Die grundlegenden Anforderungen an Sprachen zur Formalisierung von Verwaltungsrecht werden sodann anhand theoretischer Überlegungen und exemplarischer Verwaltungsnormen erhoben. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und ein Ausblick auf zukünftige Forschungen gegeben.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Die Besonderheiten des Rechts
  • 3. Grundlegende Anforderungen
  • 4. Zusätzliche Anforderungen
  • 5. Schlussfolgerungen
  • 6. Literatur

1.

Einleitung ^

[1]
Dieser Beitrag dient der Darstellung der allgemeinen Anforderungen an Sprachen zur Modellierung von Normen (des Verwaltungsrechts). Damit sind jedoch nicht konkrete Anforderungen eines bestimmten Gesetzes gemeint, sondern vor allem solche, die sich abstrakt, insbesondere aus den Eigenschaften der Rechtsnormen und den Eigenheiten juristischer Entscheidungsfindung, ergeben. Der Fokus der Untersuchung ist dabei auf das österreichische Verwaltungsrecht gerichtet.
[2]

Diese Analyse ist Teil der Dissertation des Autors, die sich mit der Automatisierung von Verwaltungsvorgängen beschäftigt (Scharf, 2012). Sie dient als Grundlage für die zukünftige Untersuchung der vorhandenen Sprachen, wie z.B. LKIF, LegalRuleML etc., hinsichtlich deren Tauglichkeit zur Modellierung von Verwaltungsrecht.

[3]
Die Formalisierung von Gesetzen ist notwendig, um diese computerunterstützt verarbeiten zu können, um so eine automatisierte Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Die Schaffung eines einheitlichen Standards für die Formalisierung von Verwaltungsgesetzen scheint auf lange Sicht unabdingbar um eine Effizienzsteigerung und höhere Transparenz im E-Government zu erreichen. Die Schaffung einer soliden konzeptuellen Grundlage für die Modellierung von Normen und die automatisierte Entscheidungsfindung ist ein wesentlicher Faktor für den Erfolg derartiger Unternehmungen.
[4]
Obwohl es schon seit Längerem Softwarelösungen im Bereich der Verwaltungsautomatisierung gibt, die die Durchführung von Verfahren unterstützen, fehlt bislang eine eingehende theoretische Auseinandersetzung mit diesem Thema. Den Forschungen auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz und Recht wurde bisher kaum Beachtung geschenkt. Dies zeigt sich unter anderem im Fehlen einheitlicher Standards und der Diversität der vorhandenen Implementierungen.
[5]
Die gängigen Lösungen sind zudem mit einer Reihe von Problemen behaftet. Zu diesen gehören insbesondere:
  • Das Fehlen einer geeigneten «Domain Specific Language» zur Modellierung von Verwaltungsrecht. Die bisherigen Ansätze sind zu sehr technisch orientiert, sodass Fachexperten nicht das eigentliche Wissen – die Rechtsnormen – modellieren können. Die derzeitigen gesetzlichen Modelle im Programmcode weisen ein sehr niedriges Abstraktionsniveau auf.
  • Die Erstellung von E-Government-Systemen ist fehleranfällig, es mangelt an etablierten Standards für die Implementierung.
  • Juristische Informatiksysteme müssen, insbesondere aufgrund von Gesetzesnovellen, mit häufigen Änderungen des modellierten Wissens umgehen können. Die derzeitigen Lösungen sind dafür meines Erachtens nur unzureichend geeignet. Gesetzliche Änderungen führen zu einem hohen Anpassungsaufwand der Softwaresysteme.
  • Die Implementierung und Anpassung solcher Systeme ist aus diesen Gründen nach wie vor sehr teuer.
[6]
Der gegenständliche Beitrag stellt den ersten Schritt dar, eine solide theoretische Grundlage für die Implementierung sogenannter juristischer wissensbasierter Systeme – insbesondere für das Verwaltungsrecht – zu entwickeln. Charakteristisch für wissensbasierte Systeme (WBS) ist die Trennung zwischen der Wissensbasis und der Inferenzmaschine, die aus dem vorhandenen Wissen Schlussfolgerungen ableitet. Diese Trennung unterscheidet WBS von bisherigen Lösungen, in denen das rechtliche Wissen zur Problemlösung und der Lösungsalgorithmus direkt im Programmcode eingebettet sind.
[7]
Bei der Erhebung der Anforderungen für WBS muss insbesondere zwischen jenen unterschieden werden, die an die formale Sprache zur Modellierung des Wissens gestellt werden und solchen, die an die Softwarearchitektur gerichtet sind. Überdies wird durch die Auswahl der Sprache zur Wissensmodellierung nicht auch bereits die Struktur der Wissensrepräsentation – des Modells – vollständig vorgegeben. Demnach kann man zusätzlich Anforderungen definieren, die an das Modell des Wissens selbst gerichtet sind.
[8]
Die folgenden Ausführungen in diesem Beitrag beschränken sich auf die Anforderungen, die an formale Sprachen zur Wissensrepräsentation gestellt werden.

2.

Die Besonderheiten des Rechts ^

[9]
Das Recht ist ein komplexes Phänomen und tritt in unterschiedlichen Erscheinungsformen – wie Gesetzen, Verordnungen und Entscheidungen – zu Tage. Die einzelnen Rechtsnormen können insbesondere nach ihrem Adressaten, der normsetzenden Autorität und dem Erzeugungsverfahren, unterschieden werden.
[10]
Trotz dieser Diversität des Rechts – man denke nur an die unglaubliche Vielfalt an Verwaltungsvorschriften – hat die Rechtstheorie einige gemeinsame Eigenschaften von Rechtsnormen identifiziert. Aus diesen Eigenschaften ergeben sich im Wesentlichen die Anforderungen an Sprachen zur Formalisierung von Rechtsnormen.
[11]
Bevor die Arten der Rechtsnormen und die soeben bereits erwähnten Eigenschaften diskutiert werden, sei an dieser Stelle zunächst auf die Besonderheiten des Rechts eingegangen. Bei der Implementierung von wissensbasierten Systemen und der damit verbundenen Formalisierung von Rechtsnormen müssen diese Besonderheiten ausreichend berücksichtigt werden, um eine adäquate Repräsentation zu gewährleisten.
[12]

Die folgende Darstellung orientiert sich an Boer (2009, S. 16 ff.), der sich in seiner Dissertation unter anderem mit den Besonderheiten des Rechts beschäftigt hat, die es bei der Entwicklung von juristischen wissensbasierten Systemen zu berücksichtigen gilt.

[13]

(1) Die in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommenen formellen Gesetze spielen als geschriebene Rechtsquellen eine zentrale Rolle für die Extraktion von Wissen. Das Recht regelt explizit wie sich die Rechtsunterworfenen zu verhalten haben, legt den Ablauf von Verfahren fest und darüber hinaus auch wie Rechtsvorschriften zu interpretieren sind1. Es scheint also auf den ersten Blick so, als wäre das Recht vorzüglich für die Formalisierung geeignet. Die Forschungen und praktischen Erfahrungen haben jedoch gezeigt, dass die Implementierung von juristischen Informatiksystemen oder die Bildung allgemeiner Theorien für das Design solcher Systeme durch die Tatsache erschwert wird, dass das Recht spezielle Regeln vorgibt «wie» die rechtliche Beurteilung zu erfolgen hat.

[14]
Angemerkt sei, dass implizites («stilles») Wissen von Experten eine eher untergeordnete Rolle – im Vergleich zu anderen Disziplinen – zu spielen scheint. Rechtliches Wissen tritt vielmehr explizit – insbesondere in Form von Gesetzen und Entscheidungen – in Erscheinung. Das rechtliche Wissen steht damit relativ kompakt und vollständig zur Verfügung, um in juristischen wissensbasierten Systemen implementiert zu werden.
[15]
(2) Charakteristisch für das Recht ist, dass die Rechtsquellen selbst häufigen Änderungen unterworfen sind. Derartige Anpassungen werden durch gesetzliche Novellen aber auch durch gerichtliche Entscheidungen bedingt, die oftmals das Abgehen von der bisher vertretenen Rechtsansicht – und damit die Änderung, des im WBS repräsentierten Wissens – erforderlich machen. Neues Wissen entsteht damit ebenso explizit in Form von Änderungen der Rechtsquellen. Eine weitere Besonderheit in diesem Zusammenhang ist, dass das Recht selbst festlegt, wann neues Wissen anzuwenden ist. Man denke insbesondere an das oftmals in Gesetzesnovellen explizit angegebene Datum des Inkrafttretens der enthaltenen gesetzlichen Bestimmungen.
[16]
Diese Dynamik des Rechts unterscheidet sich maßgeblich von anderen Gebieten, in denen das vorhandene Wissen oftmals über einen längeren Zeitraum relativ konstant bleibt.
[17]
(3) Bei sämtlichen Arten der Schlussfolgerung – nicht nur im Recht – unterscheidet man zwischen vorschreibendem und beschreibendem Wissen. Im Recht spielt jedoch die Spezifikation und Kategorisierung von vorschreibendem Wissen eine gewichtigere Rolle.
[18]
Entscheidungen benötigen allgemein eine große Menge von unveränderlichem, beschreibendem Wissen. Die Entscheidungsfindung wird dabei von Zielvorgaben, Beschränkungen, Anforderungen und Regeln bestimmt, die die angestrebte Lösung in Grundzügen vorgeben. Die Rechtswissenschaft beschäftigt sich oftmals mit der Organisation von vorschreibendem Wissen – beschreibendes Wissen wird aus anderen Bereichen, falls notwendig, herangezogen.
[19]
(4) Die Begründung von Entscheidungen ist im Recht eine unabdingbare Notwendigkeit. Die korrekte Durchführung des Verfahrens (der Methode) zur Entscheidungsfindung ist wichtiger als die Qualität der Entscheidung selbst. Für die Bewertung der Qualität der Entscheidung existiert nämlich kein unabhängiger Standard, der zur Beurteilung herangezogen werden könnte.
[20]
In anderen Disziplinen hingegen werden oftmals etablierte wissenschaftliche Methoden angewendet, um ein entsprechendes Ergebnis zu erlangen. Die Forschungen sind primär an korrekten Ergebnissen interessiert. Zur Kontrolle werden externe Standards herangezogen, die unabhängig von der verwendeten Methode sind. Rechtliche Entscheidungen hingegen sind jedoch mangelhaft und können angefochten werden, sofern das vorgeschriebene Verfahren (die vorgeschriebene Methode) nicht formell- und materiell-rechtlich korrekt durchgeführt wurde.
[21]
(5) Des Weiteren ist im Recht die Unterscheidung zwischen Fakten und Behauptungen notwendig. Diese Unterscheidung hat im Bereich der KI und Recht zu diversen Ansätzen und Theorien geführt, die sich mit Konfliktsituationen auseinandersetzen, in denen die Parteien gegenteilige Ansichten über einen Fakt oder die rechtliche Beurteilung vertreten.
[22]
Ein juristisches wissensbasiertes System muss also grundsätzlich in der Lage sein, mit widersprüchlichen Informationen – wie abweichende Rechtsansichten über dieselben Fakten – umgehen zu können. Im Gegensatz dazu müssen wissensbasierte Systeme in anderen Bereichen, wie beispielsweise der Medizin, in der Regel nicht zwischen vom Benutzer des Systems vorgebrachten Behauptungen und Fakten unterscheiden.
[23]

(6) Rechtsnormen sind voneinander abhängig und miteinander verknüpft. In Gesetzen findet man eine Vielzahl von Verknüpfungen zwischen den Normen, die auch auf andere Gesetzestexte verweisen. Normative Konflikte werden dabei durch Metaregeln wie lex specialis und lex posterior gelöst (van de Ven, Hoekstra, Breuker, Wortel, & El-Ali, 2008, S. 1).

[24]
Solche Verknüpfungen bestehen nicht nur zwischen Normen derselben Stufe, sondern (zumindest implizit) zwischen einfachen Gesetzen und dem Verfassungsrecht, darüber hinaus auch zwischen nationalen Gesetzen und Bestimmungen des Europarechts.

3.

Grundlegende Anforderungen ^

[25]
Im vorherigen Abschnitt wurden die besonderen Eigenschaften des Rechts im Überblick dargestellt. Dieses noch recht vage Grundverständnis soll nun vertieft und die Anforderungen an Sprachen zur Formalisierung von Normen erhoben werden.
[26]

Seit Langem gibt es auf dem Gebiet der KI und Recht Anstrengungen, die Charakteristika von Normen und Gesetzen zu modellieren. Dies hat zur Entwicklung von XML-Standards zur Repräsentation von Rechtsdokumenten wie beispielsweise CEN MetaLex oder LKIF geführt. Viele dieser Ansätze sind gut entwickelt und praktisch relevant, beschränken sich jedoch oftmals auf die Repräsentation von Rechtsdokumenten und nicht den Rechtsnormen selbst (Gordon, Governatori, & Rotolo, 2009, S. 283).

[27]

Viele Nachteile und Probleme der verfügbaren Sprachen resultieren möglicherweise aus der Tatsache, dass es vor den Bemühungen von Gordon et al. (2009) keinen ganzheitlichen und systematischen Versuch gab, die allgemeinen Anforderungen an Sprachen zur Modellierung von Normen zu erheben. Überdies scheint es bislang noch keine (vollständige) Übereinstimmung zwischen den Forschern hinsichtlich der Minimalanforderungen an solche Sprachen zu geben.

[28]

Der eben erwähnte Beitrag von Gordon et al. ist der erste systematische Überblick über die bisherigen Forschungen auf diesem Gebiet und stellt die Minimalanforderungen an Sprachen zur Modellierung von Rechtsnormen dar. Vorausgeschickt sei, dass die Autoren von «rule interchange languages» – also Sprachen zum Austausch von Normen – sprechen.

[29]

Der folgenden Darstellung liegt das Normverständnis von Kelsen zugrunde. Eine Norm ist der Sinn eines menschlichen Willensaktes, der intentional auf das Verhalten anderer gerichtet ist und so anderen Personen ein Verhalten gebietet, verbietet oder erlaubt (Kelsen, 1992).

[30]

In der Rechtstheorie werden Rechtsvorschriften meistens in die Kategorien konstituierende Normen und vorschreibende Normen eingeordnet (Athan u.a., 2013, S. 7). Dabei besteht in der Rechtstheorie und auf dem Gebiet der KI und Recht weitgehend Einigkeit, dass Normen grundsätzlich folgende konditionale Struktur haben (Gordon u.a., 2009, S. 284; Kelsen, 1979):

    wenn A1, . . . , An dann B
[31]
«A1, . . . , An» ist der Tatbestand der Norm und B die Rechtsfolge, die anzuwenden ist, wenn die Bedingungen erfüllt sind.
[32]
Eine rechtliche Regel («rule») ist in diesem Kontext demnach eine Formalisierung der Prämissen und der Schlussfolgerung. Jeder Ansatz der Formalisierung von Rechtsnormen muss – soll dieser von Erfolg gekrönt sein – die Struktur von Rechtsnormen ausreichend berücksichtigen.
[33]

Die anschließende Erhebung der Minimalanforderungen an Sprachen zur Modellierung von Normen folgt dem Beitrag von Gordon et al. (2009).

[34]
Isomorphismus: Zwischen den Rechtsnormen und deren formaler Repräsentation muss eine Beziehung hergestellt werden. Idealerweise sollte eine direkte Beziehung (1:1) zwischen den, in natürlicher Sprache formulierten, Normen des Rechtstexts und deren Repräsentation im Modell hergestellt werden.
[35]
Reifikation: Normen können als Objekte mit bestimmten Eigenschaften verstanden werden. Solche Eigenschaften sind:
  • Die Jurisdiktion, innerhalb deren Hoheitsbereich die Norm verbindlich ist und Rechtswirkungen entfaltet.
  • Die normsetzende Autorität (der Gesetzgeber), die die Norm erlassen hat. Damit wird auch die Rangordnung einer Norm innerhalb einer Rechtsordnung bestimmt. Beispielsweise stehen Verfassungsgesetze, die im Verfassungsgesetzgebungsverfahren erlassen wurden, im Stufenbau der Rechtsordnung über den einfachen Gesetzen.
  • Die Repräsentation von zeitlichen Eigenschaften von Normen. Zu diesen gehören:
  • Der Zeitpunkt, an dem die Norm erlassen wurde und deren Inkrafttreten.
  • Der Zeitraum, in dem Sachverhalte vom Tatbestand der Norm erfasst werden (Bedingungsbereich) und der Zeitraum, in dem das vollziehende Organ die Rechtsfolgen verhängen darf (Rechtsfolgenbereich). Diese beiden Zeiträume können auseinanderfallen.
[36]
Anfechtbarkeit: Selbst wenn der Tatbestand einer Rechtsnorm – der Bedingungsteil – erfüllt ist, bedeutet das nicht, dass auch die Rechtsfolge zwingend auf einen Sachverhalt anwendbar ist. Bei der – in der KI-Literatur sogenannten «Anfechtbarkeit» von Rechtsnormen – geht es im Wesentlichen um folgende Probleme:
  • Rechtsnormen können miteinander in Konflikt stehen, wenn sie auf denselben Sachverhalt anwendbar aber widersprüchlich sind. Derartige Konflikte können entstehen, wenn eine Norm spezieller ist, eine höhere Rangordnung hat oder später beschlossen wurde. Solche scheinbaren Widersprüche werden durch Anwendung der lex specialis, lex superior und lex posterior Regeln behoben.
  • Andererseits können Normen auch so formuliert sein, dass diese explizite Ausnahmen für andere Rechtsvorschriften enthalten. Sofern eine Ausnahmebestimmung auf einen Sachverhalt zutrifft, sind die Rechtsfolgen der betroffenen Normen nicht mehr anwendbar.
[37]
Gültigkeit von Normen: Normen können ungültig sein oder insbesondere – zum Beispiel durch Novellen oder höchstgerichtliche Urteile – ungültig werden. Nun können in der Regel Rechtsvorschriften nicht einfach aus einem WBS entfernt werden, da unter Umständen ältere Fälle noch nach einer früheren Rechtslage – sozusagen «rückwirkend» – beurteilt werden müssen.
[38]
Vom theoretischen Standpunkt sind hier zwei Fälle zu unterscheiden:
  • Die Nichtigerklärung von Normen wird hier als eine Art von Aufhebung verstanden, die ex tunc wirkt, als sei die Norm nie Bestandteil der Rechtsordnung gewesen.
  • Die Aufhebung einer Norm wirkt hingegen ex nunc. Damit bleibt die aufgehobene Norm auf Fälle weiterhin anwendbar, die vor der Aufhebung der Norm eingetreten sind.
[39]
Unterstützende Faktoren: Im Recht ist es nicht immer möglich präzise Regeln zu formulieren, wann ein Tatbestandselement vom Sachverhalt erfüllt wird. Man denke in diesem Zusammenhang vor allem an vage Gesetzesbegriffe. Es wäre nützlich, wenn eine Sprache die Möglichkeit bietet, auch «unscharfe» Regeln, wie beispielsweise sogenannte «Faktoren» zu formulieren. Ein Faktor kann dabei als ein «Argument» für oder gegen eine bestimmte Rechtsansicht verstanden werden. Durch Aggregation von Faktoren lässt sich so insbesondere feststellen, ob ein vager Gesetzesbegriff des Tatbestands erfüllt ist oder nicht.
[40]
Normative Effekte: Wenn eine Norm auf einen Sachverhalt anwendbar ist, folgen aus diesem Umstand diverse «normative Effekte» (Rechtsfolgen). Zu diesen gehören Verpflichtungen, Erlaubnisse und Verbote. Darüber hinaus gibt es aber auch «ausdrucksstärkere» Rechtsfolgen wie beispielsweise im Fall von Beweislastregeln, die an einen Fakt eine bestimmte Vermutung knüpfen oder Definitionen, die die Bedeutung eines Begriffs spezifizieren.
[41]

Dauer von normativen Effekten: Hinsichtlich der Dauer von Rechtsfolgen kann folgende Unterscheidung getroffen werden:

  • Wiederkehrende Rechtsfolgen werden solange angewendet, bis sie durch ein späteres Ereignis beendet werden. In diese Kategorie fallen beispielsweise wiederkehrende Schadenersatzzahlungen aufgrund entgangenen Verdienstes2.
  • Die meisten Rechtsfolgen sind hingegen nur solange anwendbar, als der Tatbestand einer Norm erfüllt ist. Beispielsweise gilt die Regel «Rauchverbot gilt in Räumen für Unterrichts- und Fortbildungszwecke» nur solange man sich in derartigen Räumlichkeiten aufhält.
[42]
Werte: Üblicherweise werden durch Normen auch bestimmte – moralische oder soziale – Werte transportiert. Derartige Wertungen können insbesondere bei der Auflösung von Normkonflikten herangezogen werden. Aus diesem Grund ist es hilfreich, wenn eine Sprache auch die Modellierung von Werten und deren Rangordnung ermöglicht.
[43]
Formale Norm-Semantik: Sprachen zur Modellierung von Normen sollten eine präzise formale Semantik aufweisen. Eine solche erlaubt die korrekte automatisierte Ableitung von Rechtsfolgen aus einer Norm.

4.

Zusätzliche Anforderungen ^

[44]
Für die Vollziehung von Normen ist es oftmals notwendig mathematische Berechnungen – insbesondere die Summierung von Geldbeträgen – durchzuführen. Die Notwendigkeit von Berechnungen kann dabei sowohl aus dem Tatbestand als auch der Rechtsfolge einer Norm folgen.
[45]

Beispielsweise ist für die Feststellung der Höhe einer Beschädigtenrente3 nach dem Heeresversorgungsgesetz zunächst deren Bemessungsgrundlage zu berechnen. Die Höhe der Bemessungsgrundlage richtet sich grundsätzlich nach dem durch einen rechtskräftigen Steuerbescheid festgestellten Einkommen. Zu diesem Einkommen sind jedoch insbesondere die Werbungskosten nach dem Einkommenssteuergesetz zu addieren4.

[46]

Die auf diese Art berechnete Bemessungsgrundlage ist sodann mathematisch auf Beträge von vollen zehn Cent zu runden5.

[47]

Zur Beschädigtenrente selbst sind unter Umständen noch weitere Zulagen – wie beispielsweise ein Familienzuschlag für jeden Angehörigen eines Schwerbeschädigten gemäß § 26 HVG – hinzuzurechnen.

[48]
Es ließen sich nur unschwer weitere Beispiele für derartige Berechnungen finden. Man denke insbesondere an das Einkommenssteuergesetz, dessen zentrales Anliegen die Feststellung der Steuerschuld bzw. -gutschrift des Steuerpflichtigen ist.
[49]

Generell kann gesagt werden, dass Mengen und mathematische Berechnungen in vielen, wenn nicht allen, Rechtstexten eine Rolle spielen (Hoekstra, Breuker, Di Bello, & Boer, 2009, S. 44 f.).

[50]
Eine Sprache zur Modellierung von Rechtsnormen muss demnach die Möglichkeit bieten, mathematische Berechnungen und Rundungsregeln zu spezifizieren.
[51]

Obwohl diese Anforderungen keinesfalls die Ausnahme sondern die Regel sind, bieten viele Sprachen zur Wissensmodellierung nicht die Möglichkeit mathematische Formeln abzubilden. Dies liegt in der Tatsache begründet, dass viele dieser Sprachen – wie beispielsweise die Web Ontology Language (OWL) – auf einer Form der Logik beruhen. OWL – und auch deren aktuelle Version OWL 2 – beruht auf Beschreibungslogik, sodass Berechnungen – zumindest ohne Erweiterungen – nicht durchgeführt werden können (Iannone & Rector, 2008).

[52]
Diese Limitierung wird an sämtliche Ansätze weitergegeben, die auf OWL beruhen. Zu solchen Ansätzen gehört beispielsweise das Legal Knowledge Interchange Format (LKIF), das unter anderem aus einer in OWL modellierten Ontologie besteht.
[53]
Abschließend sollen noch weitere Anforderungen diskutiert werden, die vor allem aus der Praxis der Verwaltungsautomatisierung resultieren.
[54]
Automatisierte Verarbeitbarkeit: Es liegt auf der Hand, dass die Sprache – genauer das erstellte Modell – von einer Maschine verarbeitet werden muss. Damit ist jedoch nicht bloß die Lesbarkeit gemeint, sondern es muss für die jeweilige Sprache auch eine zugehörige Inferenzmaschine existieren, die sodann mithilfe des modellierten Wissens in der Lage ist, rechtliche Probleme zu lösen.
[55]
Korrekte Abstraktionsstufe: Die Syntax der jeweiligen Sprache muss das korrekte Abstraktionsniveau aufweisen. Gemeint ist damit, dass rechtliches Wissen – die Normen – möglichst direkt damit repräsentiert werden können. Ein Jurist oder Sachbearbeiter soll sich nicht mit technischen Details der Syntax einer Programmiersprache – wie dies bei geläufigen Ansätzen der Fall ist – bemühen müssen.
[56]
Werkzeugunterstützung: Für die Erstellung des Modells ist es sehr hilfreich, wenn dafür ein Werkzeug zur Verfügung steht, mit dessen Hilfe sich die Modellierung grafisch durchführen lässt.

5.

Schlussfolgerungen ^

[57]
Der Beitrag thematisierte die Besonderheiten des Rechts und gab einen Überblick über die daraus resultierenden Anforderungen an Sprachen zur Modellierung von Rechtsnormen. Diese Darstellung umfasste die grundlegenden aus der Rechtstheorie abgeleiteten Anforderungen. Überdies wurden anhand exemplarischer Verwaltungsnormen und der Praxis der Verwaltungsautomatisierung weitere Erfordernisse ermittelt.
[58]
Gemäß ihrem Ursprung lassen sich demnach die Anforderungen in rechtliche, technische und praktische unterteilen. Die Grenzen sind jedoch nicht immer eindeutig.
[59]
Eine interessante Frage ist, ob sämtliche Anforderungen von einer formalen Sprache erfüllt oder ob nicht manche auf Ebene der Entscheidungsfindung – von der Inferenzmaschine – besser abgedeckt werden können.
[60]
Überdies sei angemerkt, dass die erhobenen Anforderungen erst einer Gewichtung unterzogen werden müssen. Eine solche Gewichtung ist von der konkreten Rechtsmaterie und den angestrebten Zielen des jeweiligen Projekts abhängig.
[61]
Mithilfe der gewichteten Anforderungen können sodann neue Technologien, wie insbesondere die LegalRuleML oder das Carneades Argumentation System, hinsichtlich ihrer Eignung evaluiert werden.
[62]
Sofern die neuen Technologien in der Lage sind (zumindest) denselben Funktionsumfang bisheriger Softwaresysteme abzudecken, gilt es, diese auf ihre Effizienz hin zu prüfen. Damit ist insbesondere eine Reduktion des Implementierungs- und Wartungsaufwands gegenüber gängigen Lösungen gemeint. Für diesen Vergleich ist noch offen welche Bewertungsmethoden herangezogen werden können.
[63]
Es wird sich zeigen, ob die Schaffung einer theoretischen Grundlage für die Implementierung von WBS im öffentlichen Bereich zu einer Verbesserung der Software beitragen kann. Spannend ist die Frage, ob durch neue Technologien tatsächlich eine Effizienzsteigerung erreicht werden kann. Neue Technologien, die im Bereich der KI und Recht entwickelt wurden, scheinen sehr mächtig zu sein, weisen aber gleichsam eine relativ hohe Komplexität auf, die deren praktische Verwendung erschwert.

6.

Literatur ^

Athan, T., Boley, H., Governatori, G., Palmirani, M., Paschke, A., & Wyner, A. (2013). OASIS LegalRuleML. In Proceedings of the Fourteenth International Conference on Artificial Intelligence and Law – ICAIL 13 (S. 3). New York, USA: ACM Press. doi:10.1145/2514601.2514603.

Boer, A. (2009). Legal theory, sources of law and the semantic web. University of Amsterdam. Abgerufen von http://dare.uva.nl/record/305854.

Gordon, T. F., Governatori, G., & Rotolo, A. (2009). Rules and Norms: Requirements for Rule Interchange Languages in the Legal Domain. In G. Governatori, J. Hall, & A. Paschke (Hrsg.), Rule Interchange and Applications (S. 282–296). New York: Springer.

Hoekstra, R., Breuker, J., Di Bello, M., & Boer, A. (2009). LKIF Core: Principled Ontology Development for the Legal Domain. In J. Breuker, P. Casanovas, M. C. A. Klein, & E. Francesconi (Hrsg.), Law, Ontologies and the Semantic Web (S. 21–52). Amsterdam: IOS Press. doi:10.3233/978-1-58603-942-4-21.

Iannone, L., & Rector, A. (2008). Calculations in OWL. In C. Dolbear, A. Ruttenberg, & U. Sattler (Hrsg.), Proceedings of the Fifth OWLED Workshop on OWL: Experiences and Directions (OWLED 2008). Karlsruhe, Germany. Abgerufen von http://ceur-ws.org/Vol-432/owled2008eu_submission_17.pdf.

Kelsen, H. (1979). Allgemeine Theorie der Normen. Wien: Manz.

Kelsen, H. (1992). Reine Rechtslehre (2. Aufl.). Wien: Verlag Österreich.

Scharf, J. (2012). Die Formalisierung des Kriegsopferversorgungsgesetzes. In E. Schweighofer, F. Kummer, & W. Hötzendorfer (Hrsg.), Tagungsband des 15. Internationalen Rechtsinformatik Symposions (IRIS 2012) (S. 99–110). Wien, Österreich: OCG.

Van de Ven, S., Hoekstra, R., Breuker, J., Wortel, L., & El-Ali, A. (2008). Judging Amy: Automated Legal Assessment using OWL 2. In C. Dolbear, A. Ruttenberg, & U. Sattler (Hrsg.), Proceedings of the Fifth OWLED Workshop on OWL: Experiences and Directions (OWLED 2008). Karlsruhe, Germany. Abgerufen von http://ceur-ws.org/Vol-432/owled2008eu_submission_28.pdf.


 

Johannes Scharf

Dissertant, Universität Wien, Arbeitsgruppe Rechtsinformatik
Wiener Straße 73/1/6, 3002 Purkersdorf, AT
a0506717@unet.univie.ac.at

 


  1. 1 Vgl. § 6 ABGB.
  2. 2 Siehe beispielsweise § 1325 ABGB.
  3. 3 §§ 21 ff. HVG.
  4. 4 Vgl. § 24 Abs. 6 HVG.
  5. 5 § 24 Abs. 10 HVG.