Jusletter IT

Das europäische Mahnverfahren und seine elektronische Umsetzung

Oder wie der österreichische Zahlungsbefehl nicht auf dem Schafott landete...

  • Authors: Svenja Schröder-Lomb / Christian Kunz
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: E-Justice
  • Citation: Svenja Schröder-Lomb / Christian Kunz, Das europäische Mahnverfahren und seine elektronische Umsetzung, in: Jusletter IT 19 November 2015
Der Beitrag befasst sich mit der Einführung des Europäischen Mahnverfahrens in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Dezember 2008. Dabei beleuchtet er insbesondere die gemeinsame Projektarbeit zwischen dem österreichischen Bundesministerium für Justiz und dem Amtsgericht Wedding in Berlin, in deren Rahmen eine europafähige IT-Anwendung zur Bearbeitung der europäischen Mahnverfahren entwickelt wurde.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Die Grundlagen
  • 2. Das Projekt/Die Zusammenarbeit
  • 3. Von Version 1.0 bis zur Version 3.1
  • 3.1. Version 1.0
  • 3.2. Version 2.0
  • 3.3. Version 3.0/3.1 und das Projekt e-Codex
  • 4. European eGovernment Award 2009
  • 5. Die IT-Anwendung im Betrieb in Österreich und Deutschland
  • 6. Ausblick
  • 7. Ergebnis

1.

Die Grundlagen ^

[1]
Das Europäische Mahnverfahren beruht auf der Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 vom 12. Dezember 2006 des Europäischen Parlaments und des Rates. Ziel der Regelung ist es, im Zivilprozess grenzüberschreitende Verfahren für unbestrittene Geldforderungen zu vereinfachen und zu beschleunigen.
[2]
Mit der Verordnung hat der europäische Gesetzgeber zugleich Neuland in der Vereinheitlichung des Verfahrensrechts beschritten: Denn damit wurde erstmals ein einheitliches Erkenntnisverfahren für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union1 geschaffen. Während bisher auf europäischer Ebene nur geregelt war2, wie auf einfache und schnelle Weise ein Titel innerhalb der Europäischen Union vollstreckt werden kann, geht es jetzt um die vorgelagerte Frage, wie ein solcher Titel überhaupt geschaffen werden kann, einfach, zügig und kostengünstig. Damit ist das Europäische Mahnverfahren Vorreiter für das weitere Zusammenwachsen Europas, für das Entstehen eines einheitlichen europäischen Justizraumes mit gleichen Wettbewerbsbedingungen. Daneben entwickelte sich dieser Vorstoß des europäischen Gesetzgebers – wie sich bald herausstellen sollte – auch zum Grundstein einer engen und äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit der beiden Mitgliedstaaten Österreich und Deutschland. Und zugleich bildet dieses Verfahren und seine praktische Umsetzung auch ein lebendiges Beispiel für die zupackende, pragmatische und europaorientierte Handlungsweise des Leiters der Abteilung für Innovation und Rechtsinformatik des österreichischen Bundesministeriums für Justiz: Dr. Martin Schneider. Aber der Reihe nach:
[3]
Schon in dem europäischen Gesetzgebungsverfahren zur Einführung des europäischen Mahnverfahrens waren die Republik Österreich und die Bundesrepublik Deutschland die treibende Kraft. In beiden Ländern hat das gerichtliche Mahnverfahren bereits eine lange Tradition. Beide Mitgliedstaaten setzten sich gegenüber den europäischen Gesetzgebungsgremien auch besonders intensiv für die Aufnahme des Art. 8 S. 2 in die Verordnung ein3, der es erlaubt, das Verfahren auch automatisiert zu betreiben. Hintergrund hierfür war die folgende Überlegung: Für ein schnelles und effizientes Verfahren reichen einfache Verfahrensvorschriften allein nicht aus. Hinzukommen muss ein unkomplizierter Zugang für die Bürger zu dem Verfahren und eine ebenfalls schnelle und effiziente Abwicklung in den Gerichten. Dass sich gerade Österreich und Deutschland hierfür besonders stark machten, war nur konsequent – werden doch in beiden Mitgliedstaaten die nationalen Mahnverfahren entweder automationsunterstützt oder auch vollautomatisiert geführt: In Österreich, dessen Mahnverfahren dem Zivilprozess grundsätzlich zwingend vorgeschaltet ist und das in seinem einstufigen Aufbau4 dem Europäischen Mahnverfahren entspricht, wurden 2012 440.000 Verfahren5 mit Hilfe der automationsunterstützten Datenverarbeitung bearbeitet. Deutschland begann im Jahr 1982 stufenweise in allen Bundesländern die maschinelle Bearbeitung der gerichtlichen Mahnverfahren einzuführen. Zuletzt wurden auf diese Weise 5,8 Millionen Verfahren6 abgewickelt. Davon entfielen 520.000 Verfahren auf das Zentrale Mahngericht Berlin-Brandenburg, das im Amtsgericht Wedding von Berlin angesiedelt ist7.
[4]
Bei dieser Vorgeschichte lag es nahe, dass beide Mitgliedstaaten auch im Rahmen der Umsetzung der europäischen Mahnverfahren auf nationaler Ebene eine führende Rolle übernehmen würden. So kam es denn auch:

2.

Das Projekt/Die Zusammenarbeit ^

[5]
In Deutschland zeichnete sich schnell ab, dass der nationale Gesetzgeber im Interesse der Bürgerfreundlichkeit und Rechtssicherheit ein zentrales Gericht für die Bearbeitung der europäischen Mahnverfahren in ausschließlicher Zuständigkeit bestimmen würde. Die Wahl fiel auf Berlin und hier auf das Amtsgericht Wedding8. Dieses Gericht bot sich gleich in mehrfacher Hinsicht an: Aufgrund seiner Lage in der Bundeshauptstadt, wegen seiner hohen Fachkompetenz als Zentrales Mahngericht für die Bundesländer Berlin und Brandenburg sowie als bundesweit zuständiges Gericht für (nationale) Mahnverfahren mit Auslandbezug9.
[6]
So kam es, dass noch im Jahre 2007 eine kleine Delegation des Amtsgerichts Wedding nach Wien in das Bundesministerium für Justiz reiste, um in Erfahrung zu bringen, ob und in welchem Umfang man die österreichischen Erfahrungen mit dem einstufigen nationalen Mahnverfahren und mit der dafür entwickelten IT-Anwendung nutzen könne. War es der ursprüngliche Plan, lediglich in einen ersten Austausch mit Österreich einzutreten, so kehrte die Gruppe gleich mit einer Verabredung über ein gemeinsames Projekt nach Berlin zurück. Denn schnell war im Gespräch mit dem seinerzeitigen Sektionschef Dr. Wolfgang Fellner und dem Leiter der Abteilung für Innovation und Rechtsinformatik Dr. Martin Schneider der Gedanke geboren, auf der Basis der bereits vorhandenen österreichischen IT-Anwendung eine neue Anwendung für das europäische Mahnverfahren zu entwickeln, und zwar durch beide Mitgliedstaaten gemeinsam. Dabei legten alle Beteiligten von vornherein ein besonderes Augenmerk auf die europäische Dimension des Projektes: Die zu entwickelnde Anwendung sollte über die bloße nationale Umsetzung der Verordnung hinausgehen. Sie sollte EU-weit, also in allen Mitgliedstaaten, einsetzbar sein und so Parallel- und Doppelentwicklungen auf nationaler Ebene entbehrlich machen. Zugleich sollte sie auch Mitgliedstaaten mit geringem Antragsaufkommen eine wirtschaftliche Möglichkeit zur Automatisierung bieten. Das Projekt war daher von Beginn an offen gestaltet: Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben jederzeit die Möglichkeit, sich dem Projekt anzuschließen. Sie können dabei die jeweils aktuelle Version der IT-Anwendung kostenfrei übernehmen und brauchen sich lediglich an den Kosten der Weiterentwicklung zu beteiligen Von dieser Option hat Frankreich bereits im Jahr 2009 Gebrauch gemacht10.
[7]
Die Verabredung zwischen der deutschen und der österreichischen Seite, deren Grundlagen bei dem Besuch im Jahr 2007 gelegt wurden, sah hinsichtlich der technischen Eigenschaften der zu entwickelnden IT-Anwendung folgende Eckpunkte vor:
  • Abdeckung des gesamten Europäischen Mahnverfahrens
  • Übernahme bewährter Komponenten aus der österreichischen Justiz
  • Definierte technische Anbindungsmöglichkeiten (Einsprungspunkte) für nationale Anpassung und Integration («Plugin-Konzept»)
  • Konsequenter modularer Aufbau aller Komponenten (SOA)
  • Standardisierte Schnittstellen und Protokolle
  • Sprachmodul zur Umstellung auf die jeweilige Amtssprache des Gerichts
  • Uneingeschränkte Integrationsfähigkeit in größere Dienste und Anwendungen durch definierte Schnittstellen
  • Maximale Portabilität durch Entwicklung und automatische Tests auf verschiedenen Konfigurationen
  • Lose Ankoppelung von Anwendungsfällen («Use Cases»)
  • Server wird in Berlin betrieben
[8]
Zahlreiche zusätzliche Unterpunkte stellen dabei die universelle Verwendbarkeit der IT-Anwendung («Europafähigkeit») in allen EU-Mitgliedstaaten sicher, und zwar sowohl für den aktuellen Zustand der Anwendung als auch bei der Weiterentwicklung. Überhaupt wurde während der gesamten Entwicklung stets darauf geachtet, dass die IT-Anwendung auch nach Weiterentwicklung zu jeder Zeit ohne Probleme durch andere Mitgliedstaaten übernommen werden kann.
[9]
Das betrifft etwa die Sprach- und Währungsmodule, die es ermöglichen, mit relativ geringem Aufwand die Anwendung auch in andere Sprach- und Währungsgebiete der Europäischen Union zu übernehmen. Länderspezifische Besonderheiten wie beispielsweise der Wunsch, im Anschluss an das jeweilige Verfahren sogleich noch automatisiert die Gerichtskosten einzuziehen, können als Ländermodule über standardisierte Schnittstellen angeschlossen werden. Und wie wichtig diese Universalität und Flexibilität in länderspezifischen Besonderheiten ist, konnten die beiden anfänglichen Projektpartner gleich selbst anhand des Sprachmoduls erfahren: Obwohl die Amtssprache in Österreich und Deutschland nominell identisch ist, zeigte sich schnell, dass der tatsächliche Sprachgebrauch im gerichtlichen Bereich in Details so stark voneinander abweicht, dass für jede Seite ein länderspezifisches Sprachmodul zum Einsatz kommt. Bezeichnet man beispielsweise die zwangsweise Umsetzung eines rechtskräftigen Zahlungsbefehls in Deutschland als Vollstreckung, so heißt dies in Österreich Exekution, was wiederum auf deutscher Seite eher Assoziationen an die französische Revolution als an zwangsvollstreckungsrechtliche Fragestellungen weckt.
[10]
Aber nicht nur technische Fragen, sondern auch die Projektorganisation wurde einvernehmlich geregelt: In Österreich wird das Projekt zentral durch das Bundesministerium für Justiz betreut, welches sich für technische Aufgaben zusätzlich der Bundesrechenzentrum GmbH, dem zentralen IT-Dienstleister der österreichischen Bundesregierung bedient. In Deutschland ist die Organisation hingegen Ländersache, so dass das deutsche Bundesministerium der Justiz an den praktischen Fragen nicht beteiligt ist. Zuständig sind vielmehr die sechzehn Justizressorts der Länder, die wiederum die Federführung auf das Justizministerium des Landes Berlin, die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz, übertragen haben. Tatsächlich umgesetzt wird das Projekt im wesentlichen vom Amtgericht Wedding, das auch den gemeinsamen Server für das Verfahren betreibt. Auf nationaler und europäischer Ebene wird das Projekt auch durch das deutsche Bundesministerium der Justiz begleitet und unterstützt.
[11]
Als technischer Entwicklungspartner ist das Unternehmen IBM für die technische Entwicklung zuständig, und zwar mit seiner deutschen und seiner österreichischen Landesgesellschaft. Die IT-Anwendung der österreichischen Justiz, auf der das Projekt aufbaut, ist eine Entwicklung dieses Unternehmens. IBM ist daher mit allen technischen Einzelheiten vertraut und darüber hinaus im Besitz der gewerblichen Schutzrechte für die Anwendung.
[12]
Hinsichtlich der Aufteilung der Kosten gilt folgende Verabredung: Die Kosten für externe Dienstleister werden zwischen den Projektteilnehmern nach EU-Ratsstimmen aufgeteilt11. Das betrifft in erster Linie technische Entwicklungsaufträge. Die eigenen Kosten für Personal, Reisen und Besprechungen trägt hingegen jeder Projektpartner selbst.
[13]
Für die Koordination und Überwachung des Projekts ist ein Lenkungsausschuss eingerichtet, der in regelmäßigen Abständen in Berlin und Wien tagt. Teilnehmer sind die verantwortlichen Mitarbeiter aus der deutschen und österreichischen Justiz sowie aus der deutschen und österreichischen Landesgesellschaft des technischen Dienstleisters IBM.

3.

Von Version 1.0 bis zur Version 3.1 ^

3.1.

Version 1.0 ^

[14]
Auf dieser Basis wurde das Projekt umgehend noch im Jahr 2008 aufgelegt und mit den Arbeiten begonnen. Die Zusammenarbeit war von Anfang an von großer Kollegialität sowie einer zugewandten und intensiven Kommunikation zwischen allen Projektteilnehmern geprägt. Faktisch kristallisierte sich schnell folgende Arbeitsteilung heraus:
[15]
Österreich stellt sein Fachwissen um die Komponenten aus der nationalen Anwendung zur Verfügung und unterstützt das Projekt allgemein beratend. Deutschland ist Konsortialführer, führt die Analyse der Geschäftsprozesse und der Rechtslage durch und steht den IT-Entwicklern als fachlicher Ansprechpartner für Rechtsfragen zur Verfügung. Dafür sind im Amtsgericht Wedding zwei Rechtspflegerinnen eingesetzt. Es wurden österreichische und deutsche Justizteams und Adaptionsteams gebildet, die sich in regelmäßigen Abständen gemeinsam mit dem Entwicklungsteam von IBM trafen, zumeist im Amtsgericht Wedding, wo die Entwicklungsarbeit überwiegend stattfand.
[16]

Alle Beteiligten arbeiteten mit großem Engagement. Bestimmend für die bemerkenswerte Motivation war das Bewusstsein aller, mit dem Europäischen Mahnverfahren auch einen Beitrag für das Zusammenwachsen Europas zu leisten. Diese besondere europäische Dimension des Projekts, das sich an alle Mitgliedstaaten der EU wendet und für alle offen steht, wurde denn von der Europäischen Kommission auch bald12 gewürdigt: So erhielt bereits im Jahr 2008 die Entwicklung der Grundversion im Rahmen des EU-Zivilförderprogramms 2007 die Höchstfördersumme von 200.000€.

[17]
Dieser Förderung sowie der hohen Tatkraft und dem besonderen Pragmatismus aller Beteiligten ist es zu verdanken, dass pünktlich zum Inkrafttreten des Europäischen Mahnverfahrens am 12. Dezember 2008 die Grundversion 1.0 der IT-Anwendung vorlag. Sie wurde an diesem Tag im Rahmen einer Feierstunde im Amtsgericht Wedding zahlreichen Interessierten aus den unterschiedlichsten europäischen Mitgliedstaaten sowie Angehörigen der Europäischen Kommission präsentiert. Diese Version beschränkte sich – naturgemäß wegen der knappen Zeit – auf die unbedingt notwendigen Funktionen wie «Fallmanagement», «Textbausteine», «Archivierung» und «Statistik».
[18]
Aber diese Grundversion 1.0 war nur der Startschuss für eine überaus zügige und kontinuierliche Fortentwicklung, an der auch die Europäische Kommission weiter teilhaben sollte.

3.2.

Version 2.0 ^

[19]
Mit der Version 1.0 ließ sich zwar das Europäische Mahnverfahren vollständig abwickeln, allerdings in wichtigen Bereichen ohne die mit einer elektronischen Bearbeitung verbundenen und eigentlich beabsichtigten Effizienzgewinne. Daher sollte die Anwendung in einem nächsten Entwicklungsschritt um eine elektronische Datenerfassung mit Anbindung an den elektronischen Rechtsverkehr sowie um eine Plausibilitätsprüfung der eingegebenen Daten und um eine Fristverwaltung zur Version 2.0 erweitert werden. Dabei lag der Schwerpunkt der Entwicklung auf der Anbindung an den elektronischen Rechtsverkehr.
[20]

Auch dieses Vorhaben wurde von der Europäischen Kommission gefördert, und zwar im Rahmen des EU-Zivilförderprogramm 2008 mit der Höchstfördersumme von 500.000€. Ebenso bewilligte die Europäische Kommission parallel hierzu – ebenfalls im Rahmen des EU-Zivilförderprogramm 2008 – eine Fördersumme von 288.000€ für das von Österreich geleitete Parallelprojekt – Grenzüberschreitender Elektronischer Rechtsverkehr13. In gegenseitiger Abstimmung beider Projekte konnte im Rahmen des Parallelprojekts ein praxisnahes Konzept für den elektronischen Rechtsverkehr auf EU-Ebene entwickelt werden.

[21]
Die Arbeiten für die Version 2.0 waren im Januar 2011 abgeschlossen, und mit dieser Version gelang tatsächlich der Einstieg in den elektronischen Rechtsverkehr. Anträge auf Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls werden nunmehr auch elektronisch entgegen genommen. In Deutschland können – nach vorheriger Registrierung – Antragsteller ihre Anträge über das in Deutschland für den gesamten Justizbereich eingerichtete Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) elektronisch übermitteln; die Daten werden dann automatisch zum Amtsgericht Wedding verschlüsselt weitergeleitet und können dort ohne manuelle Datenerfassung bearbeitet werden. Das gleiche gilt für Österreich und den dortigen elektronischen Rechtsverkehr (ERV). Hier wurde allerdings nur eine technische Selbstverständlichkeit auch auf das Europäische Mahnverfahren erstreckt. Denn dank der Energie und der Vorausschau des Leiters der Abteilung für Innovation und Rechtsinformatik, Dr. Martin Schneider, ist der elektronische Rechtsverkehr in Österreich schon weitgehend selbstverständlich. Folgerichtig sind die österreichischen Rechtsanwälte inzwischen sogar zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs im Europäischen Mahnverfahren verpflichtet14.
[22]
Mit der Schnittstelle für die elektronische Antragstellung konnte zugleich erreicht werden, dass das Verfahren an eJustice- oder eGovernment-Portale angeschlossen werden kann. Darüber hinaus wurden Vorkehrungen getroffen, dass Anträge, die online ausgefüllt werden, künftig auch parallel zum Papierausdruck einen Datensatz erzeugen, der die Bearbeitung im Gericht erleichtert.

3.3.

Version 3.0/3.1 und das Projekt e-Codex ^

[23]
Mit der Version 2.0 war zwar der Einstieg in den elektronischen Rechtsverkehr geschafft, allerdings bedurfte es für die vollständige Implementierung noch der Möglichkeit für entsprechende Rückübermittlungen an die Antragsteller auf elektronischem Wege. Die Voraussetzungen dafür wurden mit den Version 3.0 und 3.1 geschaffen in enger Zusammenarbeit mit dem e-Codex-Projekt. Gleichzeitig konnte in diesem Rahmen auch der mit der Version 2.0 vorbereitete Anschluss an das e-Justice Portal der Europäischen Union realisiert werden, so dass nunmehr auch dieser zusätzliche Weg besteht, Anträge im Europäischen Mahnverfahren zu stellen15.
[24]

Im Jahr 2012 war das europäische Mahnverfahren als Pilotprojekt des e-Codex-Projekts der EU ausgewählt worden. Ziel dieses von der Europäischen Union geförderten e-Justice Projektes «electronic Communication via Online Data Exchange (e-CODEX)» ist es, gemeinsame Standards für eine europaweite elektronische Kommunikation und einen automatischen Datenaustausch zwischen Justizbehörden, Angehörigen von Rechtsberufen, Unternehmen und Bürgern zu schaffen16. Dabei liegt die Grundidee des Projekts darin, als Verbindungsmöglichkeit (Connector) zum Transportweg eines anderen Mitgliedstaates zu fungieren, ohne Änderungen des nationalen elektronischen Transportweges vorzunehmen. Um den neu konzipierten grenzüberschreitenden elektronischen Rechtsverkehr zu erproben, standen neben dem europäischen Mahnverfahren zwar noch verschiedene andere Anwendungen in Rede. Aber auch hier trug der große Einsatz und das hohe Engagement aller an diesem Projekt Beteiligten Früchte: Da für die anderen Pilot-Kandidaten noch keine IT-Anwendung verfügbar war, kam letztlich nur das europäische Mahnverfahren und damit das deutsch-österreichische Projekt als Demonstrator für den neu konzipierten grenzüberschreitenden elektronischen Rechtsverkehr in Frage. Seit August 2013 kommt daher im Rahmen von e-Codex das europäische Mahnverfahren als Pilotanwendung zum Tragen.

 

4.

European eGovernment Award 2009 ^

[25]
Der große Einsatz und das echte Interesse an einer universellen europäischen Problemlösung hat die Europäische Kommission nicht allein durch die Bewilligung großzügiger finanzieller Beihilfen gewürdigt. Eine besondere Wertschätzung erfuhr das Projekt auf der e-Government Konferenz in Malmö im November 2009. Gemeinsam hatten sich zuvor Österreich und Deutschland in der innovativsten Kategorie «eGovernment supporting the Single market» beworben. Unter insgesamt 259 eingereichten IT-Anwendungen aus 31 Ländern wurde das Projekt nicht nur Finalist und Teilnehmer an der eGovernment Konferenz in Malmö, sondern schließlich sogar mit dem ersten Preis des European eGovernment Awards Winner-Label ausgezeichnet.

5.

Die IT-Anwendung im Betrieb in Österreich und Deutschland ^

[26]
Wie aber bewährt sich die IT-Anwendung im praktischen Gerichtsalltag? Die IT-Anwendung ist seit dem 12. Dezember 2008 in Betrieb und hat seitdem ihre außerordentliche Stabilität unter Beweis gestellt. Sie läuft seitdem ohne nennenswerte Probleme und hat mittlerweile schon die Abwicklung von über 25.000 Verfahren unterstützt.
[27]
Dabei verteilen sich die Verfahren auf die beiden Projektpartner wie folgt:
Jahr Antragseingänge
2009 1.676
2010 2.177
2011 2.729
2012 4.497
201317 1.823

Europäisches Mahnverfahren in Österreich

Jahr Antragseingänge
2009 2.256
2010 3.079
2011 2.972
2012 4.130
2013ERR 2.280

 

Europäisches Mahnverfahren in Deutschland

[28]
Die Proportionen der Zahlen überraschen auf den ersten Blick: Denn die Werte unterscheiden sich nicht in dem Umfang, den man angesichts der unterschiedlichen Größe beider Mitgliedstaaten vermutet hätte. Dass die Nutzung des - fakultativen - europäischen Mahnverfahrens in Österreich in einem stärkeren Maße als Deutschland erfolgt, dürfte vor allem in der IT-Strategie des österreichischen Bundesministeriums für Justiz begründet liegen, die maßgeblich von der Abteilung für Innovation und Rechtsinformatik und deren Leiter Dr. Martin Schneider entwickelt wird. Während Deutschland sich erst langsam für den elektronischen Rechtsverkehr öffnet, hat Österreich bereits im Jahr 2007 die Nutzungsverpflichtung für Rechtsanwälte eingeführt18. Zustellungen erfolgen in Österreich seit 1999 auf elektronischem Wege, sofern der Einbringer Teilnehmer des elektronischen Rechtsverkehrs ist. Die Berührungsängste gegenüber neuen Verfahren und Verfahrensanwendungen ist aufgrund dieser Historie auf österreichischer Seite offensichtlich deutlich geringer ausgeprägt. Die verpflichtende Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs umfasst auch das Europäische Mahnverfahren; mit 1. Juli 2011 wurde die strukturierte Eingabe für Rechtsanwälte angeordnet19, während in Deutschland der elektronische Rechtsverkehr in Bezug auf das EU-Mahnverfahren bislang lediglich registrierten Kunden zur Verfügung steht. Dies spiegelt sich auch in der ERV-Quote wieder:
2011 79
2012 831
201320 948

ERV-Eingänge im Europäischen Mahnverfahren in Österreich

2011 0
2012 1.110
201321 27

ERV-Eingänge im Europäischen Mahnverfahren in Deutschland

6.

Ausblick ^

[29]
Mit der weiteren Entwicklung der IT-Anwendung können mittlerweile auch Serien von elektronischen Anträgen automationsunterstützt bearbeitet werden. Damit wird das Verfahren auch für sogenannte Großgläubiger interessanter. So gehen die im Jahre 2012 in Deutschland registrierten 1.110 Eingänge im elektronischen Rechtsverkehr auf ein einziges Unternehmen zurück. Die Anträge erreichten innerhalb eines Zeitraumes von nur vier Monaten das Amtsgericht Wedding und konnten dort mit relativ geringem Personalmehraufwand zügig abgearbeitet werden.
[30]
Weitere Impulse für das Verfahren sind aufgrund der Teilnahme des Projektes als Pilot im Rahmen des e-Codex-Projekts zu erwarten, an dem 24 Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind. Schließlich wird auch die nach dem Ablauf von 5 Jahren anstehende Überprüfung des Europäischen Mahnverfahrens gemäß Art. 32 der Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 nochmals die Vorzüge der im Projekt erarbeiteten IT-Anwendung und deren «Europafähigkeit» allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ins Bewusstsein rufen.

7.

Ergebnis ^

[31]
Die elektronische Umsetzung des Europäischen Mahnverfahrens ist bisher eine Erfolgsgeschichte, für die an dem Projekt beteiligten Länder, vor allem aber für die Justizbehörden aller Mitgliedstaaten der EU. Ein einheitliches Verfahren kann sich nur durchsetzen, wenn es sich auch einheitlich abwickeln lässt, und zwar zügig, effektiv und bürgerfreundlich. In das Projekt sind viele Ideen und Initiativen eingeflossen. Entscheidender Wegbereiter aber war der Leiter der Abteilung für Innovation und Rechtsinformatik des österreichischen Bundesministeriums für Justiz, Dr. Martin Schneider. Er hat mit Weitblick die europäische Dimension der ursprünglich nur als technische Unterstützung gedachten Zusammenarbeit zwischen Österreich und Deutschland erkannt, er hat darauf gedrungen, das Projekt für alle Mitgliedstaaten zu öffnen und er hat mit seiner zielorientierten, zugleich aber auch menschlichen, persönlichen Art dafür gesorgt, dass alle Beteiligten unabhängig von ihrer Funktion jederzeit bereit waren, das Projekt zu ihrer eigenen Sache zum machen. Seine Impulse haben es über alle Entwicklungsphasen getragen.

 

Svenja Schröder-Lomb, Präsidentin des Amtsgerichts Wedding von Berlin, Europäisches Mahngericht Deutschland, Berlin, Brunnenplatz 1, 13357 Berlin, Deutschland, svenja.schroeder-lomb@ag-we.berlin.de.

 

Christian Kunz, Präsident des Amtsgerichts Tempelhof/Kreuzberg von Berlin, Möckernstraße 130, 10963 Berlin, Deutschland, christian.kunz@ag-tk.berlin.de.

  1. 1 Mit Ausnahme Dänemarks.
  2. 2 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 805/2004 vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen.
  3. 3 «Diese Prüfung kann im Rahmen eines automatisierten Verfahrens erfolgen.»
  4. 4 Vgl. §§ 244 ff. Österreichische Zivilprozessordnung (ZPO-AT).
  5. 5 Im Jahr 2012.
  6. 6 Im Jahr 2012.
  7. 7 Die Einführung der maschinellen Bearbeitung erfolgte im Land Berlin im Jahr 1987.
  8. 8 Vgl. § 1087 Deutsche Zivilprozessordnung (ZPO-D). Österreich hat erst zum 1. Juli 2009 die Verfahrensbearbeitung bei einem Gericht konzentriert und die ausschließliche Zuständigkeit des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien begründet, vgl. § 252 Abs. 2 ZPO-AT.
  9. 9 In denen der Antragsteller keinen allgemeinen Gerichtsstand im Inland hat, vgl. § 689 Abs. 2 S. 2 ZPO-D.
  10. 10 Aufgrund von Abstimmungsschwierigkeiten innerhalb von Frankreich ist es jedoch noch nicht zu einer Umsetzung gekommen.
  11. 11 Zur Zeit DE: 29, AT: 10.
  12. 12 Weitere Würdigungen sollten folgen, vgl. u. 3.2. und 4.
  13. 13 «Concept for Crossborder Electronic filing and Delivery for the European Payment Order». Weitere Projektpartner: Antragsteller BMJ Österreich, Partner BRZ Österreich, Land Berlin, JM NRW, JM Niederlande, JM Rumänien und Kataster Niederlande.
  14. 14 § 89c Abs. 5 Österreichisches Gerichtsorganisationsgesetz (GOG-AT).
  15. 15 Vgl. www.e-justice.europa.eu.
  16. 16 Vgl. www.e-codex.eu.
  17. 17 Stand Oktober 2013.
  18. 18 Vgl. § 89c Abs. 5 GOG-AT. Seit 2001 sind die Rechtsanwälte verpflichtet, über die Ausstattung (Hardware und Software) zum ERV zu verfügen.
  19. 19 Vgl. § 5 Abs. 1 Verordnung der Bundesministerin für Justiz über den elektronischen Rechtsverkehr (ERV 2006).
  20. 20 Stand Oktober 2013.
  21. 21 Stand Oktober 2013.