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Der Elektronische Rechtsverkehr – Public‐Private Partnership in der IT

  • Author: Dieter Zoubek
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: E-Justice
  • Citation: Dieter Zoubek, Der Elektronische Rechtsverkehr – Public‐Private Partnership in der IT, in: Jusletter IT 19 November 2015
Der österreichische Elektronische Rechtsverkehr ist nicht bloß ein Rationalisierungsinstrument für die Justiz, sondern gleichzeitig auch ein höchst erfolgreiches Beispiel für Public-Private Partnership in Österreich.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Elektronischer Rechtsverkehr: Begriffsbestimmung
  • 1.1. Geschichte
  • 1.2. Sicht der Justiz
  • 1.3. Organisatorische Sicht
  • 1.4. Systemgefüge auf Seiten der Justiz
  • 1.4.1. EUM
  • 1.4.2. GT
  • 1.4.3. FB
  • 1.4.4. VJ
  • 1.5. System: Komponenten und Gefüge
  • 1.6. Teilnehmergruppen
  • 1.6.1. Zur Nutzung verpflichtet
  • 1.6.2. Nicht zur Nutzung verpflichtet
  • 1.7. Wirtschaftliches Konzept: Public Private-Partnership
  • 1.8. Marktsituation
  • 1.9. Zertifizierte Softwareprodukte
  • 1.9.1. Kommerzielle Softwareprodukte
  • 1.9.2. Nicht kommerzielle Softwareprodukte
  • 1.10. Marktdynamik
  • 1.11. Win-Win-Situation
  • 2. Der ERV als Trägersystem für Anwendungen ausserhalb der ordentlichen Justiz
  • 2.1. Teilnehmer-Direktzustellung (TLDZ)
  • 2.2. Versicherungsportal (VU-ERV)
  • 2.3. Zustellungen der Verwaltung in den ERV
  • 2.4. Zustellgateway
  • 2.5. ERV mit dem Verfassungsgerichtshof
  • 3. Ausblick
  • 4. Bewertung
  • 5. Literatur

1.

Elektronischer Rechtsverkehr: Begriffsbestimmung ^

[1]
Während in Deutschland die Begrifflichkeit «Elektronischer Rechtsverkehr» (ERV) eher unbestimmt ist, wird in Österreich primär von einer Legaldefinition ausgegangen. Diese findet sich in der Kombination von Gerichtsorganisationsgesetz und der Verordnung «Elektronischer Rechtsverkehr»1.
[2]
Den österreichischen ERV bloß aus juristischem Blickwinkel zu sehen, würde allerdings zu kurz greifen. Seine tatsächliche Bedeutung erlangen dieser Begriff und das dahinter stehende Systemgefüge in Kombination mit rechtlichen, wirtschaftlichen, technischen und vieler anderer Aspekte. Auch Haushalts- und Zustellrechtsaspekte seien an dieser Stelle erwähnt.

1.1.

Geschichte ^

[3]
Ohne den historischen Aspekt zu stark betonen zu wollen, sei kurz auf die Entwicklung eingegangen. Ursprünglich verstand man in Österreich unter ERV ein unidirektionales Kommunikationssystem zwischen Rechtsanwälten und Gerichten, basierend auf proprietärer Technologie, das rechtlich nur in genau abgezirkelten Verfahrenssituationen verwendet werden konnte.
[4]
Trotz anfänglich eher bescheidener Akzeptanz setzte das BMJ, genauer gesagt der Kreator Martin Schneider, im Laufe von zwei Jahrzehnten auf Ausbau und Ausweitung. Immer mehr Verfahrensmöglichkeiten kamen dazu, später ein bidirektionales System das auch Zustellungen der Gerichte an Einbringer transportieren konnte.
[5]
Später die Abkehr von der proprietären Technologie hin zu offenen Systemstandards.
[6]
Einführung von Zertifikatstechnologie zur Ablösung von rein passwortgesicherten Zugängen.
[7]
Öffnung für immer neue Zielgruppen.
[8]
Immer weitere Anwendungen – zuletzt auch über den Bereich der ordentlichen Justiz hinaus

1.2.

Sicht der Justiz ^

[9]
Der «Elektronische Rechtsverkehr» (ERV) ist die
  • papierlose
  • strukturierte
  • elektronische Kommunikation,
[10]
welche die ursprüngliche Kommunikation mit Papier/Postversand – über den Weg von Übermittlungsstellen – zwischen Parteien und Gerichten/Staatsanwaltschaften sowie umgekehrt ersetzt und dieser rechtlich gleichwertig ist.

1.3.

Organisatorische Sicht ^

[11]
Der ERV ist ein rechtlich und technisch definiertes Konzept und Servicebündel mit dem Ziel der bidirektionalen Kommunikation von Kommunikationspartnern und der ordentlichen Justiz.
[12]
Definiert sind nicht bloß Verfahrensregeln. In Wahrheit ist die Regelungstiefe im technischen Bereich deutlich größer als bei den rechtlichen Aspekten.
[13]
Der österreichische ERV basiert nämlich nicht auf dem Austausch von Textdokumenten, sondern verlangt fast durchwegs exakt definierte Strukturdateien in XML-Technologie.
[14]
Dass die technische Regelung die juristische deutlich überragt, zeigt sich auch – nach vielen Millionen übermittelter Zustellstücke – immer wieder in der Praxis. Herausforderungen und Unklarheiten gelangen sehr selten, aber doch, gelegentlich ans Tageslicht.
[15]
Dort wo Unklarheiten auftreten, waren sie bisher immer rechtlicher Natur, oder genauer gesagt, Interpretationsunschärfen im menschlichen Bereich – manchmal auch Freiheit der Rechtsprechung genannt.

1.4.

Systemgefüge auf Seiten der Justiz ^

[16]
Die Justiz ist «Herr» des Elektronischen Rechtsverkehrs und bedient sich diverser Backofficesysteme, die am ERV angebunden sind. Alle diese Systeme werden im Bundesrechenzentrum gehostet. In historischer absteigender Reihenfolge (also neuestes zuerst) sind das:
  • EUM (Europäisches Mahnverfahren)
  • GT (Grundbuch)
  • FB (Firmenbuch)
  • VJ (Verfahrensautomation Justiz)

1.4.1.

EUM ^

[17]
Das Teilsystem EUM dient justizseitig vorerst ausschließlich dem Europäischen Mahnverfahren, u.a. in Verbindung mit dem internationalen Justizdatenaustauschsystem e-Codex. Dieses bietet gegenwärtig (eingeschränkte) ERV-Funktionalitäten mit Deutschland und einem italienischen Gericht. Ein weiterer Ausbau innerhalb der EU2 steht kurz bevor.

1.4.2.

GT ^

[18]
Dieses sehr umfangreiche System dient der Führung des Grundbuchs, eine Komponente ist die Heranführung von strukturierten Grundbuchgesuchen. Letztendlich ist auch das Abgabesystem zur Einsicht ins Grundbuch Systembestandteil. Dieses noch sehr junge System wird aktuell noch laufend verbessert.
[19]
Datenschnittstellen bestehen u.a. zu den Urkundenarchiven der Anwaltschaft (Archivium) und des Notariates (CyberDoc).

1.4.3.

FB ^

[20]
Dieses System dient der Führung des Firmenbuches, der Heranführung von Gesuchen oder Jahresabschlüssen sowie auch der öffentlichen Einsichtnahme.
[21]
Der ERV mit dem Firmenbuch ist derzeit nur in geringem Maß strukturiert. Ein erheblicher Systemumbau mit weit höherem Strukturierungsgrad steht bevor.

1.4.4.

VJ ^

[22]
Die Verfahrensautomation Justiz ist das älteste und umfangreichste Teilsystem, das mit dem ERV in Verbindung steht. Gleichzeitig weist dieses auch die höchste Zahl an Fällen auf.
[23]
Eine besonders hohe Quote an Fällen nehmen Klagen wegen Geldleistungen ein, die bei Gericht weitgehend automatisiert und ohne Medienbruch verarbeitet werden können.
[24]
Ähnliches gilt für Exekutionsanträge.
[25]
Außerstreit-, Insolvenz- oder Strafsachen werden ebenfalls über VJ abgehandelt – allerdings mit justizseitig nicht immer vollständiger Automatisierungstiefe

1.5.

System: Komponenten und Gefüge ^

[26]
Die Justiz hat im Rahmen des ERV eine Reihe von Teilaufgaben an sogenannte ERV-Übermittlungsstellen (ÜSt.) übertragen.
[27]
Bei diesen handelt es sich um IT-Unternehmen, die sich im Wege von Vergabeverfahren um die zu erbringende Leistung beworben haben und vom Bundesministerium für Justiz befristet beauftragt worden sind. Rechtlich erteilt das Justizministerium diesen jeweils Dienstleistungskonzessionen. Rein praktisch sind sie mit (Teil-) Betriebs- und Vertriebsaspekten von Leistungen des Bundes betraut.
[28]

Die ERV-Übermittlungsstellen sind mit dem Bundesrechenzentrum über Standleitungen oder virtuelle Kanäle (VPN) verbunden.

[29]
Derzeit sind folgende Unternehmen als ERV-Übermittlungsstellen beauftragt3 (in alphabetischer Reihenfolge):
  • ADVOKAT Unternehmensberatung Greiter & Greiter GmbH, 6020 Innsbruck, Andreas-Hofer-Strasse 39B
  • EDV-Technik Dipl-Ing. WENT GmbH, 8041 Graz, Liebenauer Hauptstrasse 154
  • HF Data Datenverarbeitungsgesellschaft m.b.H., 1141 Wien, Matznergasse 17
  • IMD GesmbH, 2353 Guntramsdorf, Münchendorfer Straße 62
  • JUSLINE GmbH, 4690 Schwanenstadt, Linzer Straße 2
  • ÖGIZIN GmbH, Österreichische Gesellschaft für Information und Zusammenarbeit im Notariat Gesellschaft m.b.H., 1010 Wien, Landesgerichtsstraße 20
[30]
Ihre Kernaufgaben sind Rechnungslegung, Kundenbetreuung, Kundenverwaltung, Betreuung von Partnerunternehmen (Softwareherstellern) und Weiterentwicklung des Systems mit BMJ und BRZ. Weiters nehmen sie auch Aufgaben der technischen und der organisatorischen IT-Sicherheit wahr.
[31]
Die nach außen am besten erkennbare Funktion ist der Betrieb von Zugangsrechnern, über welche die Kunden an den ERV mittelbar herangeführt werden. Jede Datenkommunikation mit dem Bundesrechenzentrum – und damit mit der Justiz – kann und darf ausschließlich über die Zugangsrechner der ERV-Übermittlungsstellen erfolgen.

1.6.

Teilnehmergruppen ^

1.6.1.

Zur Nutzung verpflichtet ^

  • Rechtsanwälte
  • Notare
  • Banken
  • Versicherungen
[32]
Ab 2014 auch Sozialversicherungsträger, Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, die Finanzprokuratur, Pensionsinstitute, die Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse, die Pharmazeutische Gehaltskasse, der Insolvenz-Entgelt-Fonds sowie die IEF-Service GmbH.
[33]
Auch die Rechtsanwaltskammern werden ab 1. Januar 2014 am ERV teilnehmen. Diese kommunizieren mit Gerichten primär in Verfahrenshilfesachen und geben Gerichten künftig im Wege der Datenkommunikation Verfahrenshelfer bekannt.

1.6.2.

Nicht zur Nutzung verpflichtet ^

  • Wirtschaftstreuhänder
  • Bilanzbuchhalter
  • Revisionsverbände
[34]
Diese drei Gruppen nehmen beim ERV eine Sonderstellung ein, sie sind in der Verordnung Elektronischer Rechtsverkehr explizit angeführt, ohne dass für sie eine Nutzungsverpflichtung besteht.
[35]
Angehörige dieser Gruppen verwenden den ERV in erster Linie zur Übermittlung von Jahresabschlüssen ihrer Klienten an die Firmenbuchgerichte. Sie können zur Übermittlung den ERV auf freiwilliger Basis nutzen. Obwohl beiden Gruppen mit FinanzOnline ein alternatives und auch kostenloses System zur Verfügung steht, nimmt auch – besonders bei den beiden erstgenannten Gruppen – die ERV-Nutzung stetig zu.

1.7.

Wirtschaftliches Konzept: Public Private-Partnership ^

[36]
Das Bundesministerium für Justiz ermächtigt die beauftragten Übermittlungsstellen von den Endkunden für seine Leistungen Entgelte einzuheben. Die Höhe dieser Entgelte ist im Zuge des Vergabeverfahrens ein Bewertungskriterium.
[37]
Typische zu entlohnende Leistungen sind etwa ein Entgelt für ein Versandstück von Kunden zu Gerichten, monatliche Grundgebühren pro Kundenverhältnis oder Entgelte für das Ausstellen von Zertifikaten.
[38]
Die Zustellung von Gerichten an Kunden entlohnt das Bundesministerium für Justiz pro Zustellstück an die Übermittlungsstellen. Die Höhe der Entlohnung liegt bei einem einstelligen Prozentsatz jener Kosten die der Justiz bei Postversand entstehen würden.
[39]

Bereits aus vordergründiger Haushaltssicht entstehen der Justiz bzw. dem Bund hier jährlich wirtschaftliche Vorteile in Millionenhöhe. Unter der Annahme einer Einsparung von mehr als 3 Euro pro Zustellstück und etwa 7 Mio. ERV Zustellstücken pro Jahr beträgt der allein durch Minderung der Zustellkosten lukrierte Einsparungserfolg mehr als 20 Mio. Euro jährlich.

1.8.

Marktsituation ^

[40]
Die Übermittlungsstellen sind ausdrücklich aufgefordert, Marktmechanismen wirken zu lassen. Ziel der Justiz ist dabei günstige Endkundentarife und bessere Dienstleistungsqualität zu erzielen. Beide Ziele konnten gegenüber einer vorher bestanden Monopolsituation mit nur einem Dienstleister jedenfalls erzielt werden.
[41]
Die Übermittlungsstellen sind mit einer Ausnahme nicht auf bestimmte Kundengruppen spezialisiert und stehen in direktem Mitbewerb zueinander.
[42]
Sie positionieren sich gegenüber den Endkunden primär nicht durch Preisaspekte, sondern durch spezielle Kompetenzen, Dienstleistungsqualität sowie durch Kooperationen mit Softwareherstellern.
[43]
Im Regelfall ist es nämlich für ERV-Endkunden erforderlich, sich für die Teilnahme einer extra zertifizierten Software zu bedienen. Obwohl die Datenschnittstellen der Übermittlungsstellen in hohem Maß interoperabel sind, ist der Kunde hinsichtlich Kombination Software und Übermittlungsstelle nicht völlig frei.
[44]
Kunden können nur unter den zertifizierten Kombinationen Software – Übermittlungsstelle wählen. Marktvorteile genießen daher jene Übermittlungsstellen und Softwarehersteller, die eine möglichst große Zahl an Partnern anbieten können.

1.9.

Zertifizierte Softwareprodukte4 ^

1.9.1.

Kommerzielle Softwareprodukte ^

Produkt Hersteller
ADVOKAT ADVOKAT Unternehmensberatung Greiter & Greiter GmbH
BMD NTCS BMD Systemhaus GmbH
jurXpert ACP Business Solutions GmbH
KIM ERV PSC Public Software & Consulting GmbH
MANZ webERV MANZ´sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung GmbH
medixPro Medix Informatik GmbH
MKW Mag. Peter Graf KG, Wien
Notabene NOTABENE Software für das Österreichische Notariat GmbH
notarXpert ACP Business Solutions GmbH
ÖKOM ERV ÖKOM EDV Planungs- und Handelsgesellschaft m.b.H.
Paragraph-Software Paragraph-Software
Parasoft RA Dr. Ingo Gutjahr
Poweranwalt Uhrwerk –Zeitgerechte Computerlösungen GmbH
R/Win ACP Business Solutions GmbH
RZL-Software RZL-Software
JUSLINE webERV-Client JUSLINE
WebSUITE-Combi EDV-Technik Dipl-Ing. WENT GmbH
WinCAUS EDV2000 Systembetreuung GmbH
WinRA CI Dr. Engleder GmbH

1.9.2.

Nicht kommerzielle Softwareprodukte ^

[45]

(Nach Diktion des BMJ. Eine bessere Formulierung wäre: «nicht am Markt platzierte Softwareprodukte, die im Regelfall nur einem Anwender zur Verfügung stehen.»).

Produkt
BMLV ERV für BM für Landesverteidigung
Einziehungsamt Innsbruck für Wr. Städtische Versicherung
ERV2008 mit WebERV für IFM Informatik GesmbH
EXTRA für UNIQA
noevers-weberv für Niederösterreichische Versicherung AG
SVWEBERV für Gebietskrankenkassen
WDSErv für Wüstenrot Datenservice GmbH

1.10.

Marktdynamik ^

[46]
Durch die erwähnten Marktmechanismen, auch durch die steigende Zahl an Teilnehmern und Anwendungen, kommt es zu einer hohen und auch weiter steigenden Marktdynamik.
[47]
Die Zahl der ERV-Übermittlungsstellen steigt langsam, aber kontinuierlich, die Zahl der ERV-Softwarehersteller steigt deutlich.

1.11.

Win-Win-Situation ^

[48]
Wie schon erwähnt erzielt die Justiz durch Minderung der Zustellkosten erhebliche Rationalisierungserfolge.
[49]
Wirtschaftliche Vorteile die sich durch Vermeidung von Medienbrüchen und vereinfachten Verarbeitungen bei Gericht ergeben, sind für den Autor nicht exakt bezifferbar – liegen aber definitiv im zweistelligen Millionenbereich pro Jahr.
[50]
Die IT-Wirtschaft erhielt von der Justiz ein ursprünglich neues und nun stetig wachsendes Betätigungsfeld im Bereich E-Government/E-Justice und versteht sich seit einigen Jahren über ihre Interessensvertretung Wirtschaftskammer Österreich als engagierter Partner der Justiz – ein wohl ursprünglich von der Justiz kaum erwarteter Nebeneffekt. Wahrscheinlich eher erwartet war der «Nebeneffekt» steigender Steuerleistungen. Allein das Umsatzsteueraufkommen aller am ERV beteiligten IT-Unternehmen erreicht wiederum Millionenbeträge. Das Körperschaftssteuervolumen erscheint hingegen nicht kalkulierbar.
[51]
Der Nutzenaspekt bei den Kernzielgruppen Rechtsanwälte und Notare ist für eine Betrachtung durchaus lohnend. Deren gesetzliche Interessensvertretungen standen der ERV-Einführung historisch positiv gegenüber und konnten auch gegenüber dem Gesetzgeber wirtschaftliche Vorteile bei der ERV-Nutzung durchsetzen. Dies waren etwa erhöhte Honorare bei ERV-Nutzung oder verminderte Gerichtsgebühren. Viel interessanter als diese rein monetären Aspekte erscheint allerdings die technologische Ertüchtigung. Durch die seit einigen Jahren bestehende gesetzliche ERV-Nutzungspflicht kam es implizit zu einem Technologiesprung bei den genannten rechtsberatenden Berufsgruppen. IT-, Internet-, Zertifikats- und Chipkartentechnologien sind in Österreich selbstverständlicher und fixer Bestandteil des Curriculums für Berufsanwärter – ein Umstand, der in vergleichbaren europäischen Staaten nirgends so selbstverständlich ist wie in Österreich.
[52]
Der Autor dieser Zeilen wagt die Behauptung, dass dieser «Fit to IT»-Aspekt etwa für die österreichische Anwaltschaft den wesentlichsten Aspekt darstellt.

2.

Der ERV als Trägersystem für Anwendungen ausserhalb der ordentlichen Justiz ^

[53]
Die historisch erste, außerhalb der ordentlichen Justiz stehende ERV-Anwendung ging auf ein Anliegen des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages (ÖRAK) zurück. Deren ehemaliger Präsident Gerhard Benn-Ibler wünschte ausdrücklich eine Möglichkeit mittels der Rechtsanwälte ihrer Kommunikationspflicht nach §112 der Zivilprozessordnung (ZPO) elektronisch erfüllen sollten.
[54]
Diese Bestimmung sagt:
Sind beide Parteien durch Rechtsanwälte vertreten, so hat jeder dieser Rechtsanwälte, der einen Schriftsatz einbringt, die für den Gegner bestimmte Gleichschrift dessen Rechtsanwalt durch einen Boten, die Post … direkt zu übersenden;
[55]
Die Anregung des ÖRAK aufgreifend, kamen die damals tätigen ERV-Übermittlungsstellen, nach Genehmigung durch das Justizministerium überein, den ERV dergestalt zu erweitern, dass Mitteilungen von Teilnehmer zu Teilnehmer möglich werden, ohne dabei aber Infrastrukturinvestitionen der Justiz erforderlich werden zu lassen.

2.1.

Teilnehmer-Direktzustellung (TLDZ) ^

[56]
Obwohl die Anforderung lediglich in der elektronischen Abbildung von Zustellungen nach §112 ZPO bestand, wurde der neue Dienst unter dem Namen Teilnehmer-Direktzustellung (TLDZ) so konzipiert, dass er für eine große Zahl von Anwendungsfällen möglich wurde.

2.2.

Versicherungsportal (VU-ERV) ^

[57]
Einige große Versicherungsunternehmen (VU) traten an den Arbeitskreis der ERV-Unternehmen heran, um Rechtsschutzsachen strukturiert und großflächig zwischen Rechtsanwälten und Versicherungsunternehmen kommunizieren zu können. Dafür entwickelte ein auf Versicherungsanwendungen spezialisiertes IT-Unternehmen eine neue Datenstruktur auf Basis der erwähnten Teilnehmer-Direktzustellung.

2.3.

Zustellungen der Verwaltung in den ERV ^

[58]
Im Zuge einer Kooperation zwischen Bundeskanzleramt und Justiz wurde geregelt, dass Anbringen bzw. Zustellungen im Bereich Verwaltung, Justiz und ERV-Teilnehmern systemübergreifend funktionieren sollen. Rechtliche Aspekte konnten rasch gesetzlich gelöst werden. Ein Vier-Phasen-Plan wurde erstellt.
[59]
Derzeit ist Phase eins dieses Projektes aktiv und sieht vor, dass Kunden (Rechtsanwälte, Notare) optieren können, Zustellungen der Verwaltung über den ERV zu erhalten. Ein quantitativer Erfolg darf allerdings erst erwartet werden, wenn Anbringen von Vertretern rechtsberatender Berufe bei Verwaltungsbehörden elektronisch möglich sein werden.
[60]
Derzeit erfreut sich diese Anwendung keiner sehr großen Nachfrage. Identifizierte Gründe sind ein umständliches Opt-In-Verfahren auf Basis Bürgerkarte und zu geringe Bewerbung am Markt. Ein ganz wesentlicher Mangel ist auch, dass es keinerlei Übersicht gibt, welche Verwaltungsbehörden in welchen Verfahren elektronisch zustellen.5

2.4.

Zustellgateway ^

[61]
Mit dem Bedürfnis der Steigerung von Zustellqualität und Zustellsicherheit zwischen Vertretern rechtsberatender Berufe und deren Klienten kam es im Jahr 2012 zu einem Projekt bei dem der Elektronische Rechtsverkehr mit einem privatwirtschaftlichen Zustellsystem vernetzt wurde. Diese Vernetzung trägt derzeit den Arbeitstitel Zustellgateway. Ein Hauptanwendungsgebiet wird der sichere Transport von Kommunikationsstücken zwischen ERV-Teilnehmern und deren Klienten sein. Eine Ausweitung auf Kommunikationsstücke an bzw. von Verwaltungsdienststellen wird derzeit untersucht.
[62]
ERV-seitig wird hier wiederum das Instrument der Teilnehmer-Direktzustellung heran gezogen.

2.5.

ERV mit dem Verfassungsgerichtshof ^

[63]
Seit Mitte 2013 ist auch der VfGH nach Herstellung der erforderlichen Rechtsgrundlagen6 am ERV angeschlossen. Auch Nutzungsverpflichtungen für die Zielgruppe wurden gesetzlich geregelt.
[64]
Aus Rechtsanwaltssicht nimmt die Anwendung des VfGH im ERV keine technisch-organisatorisch auffällige Rolle ein. Für die Bedienung des VfGH wurden in den für Rechtsanwälte geeigneten Softwareprodukten einfach neue Schriftsatztypen angeboten.
[65]
Im Hintergrund laufen aber sowohl Datenkommunikation als auch Verarbeitung völlig anders als bei den Anwendungen der ordentlichen Justiz – nämlich nicht im Bundesrechenzentrum sondern im Verfassungsgerichtshof selbst.

3.

Ausblick ^

[66]
Der ERV ist heute ein in weiten Bereichen flächendeckendes Medium – und er wird noch größer, noch besser.
[67]
Die Justiz – maßgeblich und verantwortlich Martin Schneider – plant laufend die Einbeziehung weiterer Nutzergruppen. Die jüngste Erweiterung betraf mehrere tausend Bilanzbuchhalter, die den ERV für die Übermittlung von Jahresabschlüssen nutzen können. Die nächste Erweiterungsstufe werden Pensionskassen und gesetzliche Sozialversicherungen besetzen. Andere werden folgen.
[68]
Auch technisch ist noch viel machbar – etwa in der Anhebung der maximal übertragbaren Dateigrößen, Zuwendung zu neuen Datenformaten oder verbesserten Layoutmöglichkeiten.
[69]
Legistisch und organisatorisch werden neue Verfahren und neue Verfahrensaspekte folgen.
[70]
Neue Systempartner werden einbezogen werden. Im Jahr 2014 wird sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit, vertreten durch Bundesverwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof anschließen – voraussichtlich werden später die neun Landesverwaltungsgerichte folgen.
[71]
Mittelfristig darf auch damit gerechnet werden, dass über den ERV auch Anbringen, von angehöriger rechtsberatender Berufe bei Verwaltungsbehörden möglich sein werden – oft verlangt wird hier die integrierte Kommunikationsmöglichkeit mit Grundverkehrsbehörden.
[72]
Auch die Möglichkeit der elektronischen Urkundenvorlage dürfte mittelfristig ausgeweitet werden – auch wenn dafür noch keine konkreten Anzeichen signalisiert werden.

4.

Bewertung ^

[73]
Der Autor war in der Interessensvertretung der österreichischen IT-Wirtschaft jahrelang maßgeblich für E-Government-Projekte seiner Mitgliedsbetriebe zuständig. Aus dieser Kenntnis heraus mag es interessieren, dass ihm kein Projekt oder Konzept oder System bekannt ist, das einerseits flächendeckend im Einsatz, andererseits für alle Systemteilnehmer wie Behörde (hier: Justiz), Teilnehmer und IT-Wirtschaft eine derartige Fülle von Positivaspekten bringt.
[74]
Weiters zeigt sich hier auch das Fast-Alleinstellungsmerkmal, dass alle Systemteilnehmer bzw. ihre Interessenvertretungen kooperativ am Systemausbau teilnehmen.
[75]
Im eigenen und zum gemeinsamen Nutzen.

5.

Literatur ^

Reinhard Bayer, ERV-Grundbuchsanträge zum Wohnungseigentum, MANZ’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Wien, 2011.

 

Josef Bosina / Martin Schneider, Die elektronische Klage: Elektronischer Rechtsverkehr (ERV) und Gebühreneinzugsverfahren zugleich Ergänzungsband zu Das neue Mahnverfahren und die ADV-Drittschuldneranfrage, MANZ’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Wien, 1990.

 

Dietmar Jahnel / Peter Mader, EDV für Juristen. Grundriss der Rechtsinformatik, MANZ’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Wien, 1998.

 

Schneider/Frank/Kirschbichler/Moravec/Roth, Der Elektronische Rechtsverkehr mit den Gerichten (ERV), MANZ’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Wien, 1990.

 

Tagungsbände des Internationalen Rechtsinformatik Symposions IRIS, diverse Ausgaben, diverse Beiträge.

 

Zeitschriften:

datagraph, diverse Beiträge, diverse Ausgaben, Graz, 1988–2002.


 

Dieter Zoubek, Geschäftsführer der Informations-, Medien- und DatenverarbeitungsgesmbH, allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger. Münchendorfer Straße 62, 2353 Guntramsdorf, Österreich, dz@imd.at, http://www.imd.at/.

  1. 1 §89a ff. Gerichtsorganisationsgesetz (GOG) in Kombination mit der Verordnung der Bundesministerin für Justiz über den elektronischen Rechtsverkehr (ERV 2006), zahlreiche Rechtsnormen verweisen auf diese Regelungen. In §1 (1) des E-Commerce-Gesetzes (ECG) wird der Begriff Elektronischer Rechtsverkehr allerdings abweichend verwendet und bezieht sich hier offensichtlich nicht auf die zitierten Legaldefinitionen.
  2. 2 U.a. mit Griechenland, Portugal und Frankreich.
  3. 3 Quelle: http://www.edikte.justiz.gv.at/erv, abgerufen am 29. Oktober 2013.
  4. 4 Quelle: http://www.edikte.justiz.gv.at/erv, abgerufen am 29. Oktober 2013.
  5. 5 Die Nichtexistenz einer derartigen Generalübersicht wurde vom Bundeskanzleramt (zuständig für E-Government-Koordination) mehrfach bestätigt. Wohl gibt es aber punktuelle Übersichten, etwa für die Sphäre des Landes Wien.
  6. 6 U.a in der Verordnung des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes über die elektronische Einbringung bzw. Übermittlung von Schriftsätzen, von Beilagen zu Schriftsätzen, von Ausfertigungen von Erledigungen des Verfassungsgerichtshofes und von Kopien von Schriftsätzen und Beilagen (BGBl. II Nr. 82/2013).