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Hans Kelsen hatte mit seiner Reinen Rechtslehre offensichtlich mehrere Ziele verfolgt.
- Eines war sicherlich ein Paradigmenwechsel in der Rechtstheorie, was ihm auch gelungen ist. Seine Reine Rechtslehre wurde zum neuen rechtswissenschaftlichen Standard und hat diesbezüglich das 20. Jahrhundert entscheiden geprägt.
- Ein anderes Ziel war für ihn die Überwindung des Naturrechtes und auch das ist ihm gelungen. Seit der zweiten Auflage der Reinen Rechtlehre ist es nicht mehr gut möglich, naturrechtlich zu argumentieren, dieses Theorie-Repertoire hat sich überlebt.
- Schließlich war es ein deklariertes Ziel Hans Kelsens, mit der Gerechtigkeit Schluss zu machen, doch das gelang ihm nicht. Ungeachtet seines langen und gelehrten Aufsatzes über die Gerechtigkeit hat diese seinen Angriff überlebt und ist nach wie vor ein allgemeines Thema.
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Freilich ist heute mehr von der Ungerechtigkeit die Rede als von der Gerechtigkeit, doch das kommt bei einer dialektischen Sicht der Dinge auf das Gleiche hinaus.
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Was ist die Gerechtigkeit und wieso ist sie in Zeiten der aufkommenden Rechts-Maschinenkultur nach wie vor ein aktuelles Thema?
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Es gibt viele Ansätze, die Gerechtigkeit zu definieren. Sie entstammen verschiedenen Zeiten und haben einen unterschiedlichen Stellenwert.
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Am einfachsten scheint es zu sein, die Gerechtigkeit als ein Metasystem zum Recht zu definieren, was gleichsam «über» dem Recht steht beziehungsweise, allgemeiner gesagt, sich in einem Zusammenhang mit dem Recht befindet.
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In diesem Sinne ist die Gerechtigkeit nicht ein Teil des Rechts, also kein Subelement, sondern etwas davon Verschiedenes.
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Doch auch externe Systeme können mit dem referierten System funktionell verbunden sein, so wie etwa die Metadaten von dem Dokument dokumentalistisch getrennt sein und sich dennoch in einem engen Zusammenhang damit befinden können.
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Inhaltlich gesehen kann die Gerechtigkeit verschiedene Elemente enthalten.
- So kann die Deutung des Rechtsmaterials als «Recht» vom Recht selbst durch Autopoesie geleistet werden, aber auch von dem rechtsexternen System der Gerechtigkeit.
- Traditionell enthält die Gerechtigkeit auch Metanormen für das Recht, wie dieses zu gestalten und vor allem wie es anzuwenden ist. Beides kann gerecht, beides kann ungerecht sein. Wie die Beispiele der Vergangenheit zeigen, können korrekte generelle Texte in der Anwendung pervertiert werden, es können aber die generellen Texte schon von vornherein ungerecht formuliert sein.
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Eines der grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit ist der Gleichheitsgrundsatz.
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Die Schwierigkeiten mit dem Gleichheitsgrundsatz beziehen sich freilich weniger auf sachlich gerechtfertigte Differenzierungen als auf die ungleiche Anwendung des Rechts im Kontext von Freund-Feind-Schemata. Es gibt dann zweierlei rechtliche Statuten, die einen für die Freunde und die anderen für die Feinde. Der Gleichheitsgrundsatz wird dann zweigeteilt. Der eine Gleichheitsgrundsatz gilt für die Freunde, der andere Gleichheitsgrundsatz gilt für die Feinde. Das ist ungerecht und erinnert entfernt an den antiken Straßenräuber Prokrustes, der zwei Betten hatte und beide missbräuchlich angewendet hat.
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Bei einer näheren Betrachtung zeigt sich, dass die Anwendung der Gerechtigkeit weniger ein normatives Problem ist als vorgelagert ein kognitives Problem, ein solches der Interpretation.
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Die Vorfrage geht nämlich dahin, wie das Vorgefundene zu interpretieren ist, und das ist aber keine normative Frage sondern eine solche der Subsumption, die im Kern interpretativ-kognitiv ist. Je nach den Rechtsbegriffen, welche in der Interpretation angewendet werden, wird die folgende Subsumption eine andere sein.
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Wird das Menschenbild verliehen, sind die Menschenrechte anwendbar. Wird aber das rechtliche Bild der honesten Bürger den Inhonesten verweigert, dann sind für diese die Menschenrechte nicht mehr anwendbar. Die Vogelfreien konnten im Mittelalter straffrei beseitigt werden, heute sind es die wie Vögel herumfliegenden Sanktionsmaschinen, welche diese Aufgabe im rechtsfreien Raum übernehmen.
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Die Kontexte der Gerechtigkeit betreffen aber nicht nur die große und die kleine Politik, die sich manchmal in der Hybris selbst als legibus solutus, als rechtsfrei interpretiert und die sich dennoch nicht dem Geltungsbereich der Gerechtigkeit zu entwinden vermag.
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Auch die heraufkommende Welt der elektronischen Verfahren, sowohl in der Verwaltung wie in der Justiz, bringt einen neuen Kontext für die Anwendung der Gerechtigkeit mit sich.
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Bei den elektronischen Verfahren geht es vor allem um die Alltagsgerechtigkeit der betroffenen Bürgerinnen und Bürger, um das prozedural vermittelte Recht, das sie individuell und konkret erleben. Mittelbar erleben sie durch das Recht hindurch auch die Gerechtigkeit oder die Ungerechtigkeit, denn nach wie vor als bei den Menschen die Meinung vorhanden, dass sich die Gerechtigkeit im Recht manifestiert.
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Doch auch bei der IT-basierten Alltagsgerechtigkeit ist das kognitive Problem dem normativen Problem vorgelagert.
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Der Schlüssel zur Rechtsanwendung und damit auch ein Zugang zur Gerechtigkeit ist die Subsumption.
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Die Besonderheit des e-Formularverfahrens liegt darin, dass diese Subsumption von den Verfahrensparteien zu leisten ist und nicht vom Gericht oder von der Verwaltungsbehörde. Im traditionellen Verfahren brachten die Parteien ihre Parteibehauptungen vor, diese wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erhärtet oder verworfen und schließlich wurde der Sachverhalt von der Behörde festgestellt. Der festgestellt Sachverhalt war dann die Grundlage für die Subsumption. Da gab es eine ganze Reihe behördlicher Schritte zwischen den Parteibehauptungen und der Subsumption.
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Bei dem e-Verfahren ist das anders. Die Partei selbst füllt die Felder für den Verfahrensinput aus. Die Einträge in diese Felder sind aber keineswegs umgangssprachlich zu sehen sondern setzen Kenntnisse der Fachsprache voraus. Damit wird aber die Leistung der Subsumption bereits an die Verfahrensparteien delegiert, denn ohne Kenntnis der Rechtsbegriffe, die durch die Rechtsquellen in eine meist komplizierten Weise definiert werden, lässt sich kein ausreichender Eintrag gestalten.
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Die Backoffice-Programme des e-Verfahrens sind sehr rasch und sehr präzis in der Lage, aus den Eingangsdaten die entsprechenden rechtlichen Schlüsse zu ziehen, doch hängt deren Inhalt in hohem Maße von dem ab, was als Ausgangsmaterial im Front-Office von den Parteien geliefert wurde.
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In der Mehrzahl der Fälle werden die nicht rechtskundigen Parteien dadurch überfordert sein. Das ist aber eben deshalb eine Chance für die Intermediäre, sich so beruflich weiterhin positionieren können. Die Komplexität des Rechts wird durch die e-Verfahren keineswegs reduziert, sondern so wie im Mittelalter wird es weiterhin des Fürsprechs bedürfen, aber nunmehr des IT-kundigen Fürsprechs.
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Vor dem e-Verfahren sind alle gleich und insofern scheint dieses auch gerecht zu sein. Doch in der faktischen Ausprägung macht es aber schon einen Unterschied aus, ob ein Reisender angesichts des bereits herannahenden Zuges verzweifelt versucht, dem Ticketautomaten ein passendes Ticket zu entlocken, oder ob ihm dabei menschliche Hilfestellung geleistet wird.
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Die vollkommene Rationalität der Maschine ist es ja auch, die für die situative Emotionalität des Menschen zur Barriere wird. Es hat sich aber in der neuen Praxis wohl der Mensch der Rationalität der Maschine anzupassen und nicht umgekehrt die Maschine der situativen Emotionalität des Menschen.
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Wahrscheinlich werden sich die e-Verfahren im Mittelbereich der Verfahren durchsetzen. Immer mehr Situationen werden standardisiert und damit abstrakt leicht handhabbar werden. In den beiden Peripheriebereichen jedoch wird es anders sein. Die Hard-Cases werden nach wie vor gleichsam in juristischer Handarbeit abgewickelt werden.
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Im Bagatellbereich der Lebenssachverhalte werden sich weiter die Automaten durchsetzen, doch wird dies, wenngleich auch rechtlich vorgeformt, von den Menschen dennoch nicht als rechtlich empfunden werden.
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Es ist eher anzunehmen, dass sich eine neue Art der situativen Personalisierung ereignet, wie etwa bei den Verkehrsampeln, welche als gleichsam animistische Normsetzer in das allgemeine Bewusstsein längst aufgenommen wurden.
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Gleichheit garantiert noch lange nicht Gerechtigkeit. Ein Beispiel dafür sind Verkehrssteuern, die zwar für alle gleich sind, aber die ärmeren Schichten von der Seite der Einkommensverwendung ungleich mehr belasten als die Reichen, und daher als ungerecht empfunden werden.
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Ebenso ist es mit der Rechtskenntnis, die bereits jetzt für alle gleich elektronisch vermittelt wird, sei es durch das RIS oder durch Help.gv, bei der es aber große Unterschiede in der Fähigkeit der Einzelnen gibt, damit umzugehen. Dazu kommen noch die unterschiedlichen technischen Kompetenzen und Geschicklichkeiten im Umgang mit dem neuen Medium.
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Ein offenes Thema ist sicherlich der mangelnde ex-ante-Rechtsschutz gegen fehlerhafte Formulare im e-Verfahren. Wenn das Gesetz etwa zehn verschiedene Fallgruppen vorsieht aber in den Formularen nur neun davon aufgegriffen werden, so stellt sich die Frage, wie sich jemand verhalten soll, der die zehnte Fallgruppe in Anspruch nehmen kann, die aber elektronisch nicht angeboten wird. Ein ex-post-Rechtsschutz nach Ablauf der Instanzen kommt zu spät und ist disfunktional, da es ja um die Gestaltung der Eingangsphase geht. Der Gesetzgeber wird sich überlegen müssen, wie diesem berechtigten Anliegen Rechnung getragen werden kann.
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Der Paradigmenwechsel zum e-Verfahren schafft im Klein- und Mittelbereich eine neue standardisierte Rechtskultur, so wie sie bisher nicht erreicht werden konnte. Insofern liegt dieser Paradigmenwechsel im Sinne der Gleichheit und ist «gerecht», wenn man von den unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen absieht.
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Die Ungerechtigkeit, die ja die Kehrseite der Gerechtigkeit ist, gleichsam die dunkle Rückseite des hellen Vollmondes, wird wie bisher dort zum massiven Problem, wo sie so groß ist, dass man sie nicht mehr bewusst wahrnimmt. Denn nichts ist so unsichtbar, wie das Unübersehbare. Daran wird auch der Paradigmenwechsel zum e-Verfahren nicht ändern.
Friedrich Lachmayer, Universität Innsbruck, friedrich@lachmayer@uibk.ac.at, http://www.legalvisualization.com.
Vytautas Čyras, Universität Vilnius, vytautas.cyras@mif.vu.lt, http://www.mif.vu.lt/~cyras/.
Harald Hoffmann, Metadat, harald.hoffmann@metadat.com, http://www.metadat.com.