Jusletter IT

Ein Bild der Zukunft?

Selbstentwickelte Betriebssysteme für Prüfungen am Beispiel des Saarbrücker Prüfungsrechner-Toolkits «Challenge OS»

  • Author: Stefan Hessel
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Advanced Legal Informatics Systems and Applications
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2015
  • Citation: Stefan Hessel, Ein Bild der Zukunft?, in: Jusletter IT 26 February 2015
Der Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die bisherige Nutzung und Verbreitung von Live-Systemen und zeigt an einem konkreten Beispiel wie offene Betriebssysteme zum Schreiben von Prüfungen angepasst werden können und welche Vorteile sich daraus ergeben. Dazu wird das Saarbrücker Prüfungsrechner-Toolkit «Challenge OS» vorgestellt, welches der Autor am Lehrstuhl von Prof. Dr. Georg Borges entwickelt hat. Ferner wird ein kurzer Ausblick auf weitere Nutzungsmöglichkeiten von Live-Systemen in juristischen Arbeitsabläufen gegeben.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Allgemeines zu Live-Systemen
  • 2. «Challenge OS» – Ein Live-System für Prüfungen
  • 3. Weitere Einsatzgebiete für Live-Systeme
  • 4. Ausblick

1.

Allgemeines zu Live-Systemen ^

[1]
Live-Systeme sind Betriebssysteme, die von einem bootfähigen Medium (z.B. USB-Stick oder DVD) gestartet und genutzt werden können, ohne dass es einer Installation oder eines Beschreibens der Festplatte bedarf.1 Live-Systeme werden bisher hauptsächlich zum Austesten von Betriebssystemen, zur Reparatur beschädigter Betriebssysteme (sog. Rescue-Systeme) und für andere spezielle Zwecke z.B. Entertainment und Videobearbeitung genutzt.2 Spezielle Live-Systeme für den juristischen Bereich sind nach Kenntnisstand des Autors bisher nicht entwickelt worden oder werden, wenn überhaupt, nur in sehr kleinem Rahmen genutzt.

2.

«Challenge OS» – Ein Live-System für Prüfungen ^

[2]

Das Saarbrücker Prüfungsrechner-Toolkit «Challenge OS» wurde entwickelt, um Studierenden die Möglichkeit zu geben, ihre Klausuren auf einem Laptop zu schreiben, ohne dass das eingesetzte Gerät dafür vorher aufwendig (z.B. durch das Deinstallieren von Programmen, das Löschen von Dateien oder die Einrichtung eines «Jugendschutzes») konfiguriert werden muss. Damit soll das Toolkit zum einen die Inklusion von Studierenden ermöglichen, die aus verschiedenen Gründen nur mit Hilfe einer Tastatur schreiben können, zum anderen kann das Toolkit, in größerem Rahmen eingesetzt, auch dazu genutzt werden, allen Studierenden die Möglichkeit zu geben, eine Klausur elektronisch nieder zu schreiben. Um diese Funktionen erfüllen zu können, muss ein Betriebssystem verschiedene Restriktionen enthalten. Es darf beispielsweise kein Zugriff auf das Internet möglich sein, es dürfen nur bestimmte (zugelassene) Programme installiert sein, die Systemeinstellungen müssen sicher sein und der Zugriff auf die Festplatte sollte ebenfalls nicht möglich sein.

Abbildung 1: Screenshot aus dem Saarbrücker Prüfungsrechner-Toolkit mit geöffnetem Textbearbeitungsprogramm

[3]
Das Saarbrücker Prüfungsrechner-Toolkit, das diese Voraussetzungen erfüllt, basiert auf der Linux-Distribution Ubuntu 14.04 und kann einen Laptop innerhalb weniger Minuten in einen Prüfungsrechner verwandeln. Da ein Zugriff auf die Festplatte nicht möglich ist und das Gerät nicht verändert wird, kann der Prüfling sogar seinen eigenen Laptop verwenden – ein in Zeiten klammer öffentlicher Kassen und steigender Studierendenzahlen nicht zu unterschätzender Faktor. Zum Einsatz des Toolkits muss der Laptop lediglich von einem vorbereiteten Datenträger gestartet werden. Das Erstellen dieses Datenträgers aus einem Datenträgerabbild (.iso) ist sowohl für eine DVD, als auch für einen USB-Stick einfach zu handhaben. Es existieren bereits detaillierte Anleitungen und kostenlose Programme, die sich über das Internet abrufen lassen.
[4]
Nach dem Systemstart kann der Anwender zwischen dem Live-Modus und einer vollständigen Installation wählen und so entscheiden, ob das Gerät nur vorübergehend oder dauerhaft zu Prüfungszwecken genutzt werden soll. Sobald die Auswahl erfolgt ist, wird das System entweder installiert und dann gestartet oder direkt im Live-Modus gestartet. Der Anwender kann sich dann als «student» anmelden und hat lediglich Zugriff auf die beiden Textbearbeitungsprogramme «gedit» oder «Libre Office Writer», wobei der Unterschied im Funktionsumfang der Software besteht (z.B. Rechtschreibkorrektur bei «Libre Office Writer»). Nun kann der Prüfling unter Aufsicht, die notwendig ist um andere Täuschungsversuche, wie z.B. Spickzettel zu unterbinden, seine Klausur schreiben. Nach Beendigung der Klausur kann diese entweder auf einem Drucker direkt ausgedruckt oder auf einen USB-Stick kopiert werden.

3.

Weitere Einsatzgebiete für Live-Systeme ^

[5]
Wie das Saarbrücker Prüfungsrechner-Toolkit zeigt, gibt es auch im juristischen Bereich Anwendungsmöglichkeiten für Live-Systeme. Dies gibt Anlass dazu über weitere Einsatzgebiete von Live-Systemen zu juristischen Zwecken nachzudenken. Der große Vorteil von Live-Systemen ist dabei, dass diese unabhängig vom installieren Betriebssystem arbeiten und zugleich im Vorhinein vollständig konfigurierbar sind, während der verwendete Rechner durch den Einsatz des Systems nicht verändert wird. Dies führt dazu, dass man dem Nutzer ein System zur Verfügung stellen kann, das keiner weiteren Einrichtung bedarf und ohne erheblichen Aufwand einsetzbar ist. Zusätzlicher Vorteil für die Entwicklung ist dabei, dass Software nur für das bestimme Live-System entwickelt und angepasst werden muss. Die Notwendigkeit eine Anwendung für Windows, Mac OS und Linux zu entwickeln entfällt.
[6]

Besonders interessant erscheint es aus Sicht des Verfassers, Live-Systeme zur sicheren Kommunikation von Anwendern zu nutzen. Mit dem Einsatz eines Live-Systems ließen sich dabei aufwendige Konfigurierungen auf der Anwenderseite (z.B. für Verschlüsselung und Signierung von E-Mails oder VPN-Dienste) umgehen bzw. auf eine kompetente Stelle auslagern. In Betracht käme zum Beispiel, dass ein Rechtsanwalt seinem Mandanten im Rahmen der Erstberatung ein individuell eingerichtetes Live-System auf einem USB-Stick übergibt, welches anschließend zur sicheren Kommunikation genutzt wird. Für die Allgemeinheit existieren solche Live-Systeme (z.B. Tails3) bereits, diese sind aber freilich nicht auf die Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandat zugeschnitten. Eine weitere Anwendungsmöglichkeit im Bereich der sicheren Kommunikation könnte die Kommunikation und der Austausch von Dokumenten zwischen Ausbildern und Auszubildenden im juristischen Vorbereitungsdienst sein. Sogar in der Kommunikation zwischen öffentlicher Verwaltung und den Bürgerinnen und Bürgern wäre der zukünftige Einsatz von Live-Systemen nach entsprechender Forschungs- und Entwicklungsarbeit denkbar.

4.

Ausblick ^

[7]
Live-Systeme konnten sich bisher im juristischen Bereich nicht maßgeblich durchsetzen. Dies scheint jedoch nicht daran zu liegen, dass sie für den juristischen Bereich grundsätzlich ungeeignet sind, was das Saarbrücker Prüfungsrechner-Toolkit deutlich macht. Folglich ist darüber nachzudenken, ob und wie weit Live-Systeme in den Werkzeugkasten der Rechtsinformatik einbezogen werden können.

 

Stefan Hessel, Studentische Hilfskraft, Universität des Saarlandes, Institut für Rechtsinformatik (IFRI), Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtstheorie und Rechtsinformatik Prof. Dr. Georg Borges, Universitätscampus, Gebäude A5.4, 66123 Saarbrücken, DE, Stefan.Hessel@uni-saarland.de; it-recht.uni-saarland.de

  1. 1 Tanriverdio, Linux. In: Gerda Lüpken-Räder, Datenschutz von A-Z: Schnell und kompakt informiert zum Datenschutz, Haufe, Freiburg, S. 139 (2012).
  2. 2 Siehe dazu die Übersicht bei http://www.livecdlist.com, aufgerufen: 7. Januar 2015.
  3. 3 Siehe dazu die Website des Live-Systems Tails unter https://tails.boum.org/about/index.de.html, aufgerufen: 7. Januar 2015.