Jusletter IT

Kooperation & Rechtsinformatik

  • Authors: Erich Schweighofer / Friedrich Lachmayer
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Co-operation
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2015
  • Citation: Erich Schweighofer / Friedrich Lachmayer, Kooperation & Rechtsinformatik, in: Jusletter IT 26 February 2015
Als «Bindestrich-Wissenschaft» ist die Rechtsinformatik genuin auf Kooperation angewiesen, nämlich auf die Kooperation von Rechtswissenschaft und Informatik. Erfolgreich waren nur die RI-Projekte, in denen diese Kooperation funktioniert hat, ohne Rivalität sondern mit den Synergien der gemeinsamen Perspektive, des gemeinsamen Weges. Zahlreich sind die Aspekte dieser Kooperation, von den Kooperationen der Menschen bis hin zu den Kooperationen von Mensch und Maschine. Derzeit werden neben der Teilung von Rechtsinformation in der Cloud die Wiederverwendung von Texten sowie die Teilnahme an Entscheidungsverfahren immer bedeutsamer.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Die wesentlichsten Änderungen im Wissensnetzwerk Recht
  • 2.1. Textkorpus Recht (Multimediakorpus Recht)
  • 2.2. Metadaten zum Textkorpus Recht
  • 2.3. Internet als Kommunikationsplattform
  • 2.4. Der Trend zur juristischen Agora mit mehr informellen Kooperationsformen
  • 2.5. Partizipation
  • 2.6. Globalisierung, Staat und Recht
  • 3. Wie wird es weitergehen?

1.

Einleitung ^

[1]
Thema des diesjährigen IRIS ist «Kooperation» (lateinisch cooperatio «Zusammenwirkung», «Mitwirkung»). Darunter wird das zweckgerichtete Zusammenwirken von Aktionen von Lebewesen, Menschen oder Organisationen verstanden, die durch Arbeitsteilung ein gemeinsames Ziel besser erreichen. Die wechselseitige Einwirkung der Akteure kann zielgerichtet sein oder einfach erfolgen.1 Wenig üblich ist der Begriff des Gegenteils «Defektion» (im Sinne von Nicht-Kooperation).
[2]
Kooperation ist die Voraussetzung für die Systembildung. Die Zusammenarbeit kann sich ergeben, auf biologischen Prozessen beruhen, ist aber meistens gewollt (und auch gesollt). Es gibt daher die Kooperation mit Konsensus zum Nutzen aller Beteiligten, aber auch die erzwungene Kooperation oder die unter Täuschung zustande gekommene Kooperation. Die Spieltheorie versucht zu erklären, wieso Kooperation zustande kommt.2
[3]
Rechtssysteme beruhen auf Kooperation zwischen den Stakeholdern. Selbst in Diktaturen bedürfen Rechtsysteme einer ausreichenden Anerkennung, damit diese ihre Funktion erfüllen können. Noch viel mehr gilt dies für demokratische Rechtssysteme. Die Kooperation zwischen dem Volk (von dem das Recht ausgeht), den Stakeholdern, der Regierung als auch den juristischen Dienstleistern ist gewissermaßen systemimmanent. Die Informations- und Wissensgesellschaft mit dem Streben nach digitalen Grundrechten erfordert hier grundlegendes Umdenken bei den Juristen. Mehr Effizienz bei geringeren Kosten wird zu einem wesentlichen Ziel der Jurisprudenz im 21. Jahrhundert. Die Entwicklung ist schleichend, aber nachhaltig und die Rechtsinformatik steht im Zentrum, weil sich das Wissensnetzwerk wesentlich ändert.

2.

Die wesentlichsten Änderungen im Wissensnetzwerk Recht ^

[4]
Das Wissensnetzwerk Recht3 befindet sich derzeit in einer ständigen und nachhaltigen Veränderung. War früher die juristische Bibliothek, die eigenen Akten und das persönliche Netzwerk Kern des Wissensmanagements, so sind es heute die elektronisch verfügbaren Informationsquellen, die eigenen Dateien, oft schon in der Cloud, die Beteiligung an den semantischen und sozialen Netzwerken sowie ergänzend und nach wie vor wesentlich das persönliche Netzwerk des Juristen.
[5]
Der Textkorpus Recht hat viele Vorteile gegenüber der Bibliothek und dem Aktenarchiv. Er ist medienneutral, kann problemlos Bilder und Videos integrieren und ist als Cloud-Lösung im Internet überall und jederzeit verfügbar. Des Weiteren kann er um semantische Elemente erweitert werden und ist damit offen für (Semi-)Automatisierung. Der Datenschatz kann mittels der juristischen Datenanalyse (Rechtsdatalystik) einer umfassenden exploratorischen (semi-)automatischen Analyse unterzogen werden. Der Textkorpus Recht ist damit die Basis für die gewünschte Effizienzsteigerung des Rechtssystems. Der Wissensfaktor wird «industrialisiert»4. Ermöglicht durch wesentliche Kostenvorteile in der Feststellung des geltenden Rechts.
[6]
Der Wechsel von der orts-, papier- und personengebundenen Agora zur wesentlich offenen Internet Agora bedeutet flexiblere Zeit- und Ortswahl für die juristischen Dienstleister.

2.1.

Textkorpus Recht (Multimediakorpus Recht) ^

[7]
Der erste Mehrwert der Digitalisierung war die Bereitstellung der wichtigsten Rechtstexte in einer Cloud für alle – in der Form von Rechtsinformationssystemen (wie RIS oder EUR-Lex). Heute werden diese Textkorpora immer mehr – bedingt durch die vermehrte Nutzung von Visualisierungen – zu Multimediakorpora und durch Bilder und Grafiken angereichert. Der Text ist nicht mehr nur der Rechtstext; nunmehr finden sich auch Zusammenfassungen, Pressemitteilungen, Informationen für soziale Medien, Bürgerinformationssysteme (wie HELP.gv.at) udgl. im Multimediakorpus. Sehr wesentlich ist die Ergänzung der zentralen und öffentlichen – als Open Data – verfügbaren Cloud durch eine Vielzahl von privaten Clouds, die diese ergänzen und wesentlich verbessern (Rechtsinformationsprovider, Verlage, Aktenarchive als Cloud, Forschungssammlungen usw.). Ergänzt wird dies durch Big Data: Niemals zuvor war so viel Wissen über die Welt verfügbar; dies macht die Bewertung der relevanten Sachverhaltselemente wesentlich einfacher.

2.2.

Metadaten zum Textkorpus Recht ^

[8]
Die Größe des Textkorpus Recht erfordert Metadaten, wodurch diese noch einigermaßen gut beherrschbar wird: bibliografische Daten, Klassifikationen, Thesauri, Ontologien, Verweisstrukturen, Entscheidungslisten, Ablaufdiagramme, etc. sind die klassischen Instrumente. Diese Metadaten bleiben relevant und bedeutsam, auch wenn der Nutzer wenig davon merken soll. Dem Trend zur «Google-Suche» wird bald einer zur semantischen «Google-Suche» folgen, wo diese Metadaten kontextbezogen und unbemerkt vom Nutzer zur Verbesserung des Suchergebnisses genutzt werden. Bis dahin wird es aber nach wie vor gut geschulter juristischer Rechercheure bedürfen, die durch virtuose Beherrschung von Terminologie und Metadaten sehr gute Suchergebnisse erzielen können.

2.3.

Internet als Kommunikationsplattform ^

[9]
Bis vor kurzem war die Kommunikationsplattform der Juristen streng durch die jeweiligen Kommunikations- und Handlungsformen (Gesetzesentwurf, Gesetz, Klage, Schriftsatz, Plädoyer, Urteil, Handbuch, Kommentar etc.) geprägt. Die elektronischen Medien, insbes. das Internet, haben dies wesentlich geändert.
[10]
Die wesentliche Kommunikation des Rechts an die Bürger selbst ist bereits von den Gesetzblättern und Urteilssammlungen in die Rechtsinformationssysteme «abgewandert».
[11]
Die sehr papiergebundene bzw. physische Kommunikation vor Ort wird zunehmend elektronisch durchgeführt. Elektronischer Rechtsverkehr, Austausch von Dokumenten per E-Mail oder Cloud, Online-Treffen, etc. ist nunmehr wesentlicher Teil der Kommunikationsoptionen von Juristen.
[12]
Nunmehr steht die Herausforderung an, die bisher noch stark dokumentorientierte Kommunikation auf die jeweiligen Sachverhaltselemente bzw. Argumentationen zu fokussieren. Dies bedingt neue Kommunikationstools als auch semantische Dokumente. In der AI & Recht-Forschung wurden bereits wesentliche Grundlagen geschaffen.

2.4.

Der Trend zur juristischen Agora mit mehr informellen Kooperationsformen ^

[13]
Die juristische Agora ist vielschichtig. Sie besteht aus den Kommunikationsforen des Gesetzgebers, der Gerichte, den Diskussionsforen der Wissenschaft, dem öffentlichen Dialog in Massenmedien und in sozialen Netzwerken etc.; dazu gibt es eine Vielfalt von bi- und multilateralen Dialogen. Bisher war diese Agora – aus der Sicht des Wissensmanagements – durch formale Kommunikationsformen geprägt (Gesetz, Verordnung, Urteil, Klage etc.); dies ändert sich zunehmend.
[14]
Schon aus Gründen des Rechtes ist es unmöglich, auf die formalen Kommunikationsformen zu verzichten. Wohl aber können diese problemlos durch ergänzende informelle Kooperationsformen ergänzt werden. Das Gesetz wird nicht nur mehr im Gesetzblatt publiziert, sondern es findet sich eine Zusammenfassung auf der Homepage des jeweiligen Ministeriums oder eine Anleitung zur Anwendung in einer Bürgerinformationsplattform. Auch Urteile werden heute in Form von Pressemitteilungen zusammengefasst oder sogar im sozialen Web publiziert. Auch die juristische Diskussion spielt sich nicht mehr nur in Form von Beiträgen in juristischen Fachzeitschriften ab. Blogs, Statements in sozialen Medien etc. gewinnen an Bedeutung, weil der Austausch schneller und effizienter geführt werden kann. Innovative Verlage bemühen sich schon, diese Vielfalt der Meinungen für ihre Kunden aufzubereiten.

2.5.

Partizipation ^

[15]
Rechtliche Verfahren – Gesetzgebung wie auch Rechtsanwendung – sind durch mehr Partizipation gekennzeichnet. Die Stakeholder, darunter immer mehr auch die Zivilgesellschaft, publizieren ihre Standpunkte und erwarten, dass diese in der jeweiligen autonomen Entscheidung des Parlaments, der Behörde oder des Gerichts auch berücksichtigt werden. Dieses Mehr an Akteuren, Standpunkten, Meinungen und Informationen ist nur durch moderne Wissenssysteme mit ausreichender Semantik handhabbar. Es wird komplexer, es geht ein wenig in die Nutzung des Wissens der Massen («wisdom of the crowds»).
[16]
Neben der Teilnahme in der Entscheidung selbst ist aber auch das Teilen von Texten schon lange Praxis (wie beim Mahnverfahren der E-Justiz). Mit semantischem «Mark-up» ist aber noch viel mehr machbar. In der europäischen E-Justiz werden «intelligente Formulare» forciert; dies gilt auch für E-Government. Hier liegt ein wesentliches Potential für die (Semi-)Automatisierung.

2.6.

Globalisierung, Staat und Recht ^

[17]

Das internationale Umfeld ändert sich, weil alle wesentlichen staatlichen Akteure nunmehr selbst über die Grenzen aktiv sind und – mehr oder weniger – Formen der Zusammenarbeit anstreben. Ann Marie Slaughter hat es in ihrem Buch im Jahre 2004 sehr gut ausgedrückt.5 Sinngemäß wird der Staat als Außenakteur hybrid, weil alle staatlichen Bereiche – Verwaltung, Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit – potentiell auch global agieren.6

[18]
In allen Bereichen ist die Wissenskooperation Standard. Man tauscht Informationen aus, macht wechselseitige Besuche und etabliert Kooperationsplattformen. Diese können informell oder auch formalisiert sein. Ein wesentliches Merkmal, auf das Meinrad Handstanger in seinem Beitrag7 hingewiesen hat, liegt darin, dass diese Grenzorgane nunmehr einer gewissen internationalen Konkurrenz und einem Wettbewerb ausgesetzt sind. Wer verwaltet besser, wer macht die besseren Gesetze und wer schreibt die überzeugendsten Urteile? Im kleinen aber wichtigen Teil der Vorratsdatenspeicherung wurde dies schon sehr deutlich merkbar. Internationale Organisationen, supranationale Parlamente wie nationale Parlamente versuchen, die Verhältnismäßigkeit zwischen Datenschutz und staatlichem Eingriff möglichst grundrechtskonform zu lösen. Die Höchstgerichte selbst entwickeln einen brauchbaren Prüfmaßstab. Verwaltungen wollen zeigen, was mit diesem Instrument machbar ist. Wenn dieser Prozess einigermaßen offengelegt ist, dann ist auch eine Accountability möglich. Die Stakeholder können nachprüfen, wie der jeweilige Regulierungsprovider seinen Aufgaben nachgekommen ist. Diese sachliche Prüfung ist zwar kein Ersatz für eine demokratische Willensbildung; sorgt aber dafür, dass der jeweilige Provider dem Ziel einer möglichst besten Aufgabenerfüllung bestmöglich entsprechen will.

3.

Wie wird es weitergehen? ^

[19]

Es besteht nunmehr genügend Praxis, diese Entwicklung theoretisch zu reflektieren. In diesem Tagungsband wird mit dem Beitrag zur Rechtsdatalystik des Erstautors ein erster Versuch einer diesbezüglichen Teiltheorie der Rechtsinformatik gewagt.8 Wichtig bleibt dabei, dass die Vielfalt der Methoden und der Synthese sauber durchgeführt und einen Methodensynkretismus vermieden wird. Die Synthese, bei welcher die Meinungen der Autoritäten – Gesetzgeber, Gericht, Autor, Praktiker etc. – systematisch analysiert und zusammengeführt werden, wird offener. Es wird dargelegt, aus welchen Gründen es zu einer bestimmten Entscheidung gekommen ist bzw. kommen wird. Die Vorteile der vollständigen Repräsentation des Rechtswissens und der Methodik der Nutzung bedeuten ein rationaleres Rechtssystem mit hoher Transparenz, was gerade unter dem Gesichtspunkt der Praxis nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Damit wird garantiert, dass das Recht auch in der Wissens und Netzwerkgesellschaft eine wesentliche Funktion der Friedensstiftung und Friedenswahrung einnimmt und die Funktion der Streitschlichtung effizient wahrnehmen kann.


 

Erich Schweighofer, Ao. Universitätsprofessor, Universität Wien, Arbeitsgruppe Rechtsinformatik (DEICL/AVR), Schottenbastei 10-16/2/5, 1010 Wien, AT, Erich.Schweighofer@univie.ac.at; http://rechtsinformatik.univie.ac.at

 

Friedrich Lachmayer, Universitätsprofessor und Ministerialrat i.R., Universität Innsbruck, Tigergasse 12/12, 1080 Wien, AT, Friedrich.Lachmayer@uibk.ac.at; http://www.legalvisualization.com

  1. 1 Wikipedia DE, Kooperation, http://de.wikipedia.org/wiki/Kooperation (zuletzt abgefragt: 15. Februar 2015).
  2. 2 Vgl. zu den rechtstheoretischen Aspekten Kreuzbauer, Hanna Maria, Kooperation und Systemarchetypen, in diesem Tagungsband (2015).
  3. 3 Vgl. Schweighofer, Erich, Von der Wissensrepräsentation zum Wissensmanagement im e-Government. In: Schweighofer, Erich et al. (Hrsg.), IT in Recht und Staat, Aktuelle Fragen der Rechtsinformatik 2002, Verlag Österreich, S. 85–94 (2002).
  4. 4 Vgl. Steinmüller, Wilhelm, Informationstechnologie und Gesellschaft, Einführung in die Angewandte Informatik, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (1993).
  5. 5 Slaughter, Ann Marie, A New World Order. Princeton University Press (2004).
  6. 6 Schweighofer, Erich, Praktische Voraussetzungen für das Internet als Instrument der Demokratie. In: MIND, #5: Internet und Demokratie, Juni 2013, 42–43 (2013).
  7. 7 Handstanger, Meinrad, Rechtssätze als kooperative Textsorte. In diesem Tagungsband (2015).
  8. 8 Schweighofer, Erich, Rechtsdatalystik – Versuch einer Teiltheorie der Rechtsinformatik. In diesem Tagungsband (2015).