Am 16. März 2014 vollendete Lothar Philipps, Professor für Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Strafrecht an der Ludwig Maximilians-Universität München sein 80. Lebensjahr. In diesem Kontext entstand ein Rückblick, den Marie-Theres Tinnefeld in Abstimmung mit dem Jubilar geschrieben hat. Am 24. November ist Lothar Philipps überraschend gestorben. Seine Vita hat die Autorin um einige Daten ergänzt, die ihr der Sohn des Verstorbenen zur Verfügung gestellt hat.
Lothar Philipps wurde am 16. März 1934 in Osnabrück geboren. Sein Vater Wilhelm Philipps besaß ein kleines Tabakwarengeschäft, das er zusammen mit seiner Ehefrau Frida betrieb. Nach der Zerstörung des Geschäfts führten die Eltern seit Kriegsende einen Verkaufsstand (Würstchen, Bier usw.) auf einem Bahnsteig des Osnabrücker Hauptbahnhofs.
Lothar Philipps besuchte das Osnabrücker Ratsgymnasium. Nach dem Abitur 1955 begann er das Studium der Rechtswissenschaften zunächst in Münster, dann in Würzburg und schließlich in Saarbrücken, wo er 1959 sein erstes Staatsexamen ablegte. Das zweite Staatsexamen erfolgte 1966 während einer Assistenzzeit an der Universität Saarbrücken. In diese Zeit fiel auch die Heirat mit der Juristin Dr. Ina Wulkow im Jahre 1963. Aus dieser Ehe gingen die Kinder Andrea und Jan hervor. Bis zu ihrem Tod 2013 hat die engagierte Rechtsanwältin Ina Philipps ihren Mann mit Verständnis begleitet und den zahlreichen Freunden aus dem In- und Ausland ihr gastfreundliches Haus geöffnet.
Mit einer Dissertation zu dem Thema «Die Ontologie der sozialen Rolle» wurde Philipps 1963 von dem Rechtsphilosophen Werner Maihofer in Saarbrücken promoviert. Ausgangspunkt der Arbeit waren Ausdrücke wie der «ordentliche Kaufmann», die in Rechtstexten, aber auch im alltäglichen Sprachgebrauch eine große Rolle spielen. Solche Ausdrücke sind wertbehaftet, aber wertende Attribute wie «ordentlich» oder «gut» können nicht die Stellung und Funktion eines Prädikats einnehmen. «Der Kaufmann ist ordentlich» will etwas anderes besagen. Philipps These war, dass durch den Ausdruck «ordentlicher Kaufmann» ein Seiendes im Sinne von Martin Heidegger bezeichnet werde, durch das analytische Denken in dem im Ausdruck enthaltenen Wort das Sein dieses Seienden.
Später hat der analytische Philosoph Bernard Williams ebenfalls auf dieses sprachliche Phänomen hingewiesen, wenn auch ohne Bezug auf die Unterscheidungen Heideggers.
Nach dem Assesorexamen erhielt Philipps für drei Jahre ein Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Habilitation erfolgte am 3. Mai 1971 an der Universität Saarbrücken bei Werner Maihofer. Das Thema der Arbeit lautete «Der Handlungsspielraum». Philipps ging es darum, das bekannte Wort von Karl Popper, dass Naturgesetze den Charakter von «Verboten» Metapher zurückzuführen. «Gebote» hätten, auf Rechtsgesetze, den Ursprung der Popperschen hätten dagegen den Charakter von «Existenzsätzen» im Sinne Poppers. Eine Konsequenz der Unterscheidung ist, dass Verbote nicht auf eine Orts- und Zeitbestimmung angewiesen sind, Gebote dagegen wohl. In gleicher Weise unterscheidet Popper zwischen den Allsätzen und den Existenzsätzen. Ein Allsatz ist beispielsweise «Alle Raben sind schwarz», ein Existenzsatz ist «Es gibt ein rehartiges Tier, das ein einzelnes Horn auf dem Kopf trägt». Wenn man nicht angeben kann, wo man ein solches Tier findet, dann bleibt diese These «metaphysisch».
Aufgrund seiner Habilitation erhielt Philipps die Lehrbefugnis für die Fächer Strafrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie. In seiner Lehrtätigkeit entwickelte Philipps ein besonderes didaktisches Engagement. Er legte den Studenten Multiple Choice Aufgaben vor, die durch den Universitätscomputer ausgewertet wurden. Die Aufgaben hatten die Besonderheit, dass die «Distraktoren» neben der zu suchenden Lösung standen und weniger der psychologischen Ablenkung dienen sollten. Die Alternativen sollten das juristische Entscheidungsproblem widerspiegeln wie es sich vom Rechtsproblem her auffächert.
Ein besonderes Stück eigener Geschichte ereignete sich für Philipps im Jahre 1964 an der Universität Saarbrücken. Er hatte einen Aufsatz geschrieben, in dem er vorschlug, für die Jurisprudenz nicht die übliche klassische, sondern die «intuitionistische» Logik zu verwenden. In dieser Logik gibt es weder den Satz vom ausgeschlossenen Dritten noch den von der doppelten Negation. Der Gedanke ist einfach: Aus einem Satz x kann man nicht nicht-x herleiten. Das wäre ein Widerspruch. Diesen kann man beseitigen, indem man eine zweite Negation einführt: nicht nicht-x. Dadurch wird der Widerspruch beseitigt, aber daraus folgt nicht wiederum x. Das wäre eine ontologische Fiktion, die in Naturwissenschaft und Technik sinnvoll ist, aber nicht notwendigerweise in den Geisteswissenschaften, speziell in der Rechtswissenschaft. Diese Logik war damals außerhalb der Mathematik so gut wie unbekannt. Das hatte zur Folge, dass Philipps von Kollegen energisch aufgefordert wurde, den Aufsatz als fehlerhaft zurückzuziehen. In dieser schwierigen Situation war es Arthur Kaufmann, der ihm zur Seite stand und seine wissenschaftliche Existenz gerettet hat. Inzwischen spielt die intuitionistische Logik eine wesentliche Rolle in der Informatik, und es gibt auch Rechtsphilosophen, die sie für richtig und angebracht halten.
Im Jahre 1977 folgte Philipps dem Ruf auf eine Professur an die Ludwigs-Maximilians-Universität in München, wo er bis 2000 Strafrecht und Rechtsphilosophie lehrte. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Arbeiten über Rechtslogik aus verschiedenen Perspektiven. Erwähnt seien hier seine Aufsätze über Anwendungen von neuronalen Netzen und fuzzy logic im Recht. In juristischen neuronalen Netzen werden Tatbestände mit Rechtsfolgen verbunden. Der Computer lernt diese Verknüpfung, und zwar so, dass er auch Analogien bilden und Lücken ausfüllen kann, was sich aus der Logik als solcher keineswegs ergibt.
In den meisten rechtslogischen Arbeiten von Philipps spielt der Begriff der Symmetrie eine zentrale Rolle, und zwar so, dass gerade Belastungen und Brüche in der Symmetrie besondere Beachtung finden. Von daher erklärt sich Philipps Interesse an Kriminalromanen und Thrillern, wo es auch darum geht, für Belastungen gerechter Beziehungen eine Lösung zu finden. Von Interesse ist besonders der Aufsatz über strafrechtsdogmatische Motive in der Ästhetik des Kriminalromans sowie über vom Publikum akzeptierte Fälle der Selbstjustiz.
Lothar Philipps interessierte sich besonders für ostasiatische Kulturen. Er hatte außer in den USA (University of South Carolina) Gastprofessuren in Japan (Kansai University, Osaka; Chuo University Tokyo) sowie in Taiwan (Taichung University Tunghai). Er war zudem ein häufiger Gast in der Meiji Gakuin University in Tokyo. In diesen und anderen Universitäten war er als begehrter Moderator tätig. Zu seinen herausragenden Eigenschaften gehört es, verschiedene Gesprächsfäden im jeweiligen kulturellen Ambiente etwa in Warschau und Budapest ausgewogen zu moderieren. Diese Fähigkeit bewährte sich auch in der Leitung des international bekannten «Donnerstagseminar» (Dosem), die er zusammen mit seinen Kollegen Heinrich Scholler und Bernd Schünemann von Arthur Kaufmann übernommen hatte. In diesem Seminar war bis zu seinem Tod am 24. November 2014 präsent.
Marie-Theres Tinnefeld, Professorin für Datenschutz und Wirtschaftsrecht, Hochschule München, Publizistin, tinnefeld@cs.hm.edu