1.
Einleitende Erläuterung ^
Boris Furlan stellte einmal fest: «Ethik ist potenzielles Recht – Recht ist aktuelle Ethik».1 Diesen Gedanken darf man nicht wörtlich verstehen. Wenn man so handelte, würde das bedeuten, dass Recht und Moral innerhalb des Bereichs, wo sie überlappen, identische Eigenschaften haben. Der Gedanke von Moral als möglichem und künftigem Recht und von Recht als gegenwärtiger Moral ist ein Sinnbild, das nicht verdecken darf, dass zwischen Recht und Moral bedeutende Unterschiede bestehen. Der grundlegende Unterschied liegt, wenn man Kant folgt, jedenfalls darin, dass sich das Recht auf das äußere Tun und Verhalten des Menschen bezieht (die sog. äußere Gesetzgebung), während die Moral verinnerlicht ist und auf der sittlichen Autonomie des Menschen beruht.2
Kant hebt ausdrücklich hervor, dass man sich eine äußere Gesetzgebung denken kann, die nur positive Gesetze enthalten würde, «alsdann aber müsste doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Antwort des Gesetzgebers (d.i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete».3
2.
Die Frage des Rechtspositivismus ^
Dadurch, dass positives Recht sittliche Grundlagen haben soll, um sich zu behaupten und langfristig wirkungsvoll zu sein, wird Rechtspositivismus nicht ausgeschlossen. Dieser trennt zwar Recht von Moral (die sog. Trennungsthese), doch nicht, weil er sich nicht bewusst wäre, dass Recht moralische Grundlagen haben muss, sondern einfach deshalb, weil der Gegenstand seiner Untersuchung lediglich positives Recht ist. Reiner Rechtspositivismus versucht «die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll».4
3.
Grundrechte als modernes Naturrecht ^
4.
Grundrechte als Rechtsprinzipien ^
Über Rechtsprinzipien sagt man, dass sie «Wertmaßstäbe sind, die die inhaltlichen Definitionen der Rechtsnormen, deren Verständnis und die Art deren Durchführung lenken».7 In fast allen Grundrechten sind Prinzipien eingebaut, die das Ziel, das Gewicht und die Reichweite einzelner Grundrechte bezeichnen. Das Ziel eines Grundrechts (z.B. des Rechts auf soziale Sicherheit) bestimmt die Richtung, in die dessen verfassungsmäßige und gesetzliche Regelung gehen soll. Wenn die Ausrichtung zum Ziel unter das noch erträgliche Minimum abgleiten sollte, ist der Inhalt des Rechts bereits verfassungsunvereinbar.
5.
Die Bedeutung der menschlichen Freiheit ^
Die rechtlich geschützten Grundrechte sind, wenn ich es kurz wiederhole, der nötige normative Rahmen, den der Mensch als ein freies Wesen braucht. Die Freiheit ist die grundlegende existenzielle Voraussetzung und der Zustand, der dem Menschen ermöglicht, Entscheidungen zu treffen. Neben der Freiheit des Menschen steht die Freiheit des Anderen, die man achten und mit ihr in einem Miteinander leben soll. Wenn dieses Miteinander gar nicht oder nur in einem wesentlich verengten Spielraum gegeben ist, verengt sich auch der Entscheidungsspielraum. Darüber spricht schon Kant auf eine sehr überzeugende Weise: «Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann».9
In einem Rechtsstaat muss derjenige, der Rechtsentscheidungen trifft, immer so handeln, als ob er eine unbestimmte Anzahl von gleichartigen Fällen vor sich hätte.10 Ein wesentliches Merkmal solcher Entscheidungsfindung ist es, dass der Entscheider (z.B. der Richter) den Standpunkt in einer konkreten Sache verallgemeinert und dass der so gebildete Standpunkt auch für neue Fälle gilt, die im Wesentlichen mit dem (den) bereits entschiedenen übereinstimmen. Vom angenommenen Standpunkt kann man ablassen, wenn man für die Änderung der Rechtspraxis neue und überzeugende (bessere) Gründe hat. Sie müssen in der Begründung der Rechtsentscheidung ausdrücklich und kohärent angeführt werden.
6.
Verallgemeinerung als Transformation ^
7.
Moralische Aufladung des Rechts ^
8.
Lege artis handeln ^
9.
Moralische Kritik des Rechts ^
Alles andere als unwichtig ist auch die moralische Kritik des Rechts, die immer dann notwendig ist, wenn positives Recht und seine Lösungen mit den allgemein akzeptierten Moralwerten, moralischer Toleranz und moralischer Freiheit, die auch von Recht geschützt werden soll, nicht in Einklang stehen. Die moralische Kritik des Rechts ist für die Machthaber oft unangenehm, sie kann jedoch nicht vermieden werden, wenn man der Natur, der Gesellschaft und den künftigen Geschlechtern gegenüber verantwortungsvoll handeln möchte. Ein Jurist, der für all das kein Interesse hat und sich am Buchstaben des Gesetzes festklammert, wirkt verknöchert und trägt nichts zum Leben bei, für das das Recht bestimmt ist. Der Rechtsgedanke soll, wie Smoles Antigone sagen würde, immer auch seinen Sinn haben.15
10.
Conclusio ^
Marijan Pavčnik, Pravna fakulteta (Juristische Fakultät), Poljanski nasip 2, 1000 Ljubljana, SI, Marijan.Pavcnik@pf.uni-lj.si
Friedrich Lachmayer, Universitätsprofessor und Ministerialrat i.R., Universität Innsbruck, Tigergasse 12/12, 1080 Wien, AT, Friedrich.Lachmayer@uibk.ac.at; http://www.legalvisualization.com
- 1 Boris Furlan: Pravo in etika (Recht und Ethik), in: Pravni vestnik, 1 (1921) 3–4, S. 22.
- 2 Siehe Immanuel Kant: Die Methaphysik der Sitten. Reclam, Stuttgart 1990, S. 53 [219].
- 3 Ibidem, S. 60 [224].
- 4 Hans Kelsen: Reine Rechtslehre. 1. Aufl. (1934). Nachdruck: Scientia Verlag, Aalen 1994, S. 1.
- 5 Gustav Radbruch: Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945), in: Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie. Studienausgabe. Hrsg. von Ralf Dreier und Stanley L. Paulson. Heidelberg 1999, S. 210.
- 6 Siehe Winfried Hassemer: Naturrecht im Verfassungsrecht, in: A. Donatsch, M. Forster und Ch. Schwarzenegger (Hrsg.): Strafrecht, Strafprozessrecht und Menschenrechte. Festschrift für Stefan Trechsel zum 65. Geburtstag. Schulthess Verlag. Zürich 2002, S. 135–150.
- 7 Marijan Pavčnik: Argumentacija v pravu (Argumentation im Recht). 3. Aufl. Ljubljana 2013, S. 130.
- 8 Darüber siehe Lothar Philipps: Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen (2005), in: Lothar Philipps: Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen. Bern 2012, S. 108.
- 9 Kant (Fn. 4), S. 66–67 [230].
- 10 Siehe Art. 3/3 des slowenischen Gerichtsgesetzes: «Der Richter handelt immer so, als ob er eine unbestimmte Anzahl von gleichartigen Fällen vor sich hätte».
- 11 Über die Transformationen im Recht siehe z.B. Aleksander Peczenik: Grundlagen der juristischen Argumentation. Wien, New York 1983, S. 5 ff., S. 55 ff., und Stephan Kirste: Recht als Transformation, in: Wienfrid Brugger, Ulfrid Neumann und Stephan Kirste (Hrsg.): Rechtsphilodophie im 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2008, S. 134−156.
- 12 Siehe Nikola Visković: Pojam prava (Begriff des Rechts). 2. Aufl. Split 1981, S. 135. Siehe auch Marijan Pavčnik: Teorija prava (Theorie des Rechts). 4. Aufl. Ljubljana 2011, S. 452 ff.
- 13 Vgl. mit Maßstäben, die als Elemente der inneren Moralität von Lon L. Fuller behandelt werden: The Morality of Law. Revised edition. New Haven, London 1972, S. 33 ff.
- 14 Siehe z.B. Peter Noll: Gesetzgebungslehre. Reinbeck bei Hamburg 1973; Theo Öhlinger (Hrsg.): Methodik der Gesetzgebung. Wien, New York 1982 und Albin Igličar: The Outline of Sociology of Law. Saarbrücken 2013, S. 107 ff., S. 118 ff.
- 15 Dominik Smole: Zbrano delo (Gesammelte Werke). II (Dramski spisi I, Antigona). Ljubljana 2009, S. 14, Vers 118: «… beharrlich sucht sie den Sinn eines Gedankens».