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Von der Konkordanz der Gegensätze zu transdialektischen Modellen des globalen Überlebens

  • Authors: Marie-Theres Tinnefeld / Friedrich Lachmayer
  • Category: Articles
  • Region: Germany, Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2015
  • Citation: Marie-Theres Tinnefeld / Friedrich Lachmayer, Von der Konkordanz der Gegensätze zu transdialektischen Modellen des globalen Überlebens, in: Jusletter IT 26 February 2015
Die von Nikolaus Cusanus angedachte Konkordanz der Gegensätze gehört zu den interessantesten Ansätzen in der Philosophie des Mittelalters und wirkte sich nachhaltig auch auf den Toleranzgedanken der Aufklärung in der Philosophie der Neuzeit aus, bis hin zur Philosophie des Überlebens von Ilmar Tammelo. Im Zeitalter des endgültigen Zusammenbruchs des Römischen Reiches lebte der Gedanke der Dialektik erneut wieder auf, zunächst in der Hegelschen Version aber dann mit einer unerwarteten Breitenwirkung in der Marxistischen Version. Hatte man die Welt bis dahin dialektisch interpretiert, so ging es in der Folge darum, sie dialektisch zu verändern. In der globale Situation mit ihren multidimensionalen existentiellen Herausforderungen vermag jedoch die Dialektik allein, und sei es auch eine Megadialektik, keineswegs mehr die anstehenden Probleme angemessen zu lösen, sodass sich die Frage nach transdialektischen Modellen stellt.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Konkordanz der Gegensätze
  • 2. Globales Überleben
  • 3. Transdialektische Modelle

1.

Konkordanz der Gegensätze ^

[1]
Die digitale Beschleunigung in der Welt des 21. Jahrhunderts löst nicht nur periodische Zeiten, den täglichen Pulsschlag von Wachen und Schlafen und die sieben Tage Woche auf, von dem das kulturelle Leben Jahrtausende lang geprägt war.1 Das Werk von Franz Kafka vermittelt die Folgen fehlender Privatheit und Ruhe, einhergehend mit erzwungener Aufmerksamkeit und Unsicherheit. Die globale Kette digitaler Prozesse wird häufig auch von Informationen gesteuert, die nicht mehr in das dazugehörige Wissen eingebettet sind. Daran kann auch kein «allmächtiger» Google-Suchalgorithmus etwas ändern. Das Gegenteil ist oft der Fall.
[2]
Unser Denkapparat ändert sich durch die Mensch-Maschine-Aktionen und die tsunamiartigen Informationsflüsse. Sie machen es möglich, dass «Menschen Informationen fressen, die wiederum die Aufmerksamkeit der Menschen fressen». Solche von (kontextlosen) Informationen überladenen Menschen «verlernen das Fliegen und damit auch die Fähigkeit, aus der Vogelperspektive den Überblick zu behalten».2 Wenn der Kopf nicht mehr mitkommt, liegt es nahe, dass bei den Betroffenen gleichsam eine Art Wissensfrust und eine Ferne im Miteinander entstehen. Damit stellt sich eine magna questio: Kann dieser soziale Knoten noch rechtlich, ethisch, mit eigener Verantwortung gelöst werden?
[3]
Zu allen Zeiten gab es Allmachtsbestrebungen im Staat und in der Gesellschaft, Wissen zu unterdrücken, Menschen zu manipulieren und nach bestimmten «Suchkriterien» etwa als Juden, Roma, Christen, Hussiten oder Muslims zu diskriminieren, zu foltern oder zu morden. Aber es gab immer auch gegenläufige Prozesse, in den eine gewaltige Wissensarbeit geleistet wurde. Eine ungewöhnliche Art und Weise der Erkenntnisfindung finden wir in der Arbeit des Nikolaus von Kues (Cusanus), der unter dem Aspekt der «gelehrten Unwissenheit» zunächst ohne und später im Zusammenhang mit dem Koinzidenzprinzip neue Wege zum Wissen und zum Gedanken der Toleranz erschloss.
[4]
Cusanus war der Sohn eines Moselschiffers. Er wirkte als Philosoph, Kardinal, Kirchenpolitiker, Stellvertreter des Papstes und Kirchenrechtler an der Schwelle vom Mittelalter zur frühen Neuzeit (1401–1464). Er begriff Philosophie als das Begreifen des Unbegreiflichen. Diese Formel nahm er schon im Titel seiner ersten Schrift auf, deren Thema «das wissende Nichtwissen», die docta ignorantia ist. Sie hat zum Ziel, das Absolute über alle Gegensätze hinaus «auf nicht-begreifende Weise einzusehen».3 Man sollte das Absolute jenseits aller Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit suchen.
[5]
In der Deutung des parmenideischen Einen und Vielen erkannte der Cusaner die Koinzidenz vom Widersprechendem im Einen. Er zeigte, dass Menschen oder andere Wesenheiten wie Tiere in ihrer Verschiedenheit etwas voraussetzen, was nicht mehr verschieden ist. In allen Wesenheiten zeige sich dasselbe einheitliche Wesen (das Absolute, Gott), aber es wird dadurch nicht begreifbar. Cusanus verdeutlichte seinen Gedanken in einer Lichtpyramide und zeigte, dass das reine Licht alles Sichtbare gleichsam durchleuchtet, selbst aber unsichtbarer Grund für die Vielfalt der Erscheinungen bleibt.4 Die Koinzidenz der Gegensätze sei daher keine Aussage über sie selbst, sondern über das Absolute, dem die Gegensätze zukommen.5
[6]
Es waren auch diese Einsichten, die den Cusaner schon vor der Epoche der Aufklärung zu Fragen der Toleranz und der Kooperation mit anderen Religionen führten. Das Diktum von der «Nichtzwingbarkeit des Gewissens» gewann in seinem weitreichenden Einflussbereich von Rom bis Konstantinopel Bedeutung. Als Vertreter seiner Zeit hatte er ein ambivalentes Verhältnis zu Juden, deren Glaubensausübung er zwar duldete, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen.6 Im Übrigen strebte er eher pragmatisch einen «Frieden im Glauben» an, ohne sich allerdings mit den Glaubensinhalten der anderen Religionen näher zu befassen.7 Toleranz ist nach Cusanus jenseits aller Unterschiede im Sinne einer friedlichen Koexistenz namentlich gegenüber dem Islam anzuwenden. Die «Macht der Wahrheit» werde sich über die concordantia in zentralen Glaubensfragen von selbst durchsetzen.8
[7]
Ist religiöser Glauben und Politik in weltanschaulich neutralen Staaten des 21. Jahrhunderts trennbar? Die zunehmende Formen politisierter Religion haben durch die dänischen und französischen Mohammed-Karikaturen und durch die Ermordung der Charlie Hebdo-Karikaturisten am 7. Januar 2015 in westlichen Staaten zum Thema politischer Diskurse und Entscheidungsprozesse, zum Thema «free speech» (Grundrecht auf Meinungsfreiheit) und zu Fragen der Respekttoleranz zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen geführt, insbesondere der drei monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam).9 Hier sei auf Cusanus verwiesen, der den Weg zu Toleranz und Koexistenz beschritten hat. Es sind auch seine Gedanken, die den Weg zu «Gerechtigkeit und Frieden» bis heute prägen.10 Die Suche danach ist in einer digitalen Welt, in der eine Flut von Informationen zu fehlender Aufmerksamkeit, zu fehlendem Wissen und zu einer Herrschaft von Algorithmen führt, für die Niemand verantwortlich zeichnet, gefährdet. Die neue Architektur verändert das Individuum und das Kollektiv so, dass sie möglicherweise die Kunst des Überlebens verlernen.

2.

Globales Überleben ^

[8]
In der Gedankenlinie von Cusanus befindet sich auch die Philosophie des Überlebens des Salzburger Rechtsphilosophen Ilmar Tammelo. Sie zeigt Perspektiven auf, die es wert sind, in das globale Denken mit hineingenommen zu werden. In diesem 1975 bei Karl Alber in Freiburg erschienen Buch machte Tammelo das Tabu der Zukunft in seiner ganzen Breite bewusst, aus Sorge um die Zukunft der Menschen, aber in der Haltung der Gelassenheit, die ein freies Sprechen erst möglich macht.
[9]
Ilmar Tammelo wendete sich zunächst der Gerechtigkeit zu. Der politische Idealismus, der die Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts inspirierte, für die Freiheit zu kämpfen, wirkte in der zweiten Hälfte seiner Meinung nach bereits hohl, Rebellionen breiteten sich aus. Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, wird der politische Idealismus durch Angst und Hass insbesondere im Umfeld von Religionen verstärkt, die Intensität der negativen Energien nimmt zu. Ilmar Tammelo war ein Mann der Rationalität, der Analyse, der Argumente. Die Methode seines Denkens gilt heute noch ungebrochen, auch wenn das Reden von Recht und Gerechtigkeit oft dazu dient, die vielen Ungerechtigkeiten zu verdecken, durch Aufmerksamkeitsmanagement zu überlagern, in der Repräsentation von Welt weg zu retuschieren.
[10]
Das zweite Thema des Buches ist die Kommunikation. Seit den Zeiten von Ilmar Tammelo hat sich da viel getan. Die digitalisierte beschleunigte Kommunikation unterscheidet sich erheblich von der kommunikativen Welt von damals. Das Internet hat in der Zwischenzeit ein globales, aktives wie passives Auditorium, geschaffen, das im Bewusstsein der Menschen so wirkt, als wäre es immer schon gewesen. Damals war die beginnende globale Kommunikation ein Thema der Theorie, heute ist sie globale Realität geworden, die auch das Innere der Menschen erfasst hat und den Zeitrhythmus des Menschen und seine Aufnahmefähigkeit durch die weltweite Beschleunigung gefährdet. Hat das in der Evolution ersehnte telepathische Wir der Menschen nunmehr seinen Raum gefunden? Doch die Philosophie des Überlebens ist nach wie vor ein Teil des teleologischen Rahmens, weil das Prinzip Hoffnung zur conditio humana mit dazu gehört.11
[11]
Der dritte Teil der Philosophie des Überlebens befasst sich mit der Naturrechtslehre von René Marcic, eines österreichischen Denkers, um den es heute still geworden ist, das Naturrecht ist nicht mehr modern. Doch die natürlichen Grenzen der menschlichen Entfaltung bestehen nach wie vor. Die poena naturalis, wie die Rationalisten dies bezeichneten, ist immer noch wach. Es gibt natürliche Grenzen des Wachstums, es gibt kulturelle Grenzen für die Machbarkeit, es gibt seit den Tagen der Antike und der Vorantike die Grenze des menschlichen Frevels, die zu überschreiten nicht nur den Frevler erfasst sondern auch andere mit hineinreißt, und darum auch ein allgemeines Thema ist.

3.

Transdialektische Modelle ^

[12]
Die von Cusanus angedachte Konkordanz der Gegensätze gehört zu den interessantesten Ansätzen in der Philosophie des ausgehenden Mittelalters. Sie wirkt in Verbindung mit der Aufklärung nachhaltig auf den Toleranzgedanken in der Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart.
[13]
Im Zeitalter des endgültigen Zusammenbruchs des Römischen Reiches, seiner  mittelalterlichen Strukturen antiker Herkunft, lebte der Gedanke der Dialektik wieder auf, zunächst in der Hegelschen Version aber dann mit einer unerwarteten Breitenwirkung in der Marxistischen Version. Hatte man die Welt bis dahin dialektisch interpretiert, so ging es in der Folge darum, sie dialektisch zu verändern.
[14]
In der globalen Situation mit ihren multidimensionalen existentiellen Herausforderungen vermag jedoch die Dialektik allein, und sei es auch eine Megadialektik, keineswegs mehr Probleme angemessen zu lösen, sodass sich die Frage nach transdialektischen Modellen stellt. Cusanus ist zwar im Hinblick auf die marxsche Dialektik der Frühere, doch methodisch gesehen der spätere, weil er über sie weit hinaus geht. Er bietet letztlich ein transdialektisches Modell an: In der Einheit der Gegensätze heben sich die Gegensätze und ihre Dialektik auf.
[15]
Zunächst ist die Dialektik ein deskriptives Modell, welches den Wandel der Veränderungen beschreibt. Welcher Veränderungen? Wohl des Seins, doch hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass es oftmals der Wandel des kollektiv verbindlichen Scheins war, der sich dialektisch beschreiben lässt. Es gibt somit zwei Dialektiken: eine des Seins und eine des Scheins.
[16]
Die Dialektik ist aber nicht nur ein deskriptives Modell, sondern auch ein normatives, eine Handlungsrezeptur, nämlich das Sein wie den Schein dialektisch zu gestalten, indem die Gegensätze herausgearbeitet, verstärkt und instrumentell eingesetzt werden.
[17]
Für den Schein gibt es seit Jahrtausenden eine Bühne, nämlich die Platonische Schattenbühne. Die Schatten an der Wand sind Projektate, so wie die Filme für die Zuseher gemacht, um diese zu emotionalisieren, um diese an einem Ersatzleben teilhaftig werden zu lassen. Doch die Dialektik des Films ist nicht die Dialektik der Schauspieler selbst, die ganz andere Motive haben werden. Das Backoffice kann anders strukturiert sein als das Frontoffice.
[18]
Doch diese Verschiedenheit von vorbeiziehender Karawane und den Schatten an der Platonischen Höhlenwand, die erst im medialen Zeitalter so richtig möglich gemacht wurde, bringt auch Probleme mit sich. Wenn die Dialektik lediglich eine solche der Höhlenwand wird und für die Karawane der Geschichte hingegen linear vertikale Machtkonzepte maßgeblich werden, so kommt es zu einem Verlust an Dialektik und damit auch zu einem Verlust von Elastizität und Beweglichkeit, was sich auf das Gesamtsystem auswirkt.
[19]
Der Verlust der Backoffice-Dialektik und die Substitution durch ein vertikales System, das aber linear repressiv konzipiert ist, geht Hand in Hand mit einer Dramatisierung der Frontoffice-Dialektik, die aber nicht kreativ ist, weil sie nicht auf der entscheidenden Bühne stattfindet. Ob die Aufhebung der geschichtsmächtigen Gegensätze, die als kollektiv-egoistische Aggressionen ineinander verflochten sind, wie die Geweihe rivalisierender Hirsche, noch gelöst werden können, ist eine offene Frage.
[20]
Was hat die Rechtsinformatik damit zu tun? Sehr viel sogar:
[21]
Die Rechtsinformatik ist Teil der beginnenden und zur Vollendung drängenden Maschinenkultur, welche die Menschen in weiten Bereichen «ersetzt», so wie seit der Vorantike die Tiere die Menschen substituiert haben. Verzichten Menschen auf ihr Recht und lassen sich von Algorithmen einordnen, dann wird das System vordergründig gleicher weil abstrakter, doch ob gerechter? Eher ungerecht, weil konkret diskriminierend.12 Womit wir wieder bei der Gerechtigkeit, bei dem ersten Thema der Philosophie des Überlebens von Ilmar Tammelo wären, in dessen früheren Institutsräumen alljährlich die Plenarsitzungen von IRIS stattfinden.

 

Marie-Theres Tinnefeld, Professorin für Datenschutz und Wirtschaftsrecht, Hochschule München, tinnefeld@hm.edu

 

Friedrich Lachmayer, Universitätsprofessor und Ministerialrat i.R., Universität Innsbruck, Tigergasse 12/12, 1080 Wien, AT, Friedrich.Lachmayer@uibk.ac.at; http://www.legalvisualization.com

  1. 1 Crary, 24/7. Schlaflos im Spätkptialismus, Aus dem Englischen von Thomas Laugstien, 2014, S. 21 f.
  2. 2 Schirrmacher, Payback, (Pantheon) 2. Auflage 2011, S. 56 f.
  3. 3 Nikolaus de Cusa, De docta ignorantia, hg. Von E. Hoffmann et R. Klibansky (Open Omnia 1) Hamburg 1932, I cap. 4; cap. 5, 13, 3.
  4. 4 Nikolaus de Cusa, De apice theoriae (nt. 6) 8, 1–3.
  5. 5 Cusanus-Texte. IV. Briefwechsel des Nikolaus von Kues. Dritte Sammlung: Das Vermächtnis des Nikolaus von Kues. Der Brief an Nikolaus Albergati nebst der Predigt in Montoliveto (1463), hrg. Und erläutert v. Gerda von Bredow, vorgelegt v. Hans-Georg Gadamer, Heidelberg 1955, S. 83
  6. 6 Forst, Toleranz im Konflikt, Frankfurt a. Main 2003, S. 88.
  7. 7 Im Einzelnen vgl. Forst, ebd., S. 106, 130.
  8. 8 Ebd., S. 146, 168 m.w.N.
  9. 9 Tinnefeld, Menschenrechte im Zeichen wechselseitiger Toleranz und Kooperation, DuD Heft 3 2015, Im Erscheinen.
  10. 10 Vgl. Kaufmann, Gerechtigkeit – Der vergessene Weg zum Frieden, München/Zürich 1986.
  11. 11 Vgl. auch Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (zuerst 1979), Ausgabe Frankfurt/Main 1984.
  12. 12 Dazu Tinnefeld, Menschenrechte vs. Adiaphorisierungstendenzen im Überwachungsbereich, PinG 2015, S. 24, 27.