Jusletter IT

Wahlkarten und Urnenwahl – Statistische Methoden zur Untersuchung von Manipulationsverdacht

  • Author: Erich Neuwirth
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: E-Democracy
  • Citation: Erich Neuwirth, Wahlkarten und Urnenwahl – Statistische Methoden zur Untersuchung von Manipulationsverdacht, in: Jusletter IT 22 September 2016
The Austrian Constitutional Court anulled the second ballot of the election of the federal President because of the possibility of election results’ manipulation in district electoral authorities caused by violation of legal provisions. A statistical comparison of ballot box and postal vote results in the disputed as well as remaining districts shows that there are no systematic differences. From a statistical point of view, manipulations can be excluded de facto. (ah)

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Vergleich Anteile an gültigen Stimmen Urnenwahl – Briefwahl
  • 3. Szenario – Stimmverschiebung von Van der Bellen zu Hofer
  • 4. Differenzen von Briefwahlanteilen und Urnenwahlanteilen
  • 5. NRW 2008 + 2013 und EUW 2009 + 2014 Anteile bei Urnenwahl und Wahlkarten
  • 6. NRW 2013 – EUW 2014 – Differenz Anteile bei Urnenwahl und Wahlkarten
  • 7. Wie allgemeinverständlich sind statistische Grafiken?

1.

Einleitung ^

[1]

Der Verfassungsgerichtshof hat das schriftliche Erkenntnis zur Aufhebung des 2. Wahlgangs der Bundespräsidentenwahl veröffentlicht. Im Zuge der Aufhebung gab und gibt es Diskussionen über mögliche und plausible Unterschiede der Ergebnisse einzelner Kandidaten bei den Urnenwahlstimmen und bei den Briefwahlstimmen. Der Verfassungsgerichtshof sieht grobe Verletzungen der Regelungen zur Zählung der Wahlkarten in 11 Bezirken.

[2]

Es handelt sich um die Bezirke

  • Villach (Stadt),
  • Hermagor,
  • Villach Land,
  • Wolfsberg,
  • Wien-Umgebung,
  • Freistadt,
  • Graz-Umgebung,
  • Leibnitz,
  • Südoststeiermark,
  • Innsbruck-Land,
  • Schwaz.
[3]

Vergleicht man die Anteile der Kandidaten an den gültigen Stimmen, dann zeigt sich, dass Hofer in 116 der 117 österreichischen Bezirke bei den Wahlkartenergebnissen schlechter abgeschnitten hat als bei den Urnenwahlergebnissen. Die einzige Ausnahme ist der Bezirk Wien 4, Wieden. Dort ist das Ergebnis Hofers bei den Wahlkartenstimmen um 0.2% besser als bei den Urnenstimmen.

[4]

Einen Vergleich der aufsummierten Ergebnisse in den beanstandeten und in den nicht beanstandeten Bezirken ermöglicht die folgende Tabelle:

Beanstandet Hofer Wahlkarte Van der Bellen Wahlkarte Hofer Urne Van der Bellen Urne
nein 248‘423 416‘126 1‘686‘525 1‘608‘054
ja 34‘479 41‘311 251‘227 186‘026
total 282‘902 457‘437 1‘937‘752 1‘794‘080
[5]

Berechnet man die Anteilsunterschiede zwischen Urnenstimmen und Wahlkartenstimmen, dann erhält man folgendes:

Beanstandet Hofer Wahlkarte
%
Van der Bellen Wahlkarte
%
Hofer Urne
%
Van der Bellen Urne
%
Hofer Differenz
%
Van der Bellen Differenz
%
nein 37.4 62.6 51.2 48.8 -13.8 13.8
ja 45.5 54.5 57.5 42.5 -12.0 12.0
total 38.2 61.8 51.9 48.1 -13.7 13.7
[6]
Hofer hat also in Summe in den beanstandeten Bezirken bei den Wahlkartenwählern besser abgeschnitten als in den übrigen Bezirken; das (im Vergleich zu den Urnenstimmen) immer noch schlechtere Ergebnis liegt außerdem näher am Urnenwahlergebnis als in den übrigen Bezirken.
[7]

Der generell auftretende Nachteil, den Hofer bei den Briefwahlstimmen hat, ist also in den beanstandeten Bezirken geringer als in den übrigen Bezirken. Damit Hofer im Gesamtergebnis vor Van der Bellen läge, bräuchte er zusätzlich 15‘432 Stimmen. Damit er diese 15‘432 Stimmen bei den Briefwahlstimmen in den beanstandeten Bezirken erreicht, müsste er dort 34‘479 + 15‘432 = 49'911 oder 65.9% erreichen.

[8]

Das wäre im Vergleich zu den im 2. (aufgehobenen) Wahlgang 45.5% erreichten Anteil 20.4% mehr, und er hätte damit in Summe in diesen Bezirken bei den Wahlkartenstimmen auch einen um 8.4% höheren Anteil als bei den Urnenstimmen erzielt. In allen anderen Bezirken mit Ausnahme von Wien 4 hat aber Hofer bei den Wahlkartenstimmen schlechter abgeschnitten als bei den Urnenstimmen, und auch in Wien 4 nur um 0.2% besser. Dieses Szenario erscheint deshalb im Kontext der Ergebnisse in den nicht beanstandeten Bezirken als vollkommen unrealistisch.

[9]

Wir können die Daten auch auf der Ebene der einzelnen Bezirke analysieren: Die folgenden Grafiken zeigen diese Unterschiede in verschiedenen Darstellungsformen. Jeder Punkt repräsentiert einen politischen Bezirk. Wir verwenden zwei verschiedene Grafiktypen:

  • Punktdiagramme mit Anteil bei der Urnenwahl auf der x-Achse und Anteil bei den Wahlkartenstimmen auf der y-Achse. Punkte über der Diagonalen markieren Bezirke, in denen Partei oder Kandidat bei Wahlkarten besser als bei Urnenstimmen abgeschnitten hat, Punkte unter der Diagonale markieren Bezirke, in denen Partei oder Kandidat bei Wahlkarten schlechter als bei Urnenstimmen abgeschnitten hat.
  • Gruppierte Punktdiagramme für die Anteilsunterschiede Wahlkartenwahl-Urnenwahl (Gruppierung=Bundesland)
[10]
Um einen Eindruck davon zu erhalten, wie diese Abweichung typischerweise aussehen, gibt es die Grafiken auch für Parteien bei der Nationalratswahl 2013 und der EU-Wahl 2014, und zwar für alle Parteien, die bei beiden Wahlen Mandate erzielt haben.
[11]

Die 11 beanstandeten Bezirke erscheinen in unseren Grafiken als rote Punkte. Wie wir sehen, passen diese roten Punkte in das Muster der übrigen Punkte. Wären die Wahlkartenergebnisse in diesen Bezirken zugunsten Van der Bellens manipuliert worden, dann lägen die roten Punkte sichtbar über der Wolke der grünen Punkte. Die Grafiken zeigen auch ganz deutlich, dass Hofer dann vorne liegen könnte, wenn er in den beanstandeten Bezirken beim Urnenergebnis und beim Wahlkartenergebnis etwa gleich gut abgeschnitten hätte. Dann wären die Ergebnisse in diesen Bezirken systematisch anders als in allen anderen Bezirken.

[12]
Aus statistischer Sicht gibt es also keine Hinweise darauf, dass die Unterschiede zwischen Urnenwahlergebnis und Wahlkartenergebnis in den angefochtenen Bezirken ein anderes Muster aufweisen als die entsprechenden Unterschiede in den restlichen Bezirken.
[13]

Noch einen weiteren Effekt untersuchen wir: Eine «traditionelle Weisheit» über Wahlen besagt, dass traditionell die ÖVP und die Grünen bei den Wahlkartenstimmen deutlich besser und SPÖ und FPÖ deutlich schlechter abschneiden als bei den Urnenstimmen. Das hat sich aber ab der EUW 2009 geändert.

[14]

Wir verwenden für diese Untersuchung die Ergebnisse der letzten 4 bundesweiten Wahlen, bei der diese Parteien angetreten sind.

  • Die SPÖ schneidet seit der EUW 2009 bei den Wahlkartenstimmen nur mehr schwach schlechter ab.
  • Die ÖVP schneidet bei der NRW 2013 bei den Wahlkartenstimmen nur schwach besser und bei der EUW 2014 schon schlechter ab.
  • Der ÖVP-Effekt tritt in gespiegelter Form bei den NEOS auf: Sie schneiden bei der NRW 2013 bei Wahlkartenstimmen und Urnenstimme etwa gleich gut ab und bei der EUW 2014 bei den Wahlkartenstimmen deutlich besser.
  • Die FPÖ schneidet bei den Wahlkartenstimmen immer schlechter ab als bei den Urnenstimmen.
  • Die Grünen schneiden bei allen untersuchten Wahlen bei den Wahlkartenstimmen besser ab als bei den Urnenstimmen.

2.

Vergleich Anteile an gültigen Stimmen Urnenwahl – Briefwahl ^

Hofer

Van der Bellen

Präsidentenwahl 1. WG

3.

Szenario – Stimmverschiebung von Van der Bellen zu Hofer ^

[15]
Im Endergebnis der Wahl liegt Van der Bellen um 30‘863 Stimmen vor Hofer. Hätte also Hofer um 15‘432 mehr und Van der Bellen um 15‘432 weniger Stimmen erzielt, dann hätte Hofer die Wahl gewonnen.
[16]

Wir berechnen dazu folgendes Szenario: Wir konstruieren ein fiktives Wahlergebnis, in dem Hofer in den beanstandeten Bezirken jeweils mehr und Van der Bellen weniger Stimmen erhält. Wir teilen die zu verschiebenden Stimmen auf die Bezirke im Verhältnis der dort abgegebenen gültigen Wahlkartenstimmen auf.

[17]

In den beanstandeten Bezirken gab es insgesamt 75‘790 gültige Wahlkartenstimmen, im Bezirk Villach (Stadt) 3443, das sind 4.54% In unserem Szenario werden daher im Bezirk Villach (Stadt) 4.54% der 15‘432 zu verschiebenden Stimmen liegen, also 702 Stimmen von Van der Bellen zu Hofer verschoben.

[18]
Die Grafiken zeigen, dass eine Manipulation derartigen Umfangs auffällige Muster erzeugen würde, die roten Punkte hätten ein deutlich anderes Muster als die grünen Punkte.
[19]

Insbesondere wäre in allen beanstandeten Bezirken der Anteil Hofers bei den Briefwahlstimmen höher als bei der Urnenwahl. Wie schon erwähnt, ist das bei den übrigen 106 Bezirken nur beim Bezirk Wien 4 (Wieden) der Fall und dort auch in wesentlich geringerem Umfang.

Hofer – fiktives Szenario

Van der Bellen – fiktives Szenario

4.

Differenzen von Briefwahlanteilen und Urnenwahlanteilen ^

Hofer

Van der Bellen

Präsidentenwahl 1. WG

5.

NRW 2008 + 2013 und EUW 2009 + 2014 Anteile bei Urnenwahl und Wahlkarten ^

SPÖ

ÖVP

FPÖ

Grüne

NEOS

6.

NRW 2013 – EUW 2014 – Differenz Anteile bei Urnenwahl und Wahlkarten ^

SPÖ

ÖVP

FPÖ

Grüne

NEOS

[20]

Alle in dieser Analyse benötigten Ergebnisse können hier heruntergeladen werden. Hier finden Sie zudem den (leicht vereinfachten) Source Code als R-Markdown-Datei.

7.

Wie allgemeinverständlich sind statistische Grafiken? ^

[21]

Die Reaktionen auf einen Artikel im falter (https://cms.falter.at/falter/2016/09/06/eine-mathematik-lektion-fuer-den-vfgh/), in dem die vorliegende Analyse in verkürzter Form dargestellt wurde, waren überraschend. Viele Leser weigerten sich, die auf statistischen Methoden beruhende Argumentation als schlüssig anzuerkennen. Insebsondere haben einige Leser Probleme mit der Wahrscheinlichkeitsaussage 

«[…] erhalten wir unter Verwendung anerkannter Modelle und Methoden der Statistik eine Wahrscheinlichkeit von 0,000000000132. Das ist etwa ein Tausendstel der Wahrscheinlichkeit des Lotto-Sechsers.»

[22]

In erwähnten Artikel gab es einen bewusst anschaulich gehaltenen Vergleich, aber dass es schwierig sein kann, Wahrscheinlichkeitsaussagen sinnvoll einzuordnen, ist eine bekannte Tatsache (und übrigens auch ein Auftrag an die Bildungspolitik). 

[23]

Daher folgt hier noch ein weiterer Versuch einer möglichst einfachen und nachvollziehbaren Erklärung, warum die Daten belegen, dass die Wahl in den 11 vom VfGH beanstandeten Bezirken nicht ergebnisverändernd manipuliert wurde.

[24]

Die folgende Grafik zeigt die Anteile des Kandidaten Hofer in allen 117 politischen Bezirken (und Statutarstädten). Jeder Bezirk wird durch einen Punkt dargestellt. Die x-Koordinate des Punkts (also wie weit der Punkt waagerecht gemessen vom linken Rand entfernt liegt) gibt den Anteil Hofers an den gültigen Urnenstimmen in diesem Bezirk an, die y-Koordinate (also die «Höhe» des Punkts), den Anteil an den Wahlkartenstimmen in diesem Bezirk. 

[25]

Alle Punkte bis auf eine Ausnahme liegen unterhalb der strichlierten Diagonalen; das heißt, dass Hofer mit einer einzigen Ausnahme in allen Bezirken bei den Wahlkarten schlechter abgeschnitten hat als bei den Urnenstimmen. 

[26]

Die Ausnahme ist der Bezirk Wien 4, dort hat Hofer bei den Wahlkarten um 0,3% (also nur geringfügig mehr) besser als bei den Urnenstimmen abgeschnitten. 

[27]

Die roten Punkte entsprechen den 11 in Erkenntnis des VfGH explizit angeführten Bezirken, bei denen laut VfGH Manipulationen möglich gewesen sind, die grünen Punkte allen anderen Bezirken. Man sieht sofort, dass die roten Punkte genau in das Muster der grünen Punkte passen, sie zeigen keinerlei abweichendes Muster. 

[28]

Die roten Punkte liegen eher rechts oben, das heißt, dass Hofer in diesen Bezirken besser abgeschnitten hat als in vielen anderen Bezirken, und zwar sowohl bei den Urnenstimmen als auch den Wahlkartenstimmen. 

[29]

Wie hätte das Ergebnis in den «roten» Bezirken aussehen müssen, damit Hofer gewonnen hätte? Hofer lag im Endergebnis (inklusive Wahlkarten) um 30'863 Stimmen hinter Van der Bellen. In den beanstandeten «roten» Bezirken gab es insgesamt 77'769 gültige Stimmen. Damit Hofer gewinnt hätte er 15'432 (30'863/2 aufgerundet) mehr von diesen Stimmen und Van der Bellen 15'432 von diesen Stimmen weniger erhalten müssen. Dann läge Hofer genau eine Stimme vor Van der Bellen.

[30]

Wenn wir diese 15'432 Stimmen mehr für Hofer anteilsmäßig auf die 11 beanstandeten Bezirke aufteilen und das dann grafisch darstellen ergibt sich folgendes Bild: 

[31]

Wir sehen sofort, dass Hofer in allen beanstandeten Bezirken bei den Wahlkarten deutlich besser als bei den Urnenstimmem hätte abschneiden müssen. Das wäre ein definitiv anderes Muster als in den nicht beanstandeten Bezirken. 

[32]

Wenn man Manipulationen unterstellt, dann hätten diese Manipulationen die Punkte von den auffälligen Positionen in der zweiten Grafik (deutlich höher als die grünen Punkte) in die unauffälligen Positionen auf der ersten Grafik (zwischen den grünen Punkten) verschieben müssen. 

[33]

Man hätte also schon während der Manipulation, vor der Auszählung der Wahlkartenstimmen, wissen müssen, wo die grünen Punkte liegen werden. Dazu wären hellseherische Fähigkeiten notwendig gewesen; und zwar für jeden einzelnen der beanstandeten Bezirke. Also entweder Personen mit hellseherischen Fähigkeiten in jedem dieser Bezirke, oder eine Verschwörung mit einem zentralen Hellseher, der dann an die Mitglieder der Verschwörung in jedem der 11 Bezirke eine Order über die Zahl der zu manipulierenden Stimmen ausgibt. 

[34]

Man hätte außerdem im vorhinein wissen müssen, in welchen 11 Bezirken Hofer atypisch besser abschneiden wird als in den anderen Bezirken, um genau dort zu manipulieren. Schwierig ist dann auch noch die Logistik der Stimmenmanipulation. Man müsste die passende Zahl von Wahlkartenkuverts mit Hofer-Stimmen finden und darin die Hofer-Stimme durch eine Van-der-Bellen-Stimme ersetzen. Wenn man das alles überlegt, dann kann man de facto ausschließen, dass es jemanden gibt, der eine derartige Manipulation zustande bringt.


 

ao. Univ.-Prof. i.R. Dr. Erich Neuwirth war vor seinem Ruhestand Leiter des Fachdidaktik-Zentrums für Informatik an der Universität Wien. Schon ab Mitte der 80er-Jahre forcierte er die Informatik- und IKT-Ausbildung für LehramtskandidatInnen. Er war Gastprofessor in den USA und in Japan und war einer der Mitinitiatoren des Lehramtstudiums Informatik. Aus seiner ursprünglich für die Lehre entwickelten Software zur Verbindung von Excel und dem Statistik-Programm R ist mittlerweile ein von vielen internationalen Firmen eingesetztes, kommerzielles Produkt geworden. Sein Multimedia-Projekt Musikalische Stimmungen, das Informatik, Musik und Mathematik verbindet, gewann den European Academic Software Award. Als Statistiker hat er zum Thema Wahlanalysen und Wahlhochrechnung geforscht. Von 1986 bis 1996 hat der die Wahlhochrechnungen des ORF durchgeführt, danach dann die des Innenministeriums methodisch betreut. Der Veröffentlichung von Wahldaten vor Wahlschluss steht er seit Anfang seiner Tätigkeit sehr skeptisch gegenüber.