1.
Ausgangslage ^
Stadtentwicklung kann gelesen werden als eine fortwährende Auslegung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger. Dabei wurde Stadtentwicklung lange mit Stadtplanung gleichgesetzt und das Ziel, die materiellen Grundversorgungen (Wohnen, Arbeiten, Versorgen, Bilden) sicherzustellen, favorisiert. Stadtplanung war der «systematische Entwurf einer rationalen Ordnung auf der Grundlage alles verfügbaren Wissens».1 Und weil das dafür notwendige Wissen vor allem als Berufswissen interpretiert wurde, oblag die Auslegung des Verhältnisses Staat – Bürger den Professionellen in der öffentlichen Verwaltung. Erst im Kontext globaler Umweltschutzpolitiken entstanden Gesetze, die die Rolle der Bevölkerung erwähnten. Erstmals formulierte das Bundesgesetz über die Raumplanung von 1979 (RPG) in Art. 4, dass bei Planungsaufgaben die Bevölkerung «in geeigneter Weise mitwirken kann». Aus diesem Verständnis hat sich in den vergangenen Jahren ein weit verästeltes Planungsrecht entwickelt, dass je nach Kantonen unterschiedliche Abfolgen der Kommunikation zwischen Staat und Bevölkerung kennt; im Rahmen der «Interessenabwägung» (gemäss Art. 3 Raumplanungsverordnung [RPV]) heissen solche Kommunikationsformate «Öffentliche Planauflage», «Einsprache» oder «Beschwerde».2 Ihnen gemeinsam ist ihr rechtlicher Status, die feste Positionierung in einem formellen Planungsprozess sowie die Funktion als nachgelagerte Reaktion auf Vorschläge von Seiten der öffentlichen Verwaltung.
2.
Kooperation als Denkfigur des Konsens ^
2.1.
Nachhaltigkeit als Gestaltungsvision ^
Mit der Entscheidung, Nachhaltigkeit als konkurrenzlose Gestaltungsvision für das Überleben des Erdsystems anzuerkennen,3 ging seit den 1980er Jahren eine Aktivierung der Stadtbevölkerung einher. Dabei war der in den verschiedenen Konferenzen gelegte Grundgedanke leitend, dass es vor allem die Städte sind, in denen zahlreiche der «Ungleichgewichte, die unsere moderne Welt schädigen» entstehen.4 Folglich sind es insbesondere die lokalen Initiativen, Verbünde und Netzwerke, von denen angemessene Antworten auf globale Herausforderungen erwartet werden. Vor allem im Rahmen der Lokalen Agenda LA21 wurden Projekte ausgelöst, die sich dezidiert in Planungsfragen verorteten.5 So entstanden bürgerbasierte Methoden wie die Agenda Konferenz, Aktivierende Befragung, Bürgerpanel/-foren, Open Space, World Café oder Zukunftskonferenz (alle: zur Ideensammlung) sowie die Planungszelle oder Planning for Real (alle: zur Initiierung eines Planungsprozesses).
Verfahren formeller Beteiligung mit rechtlicher Bindung | Verfahren informelle Beteiligung ohne rechtliche Bindung | |
«klassische Verfahren» | Verfahren mit Hilfe «neuer Kooperationstools» (E-Partizipation) | |
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Tabelle 1: Stadtentwicklung und Beteiligungsverfahren6
2.2.
Kommunikative Wende in der Planung ^
Die Suche nach einem angemessenen Verhältnis zur Bürgerbeteiligung destabilisierte das hierarchisch-bürokratische Selbstverständnis, das sich auf den Grundsatz beruft, dass alle Planungshoheit bei der öffentlichen Hand liegt; ein netzwerkorientiertes Selbstverständnis, das Planung zu entstandardisieren versucht und als Verständigungsversuch begreift, reifte. In dieser Zeit entstanden die ersten Social Media bezogenen Verfahren, insbesondere breit angelegte Befragungen und Diskussionen. Sie haben sich bis heute zum Standard von Verwaltungshandeln entwickelt und verweisen darauf, dass Stadtentwicklung auf Verhandlung aufbaut und einvernehmliche Ziele zwischen Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft möglich sind. Obschon in der Schweiz direktdemokratische Verfahren gelten, ist die informelle Planung bis heute typisch für eine Verwaltungskultur, die sich als kooperativ und partizipativ versteht und die in einer Bevölkerungsorientierung weit mehr als eine «Pflichtaufgabe» sieht – auch weil «die Zusammenarbeit mit den Direktbetroffenen [...] die Effizienz und Effektivität des staatlichen Handelns erheblich steigern [kann]».9
Nahezu gleichzeitig mit der neuen Planungskultur begann die Kritik an ihr. Gerade in Städten, die von heterogenen Lebensstilen, pluralistischen Lebenslagen und Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft geprägt sind, erwarten die E-Partizipationsverfahren eine hohe Sprachkompetenz, eine grundsätzliche «intellektuelle Sicherheit» sowie eine Vertrautheit mit hiesigem Demokratieverständnis. Damit erreichen sie zahlreiche Bevölkerungsgruppen nur höchst unzureichend (z.B. junge und alte Menschen, Fremdsprachige). Auch erweist sich bei diesen Verfahren die Kommunikation zwischen Experten und Laien als schwierig, weil es für Laien häufig unmöglich ist, sich allein mit Hilfe von Visualisierungsinstrumenten (...), den Zukunftsentwurf (Gebäude, Areal, Siedlung, Quartier) hinreichend genau vorzustellen. So wird letztlich doch nur ein kleiner Teil der Bevölkerung erreicht – oftmals derjenige, der sich ohnehin für städtebaulich-soziale und wirtschaftliche Fragen engagiert und eine gewisse technische Kompetenz und gutes räumliches Vorstellungsvermögen mitbringt. Diese Ungleichgewichte werden zunehmend demokratietheoretisch gewertet und es schält sich die These heraus, dass die kommunikative Wende in der Stadtentwicklung einen Prozess der Entdemokratisierung unterstützt, ganz im Gegensatz zur eigentlichen Absicht.10
3.
Postdemokratie im digitalen Zeitalter ^
«Cybermoor» in Alston Moor in England beispielsweise verknüpft rund 1'000 Haushalte, die Zugriff haben auf verschiedene Dienste wie ein persönliches E-Mail-Konto, Veranstaltungskalender, Nachrichten, lokale Informationsverzeichnisse, Diskussionen, Galerien, Reise-Informationen, Autofahrdienste, das Mietportal eines siedlungseigenen Kleinbusses oder einen virtuellen Marktplatz. In Folge haben sich eine Vielzahl von Klein- und Mittelbetrieben gegründet. Das «Virtual Village Helsinki» startete 1998 im Zusammenhang mit der Transformation eines ehemaligen Industrieareals zu einem Wohngebiet. Geschaffen wurde in dem 70.000 qm grossen Quartier ein virtuelles Dorf; d.h. eine Kommunikationsumgebung für Studenten, Unternehmen und Bewohner mit einem kreativen Hintergrund (zum Beispiel Musiker, Schauspieler, bildende Künstler). Alle Wohnungen und Häuser sind bis heute via Netzwerk verbunden, die Bewohner haben die Möglichkeit, miteinander zu interagieren, ein Moderator kanalisiert die Diskussionen.
Die Next-Bewegung ist hier ein aktuelles Beispiel.11 Freiwillige orten Potenziale für Stadtentwicklung, rufen über Internet zu Ideensammlungen auf und schlagen konkrete Stadtentwicklungsprojekte vor. Nicht selten erfahren die Behörden erst über die Medien von den Vorhaben. Und Dank internetbasierten crowdfunding-Verfahren werden zudem Finanzierungen möglich. Seit 2009 sammelte Nexthamburg auf diese Weise über 700 Ideen und simuliert sie als Bürgervision. Mit den Ablegern Nextzürich und Nextsuisse finden auch hierzulande erste Grossprojekte dieser Art statt.12 Dabei sind die Vorhaben keineswegs kompatibel zur städtischen Planung, weshalb eher von einem agonistischen, also die Widersprüche aufzeigenden, statt einem konsensualen Verhandlungsverhalten gesprochen wird.13
4.
Fazit ^
Lange Zeit war Stadtentwicklung vor allem eine expertokratische Planung, die aus der öffentlichen Verwaltung heraus formuliert wurde. Beteiligung galt als Beschwichtigungsstrategie oder – aufgrund der direktdemokratischen Verfahren in der Schweiz – als Abfederungsmassnahme gegen mögliche Planungsverzögerungen. Erst im Zuge der Nachhaltigkeitspolitiken wurde der Bevölkerung eine neue Bedeutung beigemessen: Über Social Media gestützte Verfahren sollte vor allem Repräsentativität hergestellt und damit eine breite Abstützung von Planungsverfahren erreicht werden. Doch das Verhältnis einer Verwaltung mit dem Anspruch auf Planungshoheit und einer darauf reagierenden Bürgerschaft wurde damit nicht in Frage gestellt. Die weite Verbreitung von digitalen Medien machte eine Umkehrung des Partizipationsverhältnisses möglich: Engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich unter dem Begriff «StadtmacherInnen» zusammenfassen lassen, sammeln eigene Ideen, bereiten diese zur Verhandlung mit der Verwaltung auf und sind zudem in der Lage, über das Internet Finanzen zu mobilisieren. Aus Bürgerbeteiligung wird so eine Form von demokratischer Selbstregierung – die höchste Form der Partizipation. In der Schweiz, aber auch in anderen europäischen Städten, werden solche Entwicklungen gegenwärtig katalogisiert, auch um zukünftige Entwicklungen im Verhältnis Staat – Bürger prognostizieren zu können.14 Zu den offenen Fragen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen E-Partizipation gehört dabei die zentrale Frage, ob die demokratischen Ansprüche nach politischer Teilhabe sozial und ökonomisch benachteiligter Gruppen verbessert werden können.
Matthias Drilling leitet das Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Basel.
- 1 Joseph H. Kaiser, Exposé zu einer pragmatischen Theorie der Planung, in: Ders. (Hrsg.) Planung I. Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft. Baden-Baden 1965: Nomos. S. 11–32.
- 2 Kurt Gilgen (Hrsg.), Kommunale Raumplanung in der Schweiz. Zürich 2012: vdf.
- 3 Helmut Weidner, Gemeinwohl und Nachhaltigkeit – ein prekäres Verhältnis. Discussion Paper FS II 02-303. Berlin 2002: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Online: http://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/11301/ssoar-2002-weidner-gemeinwohl_und_nachhaltigkeit.pdf (alle Internetadressen zuletzt abgerufen am 26. April 2016), S. 13.
- 4 Charta der europäischen Städte und Gemeinden auf dem Weg zur Zukunftsfähigkeit (Charta von Aalborg), am 27. Mai 1994 verabschiedet von den Teilnehmern der Europäischen Konferenz über zukunftsbeständige Städte und Gemeinden in Aalborg, Dänemark.
- 5 Bundesamt für Raumentwicklung ARE, Programme d’encouragement pour le developpement durable; Etat des lieux 2001–2005. Grenchen 2006.
- 6 Siehe ausführlicher in Fabian Neuhaus/Hans-Jörg Stark/Matthias Drilling (Hrsg.), ATLAS ePartizipation: Demokratische Stadtentwicklung. Brugg 2015: FHNW. Online: https://issuu.com/urbantick/docs/atlas_epartizipation/1 (alle Internetadressen zuletzt abgerufen am 26. April 2016).
- 7 Robert D. Putnam, Niedergang des Sozialen Kapitals. Warum kleine Netzwerke wichtig sind für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. In Warnfried Dettling (Hrsg.), Denken, Handeln, Gestalten. Neue Perspektiven für Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Symposium der DG Bank. Frankfurt a.M. 2000: Edition Politeia, S. 77–97.
- 8 Matthias Drilling/Stephanie Weiss, Die Stadt, der Mensch und das Design. Zum sozialen Planungsverständnis von Lucius Burckhardt, in: archithese 2.2015. Sulgen 2015: Niggli, S. 96–101.
- 9 Siehe Stadt Zürich, Mitwirkungs- und Beteiligungsprozesse – Checkliste. Zürich 2006. S. 3. Online: https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/stadtentwicklung/stadt-_und_quartierentwicklung/beteiligungsprozesse/checkliste_mitwirkung.html.
- 10 Z.B. Markus Miessen, Albtraum Partizipation. Berlin 2012: Merve Verlag; Stephan Lanz, Demokratische Stadtplanung in der Postmoderne. Oldenburg 1996: Bis.
- 11 Siehe http://www.nexthamburg.de.
- 12 Siehe http://www.nextzuerich.ch sowie http://www.nextsuisse.ch.
- 13 Chantal Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken. Frankfurt 2014: Suhrkamp.
- 14 Siehe z.B. http://www.partizipieren.ch oder http://www.beteiligungskompass.org.