Jusletter IT

Die digitale Rechtsanwaltskanzlei der Zukunft

  • Author: Hans Lecker
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: E-Justice
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2016
  • Citation: Hans Lecker, Die digitale Rechtsanwaltskanzlei der Zukunft, in: Jusletter IT 25 February 2016
Der Beitrag befasst sich mit der Technologisierung der Rechtsanwaltskanzleien. Er zeigt das Netzwerk der Personen und Institutionen auf, in das eine Kanzlei verankert ist. Es werden die Wechselwirkungen in diesem Netzwerk aufgezeigt, die zu einem Druck in Richtung Technologisierung, Digitalisierung und Innovation führen. Die Annahmen über technologische Entwicklungen und Erwartungshaltungen wurden aufgrund von Marktbeobachtungen, Tagesberichterstattung und Interviews mit Rechtsanwälten entwickelt. Das gezeichnete Bild ist damit eine Vision, die sich aus der Perspektive der Anwaltschaft ergibt. Das Bild kann genutzt werden, um Forschungsthemen in der Rechtsinformatik, insbesondere der künstlichen Intelligenz, in einem künftigen Anwendungskontext in der Rechtsanwaltskanzlei zu verorten. Dies kann hilfreich sein, um daran den Nutzen von Technologie für die künftigen Anwender aus deren Perspektive abzuschätzen. Zudem dient die Vision der Entwicklung von Strategien für Kanzleien, um ihre Wettbewerbsfähigkeit als Institution insgesamt zu erhalten, aber auch um sich im Wettbewerb mit anderen Kanzleien langfristig gut aufzustellen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Die Rechtsanwaltskanzlei im Netzwerk von Personen und Institutionen
  • 1.1. Personen/Institutionen und deren Wechselwirkung
  • 1.1.1. Versicherungen (Rechtsschutz, Haftpflicht)
  • 1.1.1.1. Berufshaftpflichtversicherung
  • 1.1.1.2. Rechtsschutzversicherung / Haftpflichtversicherung
  • 1.1.2. Staatliche Institutionen
  • 1.1.3. Privatmandanten
  • 1.1.4. Unternehmensmandanten
  • 1.1.5. Kooperationspartner
  • 1.1.6. Marktplätze
  • 1.1.7. Dienstleister
  • 1.1.8. Steuerberater
  • 1.1.9. LegalTech/Wettbewerber
  • 1.1.10. Rechtsanwaltskanzlei
  • 1.2. Fazit
  • 2. Digitalisierung in der Rechtsanwaltskanzlei
  • 2.1. Aktuelle Situation
  • 2.1.1. Digitale Akte
  • 2.1.2. Digitale Sachverhaltserschließung
  • 2.1.3. Entscheidungsunterstützung durch den Computer
  • 2.2. Erwartete Entwicklungen
  • 2.3. Fazit

1.

Die Rechtsanwaltskanzlei im Netzwerk von Personen und Institutionen ^

[1]

Niemand ist eine Insel1, auch nicht eine Rechtsanwaltskanzlei. Sie existiert in einem Netzwerk, das sich über ihre wesentlichen Beziehungen in der Rolle als Organ der Rechtspflege, aber auch als Teilnehmer in einer Marktwirtschaft definiert. Als Organ der Rechtspflege sind die Verbindungen zur Justiz, anderen staatlichen Einrichtungen und zu den Mandaten besonders prägend. Unter dem Gesichtspunkt des Unternehmens sind die Beziehungen zu den Wettbewerbern (Rechtsanwaltskanzleien, andere Anbieter von Rechtsdienstleistungen oder Leistungen, die solche substituieren) zu sehen. Innerhalb einer Kanzlei existieren Beziehungen, die ebenfalls auf die Technologisierung einer Kanzlei Einfluss nehmen.

1.1.

Personen/Institutionen und deren Wechselwirkung ^

1.1.1.

Versicherungen (Rechtsschutz, Haftpflicht) ^

[2]
Versicherungen haben auf die Rechtsanwaltskanzlei einen vielfältigen Einfluss.
1.1.1.1.
Berufshaftpflichtversicherung ^
[3]
Jeder Rechtsanwalt ist verpflichtet, eine Berufshaftpflichtversicherung zur Deckung der sich aus seiner Berufstätigkeit ergebenden Haftpflichtgefahren für Vermögensschäden abzuschließen und die Versicherung während der Dauer seiner Zulassung aufrechtzuerhalten2.
[4]
Die Berufshaftpflichtversicherer selbst üben keinen gestaltenden Einfluss auf die technologische Ausstattung der Rechtsanwaltskanzlei aus, da ihnen nach § 51 Abs. 2 bis 5 BRAO hier keine Gestaltungsmöglichkeiten in Form von Haftungsausschlüssen zur Verfügung stehen. Auch ein Einfluss der IT auf die Höhe der Versicherungsbeiträge der Kanzlei ist heute nicht erkennbar.
1.1.1.2.
Rechtsschutzversicherung / Haftpflichtversicherung ^
[5]
Rechtsschutz- und Haftpflichtversicherungen üben als wichtige Auftraggeber für Kanzleien einen bedeutenden Einfluss aus, der dadurch entsteht, dass die Mandatierung oder Empfehlung abhängig von Zertifizierungen und technischen Ausstattungen (z.B. Einrichtungen für die digitale Kommunikation mit der Versicherung für eine effizientere Bearbeitung) gemacht wird. Einer Empfehlung durch die Versicherung wird übrigens häufig gefolgt.

1.1.2.

Staatliche Institutionen ^

[6]

Der Einfluss von staatlichen Stellen auf die Entwicklung der Digitalisierung in der Kanzlei ist sehr stark. Im Rahmen von beA3 (besonderes elektronisches Anwaltspostfach, basierend auf dem Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013 [ERV-Gesetz]) wird jeder Rechtsanwalt mit einem elektronischen Anwaltspostfach ausgestattet. Mit dem Start wird es auch eine Empfangsverpflichtung für jeden Rechtsanwalt geben. Diese Initiative der Justiz verpflichtet die Anwaltschaft, die notwendigen Voraussetzungen für einen umfassenden elektronischen Rechtsverkehr der Gerichte zu schaffen. Die Aufgabe zur Einrichtung der elektronischen Postfächer für jeden Rechtsanwalt wurde von der BRAK (Bundesrechtsanwaltskammer) angenommen. Dies gibt der Anwaltschaft zumindest einen Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben. Das EGVP4 (Elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach) wird ausschließlich von staatlichen Stellen gesteuert und den Rechtsanwälten zur Nutzung zur Verfügung gestellt. Im Ergebnis konnte die Anwaltschaft mit beA seine Position bei der Gestaltung des elektronischen Rechtsverkehrs gegenüber der bisherigen Lösung EGVP verbessern.

[7]
Wahrscheinlich wird durch die Einführung des beA auch die elektronische Kommunikation mit anderen Kommunikationspartnern wie z.B. anderen Anwälten intensiver, da Medienbrüche von Digital nach Papier dann zugunsten einer ausschließlich digitalen Kommunikation entschieden werden. Begleitend wird die digitale Kommunikation auch dazu führen, dass die Aktenführung mittelfristig ausschließlich digital erfolgen wird.

1.1.3.

Privatmandanten ^

[8]
Hier ist zwischen individueller Kommunikation im Mandat und der Massenkommunikation zu unterscheiden.
[9]
Individuelle digitale Kommunikation über das Internet mittels E-Mail ist für viele selbstverständlich. 80% aller Deutschen nutzen E-Mails, damit ist diese Form der Kommunikation etabliert5. Der Einfluss der Privatmandanten ist in der Regel nicht so stark. Auch ist heute nicht erkennbar, dass Rechtsanwälte nach dem Kriterium digitale Kommunikation ausgesucht werden. Aus Gründen der Optimierung der Kommunikation werden gerne Mandaten-Portale eingesetzt, in denen die Rechtsanwaltskanzlei in einem geschlossenen Datenraum die Daten des Mandates ablegt und dem Mandanten den Zugriff einräumt. Hier wird eine Optimierung der Kommunikation auf jeden Fall zugunsten der Kanzlei erreicht, da sich Sachstandsanfragen so auf das Portal kanalisieren können.
[10]
Unter Massenkommunikation werden hier Angebote wie die Kanzleihomepage oder Präsenzen in sozialen Netzwerken verstanden. Die Motivation für eine Kanzlei kann recht unterschiedlich sein. Für manche ist es selbstverständlich, eine Internetseite als Visitenkarte im Internet zu haben. Andere Kanzleien betreiben intensiv Online-Marketing und fischen mit ihrer Kanzleihomepage oder Profilen gezielt nach neuen Mandaten. Im Kern geht es darum, dass man von Ratsuchenden im richtigen Moment gefunden wird und den passenden Eindruck hinterlässt.
[11]
Laut einer Studie von Finanztest gaben 15% der Teilnehmer an, dass sie schon einmal nach einem Anwalt im Internet recherchiert haben.6 Danach wird ein Anwalt im Internet gesucht, wenn man noch keinen Anwalt kennt oder noch keine Empfehlung von einem Bekannten erhalten hat. Während 15% in Google gesucht haben, geben lediglich 3% an, dass sie bereits ein Anwaltssuchportal benutzt haben. In dieser Beziehung wird die Rechtsanwaltskanzlei durch das Verhalten der Privatmandanten in Richtung Digitalisierung, insb. Sichtbarkeit im Internet, beeinflusst.

1.1.4.

Unternehmensmandanten ^

[12]
Der Einfluss der Unternehmensmandanten auf die Kanzlei hinsichtlich digitaler Kommunikation und Prozesse nimmt dagegen stark zu. Es gibt aktuell einen Trend, dass sich im Rechtsberatungsmarkt die Marktmacht vom Anbieter (Rechtsanwalt) zum Nachfrager (Unternehmen) verschiebt. Dies führt dazu, dass Unternehmensmandanten mit ihren Vorstellungen starken Einfluss nehmen können.
[13]
Im Umfeld der Unternehmensmandate ist die digitale Kommunikation/Kollaboration stark verbreitet. Da es sich bei Unternehmensmandaten in der Regel um längerfristige und wiederkehrende Umsätze handelt, ist hier für gewöhnlich davon auszugehen, dass die Unternehmenskunden die aus ihrer Sicht optimalere Kommunikation durchsetzen möchten.
[14]

Als weiterer Trend ist erkennbar, dass Unternehmen von ihren beauftragten Kanzleien eine höhere Leistungs- und Preistransparenz einfordern. Dieser Aspekt ist zunehmend auch eine Voraussetzung für eine künftige Mandatierung. Kanzleien werden daher von ihren Unternehmensmandaten angehalten, eine detaillierte Rechenschaft über erbrachte Leistungen zeitnah abzulegen. Dies zieht zwangsläufig nach sich, dass Kanzleien eigene oder fremde Softwaresysteme nutzen müssen, die eine entsprechende Dokumentation der Leistung ermöglichen. Für diesen Zweck wurde beispielsweise das digitale Rechnungsformat LEDES konzipiert.7 Sehr verbreitet in Unternehmen ist Serengeti Tracker von Thomson Reuters.8

1.1.5.

Kooperationspartner ^

[15]
Im Rahmen von Kooperationen zwischen Rechtsanwälten und anderen Mandatsbearbeitern bietet die digitale Aktenführung Vorteile, wie z.B. schnelle Bereitstellung für andere Mandatsbeteiligte. Auch dadurch ergibt sich ein Anreiz in Richtung Digitalisierung.

1.1.6.

Marktplätze ^

[16]
Unter Marktplätzen sind hier digitale Marktplätze zu verstehen, die Rechtsanwälte der Generierung von Mandaten dienen. Die Teilnahme an solchen Marktplätzen bedeutet eine Technologisierung der Mandatsgewinnung. Die dort gewonnenen Mandanten haben in der Regel eine Affinität zur digitalen Kommunikation, weshalb solche Marktplätze einer Rechtsanwaltskanzlei einen erhöhten Grad an Digitalisierung abverlangen. Das älteste nationale Angebot in diesem Bereich ist «Frag einen Anwalt».9 In jüngster Zeit ist das Angebot von Jurato hinzugekommen.10 Bei Jurato werden neben Mandatsanfragen und Beratungsprodukten auch Dienste für die digitale Kommunikation und Zahlung angeboten.

1.1.7.

Dienstleister ^

[17]
Externe Dienstleistungen entfalten optimale Wirkung, wenn sie in die bestehenden Prozesse ohne Brüche integriert werden können. Um hier ein Optimum zu erreichen, ist eine Digitalisierung der internen Prozesse und ein digitales Angebot des Dienstleisters Voraussetzung. Angebote wie Anwaltssekretariat, Diktatdienste und Fachübersetzungen können so als externe Dienstleistungen integriert werden.
[18]
Ein Angebot von juristischen Assistenzleistungen wie Recherche, Schriftsatzerstellung oder das Anfertigen von Texten für Kanzlei-Blogs bietet Edicted11.
[19]
Um Vorteile aus dem Legal Process Outsourcing ziehen zu können, ist ein hoher Grad an Digitalisierung der betroffenen Prozesse erforderlich, da nur so die Zerlegung der Prozesse in Einzelschritte mit geringem administrativen Aufwand und erforderlichem Tempo realisiert werden kann.
[20]
LPO ist damit ein positiver Einflussfaktor auf die Digitalisierung und Technologisierung in Rechtsanwaltskanzleien.

1.1.8.

Steuerberater ^

[21]
Steuerberater treiben lediglich die Digitalisierung im externen Rechnungswesen voran.

1.1.9.

LegalTech/Wettbewerber ^

[22]
Aktuell wird durch die Anwaltschaft der Einfluss der sog. «Legal Techs» auf die klassische Rechtsanwaltskanzlei diskutiert. In diesem Beitrag wird unter «Legal Tech» eine Unternehmung verstanden, die Dienstleistungen anbietet, die in der juristischen Wertschöpfungskette anzusiedeln sind. Dabei erzielt ein «Legal Tech» seinen Wettbewerbsvorteil aus dem Einsatz von Technologie und hat gegenüber einer Kanzlei den entscheidenden Vorteil, dass sich Geschäftsmodelle und Finanzierung solcher Unternehmungen außerhalb des Standesrechtes bewegen können.
[23]
«Legal Techs» adressieren zum einen Kanzleien aber auch Consumer und Unternehmen. Wenn ein «Legal Tech» mit Technologie Kanzleien adressiert, dann ist sie zunächst nicht als Wettbewerber zur Kanzlei zu sehen. Auf der anderen Seite gibt es auch «Legal Techs», die den Endabnehmer von Rechtsdienstleistungen direkt adressieren.
[24]
Die letzte Kategorie kann als Wettbewerber für eine Kanzlei gesehen werden, da in dieser Kategorie eine Kanzlei nicht mehr in der Wertschöpfung beteiligt ist.
[25]
Flightright12 ist ein Anbieter in Deutschland, der sich auf die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen bei Flugverspätungen spezialisiert hat. Ob hier eine tatsächliche Konkurrenz vorliegt, ist fragwürdig, da solche Leistungen eigentlich nur schwer von typischen Rechtsanwaltskanzleien erbracht werden können. Bei Flightright liegen typische Ansatzpunkte für eine Automatisierung vor. Der Sachverhalt kann einfach und schnell erfasst bzw. ermittelt werden. Es ist eine Eingabe der Flugdaten über die Internetseite ausreichend. Die weitere Erforschung des Sachverhaltes kann über Anfragen bei Flugdatenbanken erfolgen. Die Anwendung der einschlägigen Normen ist aufgrund einer klaren Regelung und einer einfachen Struktur gut automatisierbar.13 In Wikipedia werden unter Fluggastrechte zwischenzeitlich zehn Anbieter für die Durchsetzung solcher Ansprüche aufgeführt.14
[26]
Solche spezialisierten Anbieter bedeuten keinen Wettbewerb für Kanzleien, da diesen kein Geschäft genommen wird. Vielmehr muss man sagen, dass solche «Legal Techs» erst eine professionelle Rechtsdurchsetzung in diesem Niedrigpreissegment ermöglicht haben.
[27]
Damit ein echter Wettbewerb für Kanzleien entsteht, muss der Gang zum Anwalt in angestammten Geschäftsbereichen gänzlich durch einen «Legal Tech» in Frage stehen. Solche konkurrierenden Angebote sind jedoch heute noch nicht vorhanden. Da dies jedoch gerade aufgrund der Fortschritte nicht unwahrscheinlich erscheint, stellen sich bspw. die Rechtsanwaltskanzlei Dentons15 mit der Gründung von NextLawLabs16 dieser Herausforderung.
[28]
«Legal Techs», die Kanzleien als Zielgruppe haben, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle in der Wettbewerbssituation. Je leistungsfähiger die angebotenen Technologien in der juristischen Wertschöpfungskette werden, umso wichtiger werden sie für Rechtsanwaltskanzleien im Wettbewerb zu anderen Rechtsanwaltskanzleien. Der Einsatz solcher Technologien kann dann Voraussetzung für künftiges Geschäft werden. Das erfordert Investitionen oder ggf. wird ein bedeutender Teil des Erlöses an den Technologieanbieter gehen. Dies kann eine völlig neue Situation für Kanzleien ergeben, da notwendige Investitionen für den Betrieb aktuell relativ gering sind. In Bereichen wie z.B. der Insolvenzverwaltung kann ein durchschnittliches Mandat schon heute ohne Einsatz von spezieller Software17 nicht mehr wirtschaftlich bearbeitet werden.

1.1.10.

Rechtsanwaltskanzlei ^

[29]
Auch innerhalb einer Kanzlei bestehen Einflüsse zwischen den verschiedenen Personengruppen, die eine Wirkung in Richtung Technologisierung entfalten können. Exemplarisch hierfür ist «Bring Your Own Device», wo einzelne Mitarbeiter zunächst Technologie aus dem privaten Bereich im Unternehmen etablieren.

1.2.

Fazit ^

[30]
Die Rechtsanwaltskanzlei ist in der Summe getrieben von den Initiativen zur Digitalisierung von einflussreichen Akteuren in ihrem Umfeld und ist damit kein Treiber der Digitalisierung insgesamt. Jedoch ist auch deutlich, dass sich eine Kanzlei nicht der Digitalisierung entziehen kann, wenn sie künftig noch existieren möchte. Ich gehe davon aus, dass der Grad an Technologisierung aufgrund des Umfeldes zwangsläufig zunehmen wird. Zudem wird ein Teil der Kanzleien Technologie als Differenzierungsfaktor im Wettbewerb verstehen und so technologische Entwicklungen vorantreiben.

2.

Digitalisierung in der Rechtsanwaltskanzlei ^

[31]

Um das Thema Digitalisierung in einer Rechtsanwaltskanzlei differenzierter analysieren zu können, ist eine Betrachtung der Prozesse vorzunehmen (Abbildung 1). Die in der Abbildung mit 1 gekennzeichneten Tätigkeiten stellen den Kern der anwaltlichen Wertschöpfung dar: Sachverhalt, Rechtsanwendung, Recherche, Beratung/Schriftsatz. Daneben gibt es zahlreiche Prozesse, die der Betrieb mit sich bringt.

[32]
Um den Grad der Digitalisierung beurteilen zu können, liegt es nahe, anhand des Verhältnisses der bereits digital abgebildeten Prozesse zu nicht digital abgebildeten Prozesse zu urteilen. Da die Wertschöpfungsprozesse im Zentrum der Unternehmung stehen, kommt es vor allem auf die Beurteilung dieser Prozesse.

2.1.

Aktuelle Situation ^

2.1.1.

Digitale Akte ^

[33]
Um sich eine Meinung über den aktuellen Stand der Digitalisierung in deutschen Rechtsanwaltskanzleien bilden zu können, ist als erster Indikator der Anteil der Kanzleien, die ihre Akten elektronisch führen, hilfreich. Eine elektronische Aktenführung, d.h. sämtliche Informationen zum Mandat inkl. der Dokumente, werden ausschließlich elektronisch vorgehalten und bearbeitet.
[34]
Die BRAK18 hat im Januar 2014 im Rahmen der zweiten Online-Umfrage zur Einführung des Elektronischen Rechtsverkehrs ermittelt, wie alltäglich die elektronische Aktenführung in Deutschlands Rechtsanwaltskanzleien ist.19 Danach gaben 20% der befragten Kanzleien an, dass sie ihre Akten vollständig elektronisch führen und 37% gaben an, dass sie ihre Akten teilweise elektronisch führen. Die verbleibenden 43% gaben an, keine elektronischen Akten angelegt zu haben, d.h. dort gibt es ausschließlich eine Akte in Papierform.
[35]
Dieses Ergebnis zeigt, dass es um die Digitalisierung eigentlich nicht schlecht bestellt ist. Jedoch ist die elektronische Akte eben nur ein Werkzeug für die Speicherung der Daten, was allerdings nicht heißt, dass die Arbeit am Mandat auch elektronisch stattfindet.

2.1.2.

Digitale Sachverhaltserschließung ^

[36]
Bei der Entwicklung hin zu einer digitalen Kanzlei ist die nächste Hürde, dass der Sachverhalt elektronisch erschlossen wird. Als Werkzeuge für die elektronische Erschließung werden unterschiedliche Werkzeugkategorien eingesetzt.
[37]
Zunächst müssen die Informationen zum Fall elektronisch vorliegen. Wenn die Quelle bereits digital ist, dann ist evtl. nur noch eine Umwandlung erforderlich. Sollten die Informationen auf Papier vorliegen, so müssen diese erst gescannt werden. In einem weiteren Schritt muss nun die eigentliche inhaltliche Erschließung des Sachverhaltes stattfinden.
[38]
In den USA gibt es zahlreiche Anbieter, die Lösungen für das sogenannte eDiscovery anbieten. Auch wenn unter eDiscovery die Sicherung und Bereitstellung von digitalen Beweisstücken gemeint ist, haben sich in Folge auch Werkzeuge zum Auswerten dieser digitalen Beweisstücke entwickelt. Einer der bekanntesten Anbieter mit einem umfangreichen Angebot dazu ist LexisNexis.20 Auch in deutschen Kanzleien ist das Produkt Concordance21 von LexisNexis anzutreffen, welches bei der Durchsicht und Erschließung von elektronischen Unterlagen hilft.
[39]
Von Wolters Kluwer wird für den deutschen Markt die jurion E-Akte22 angeboten, welche die Erschließung einer E-Akte durch Volltextsuche und Klemmbrett-Funktion unterstützt.
[40]
Die am meisten verbreitete Lösung ist der Normfall Manager der Normfall GmbH23. Diese Lösung ist bei vielen Gerichten und Staatsanwaltschaften in den einzelnen Bundesländern zu finden. Der Normfall Manager hilft bei der Strukturierung des Sachverhaltes und kann zur Dokumentation eigener Anmerkungen zu den jeweiligen Dokumenten verwendet werden.
[41]
Die Anwendung solcher Werkzeuge ist jedoch heute immer noch auf einzelne Fälle beschränkt, wo die Komplexität des Falles sonst nicht mehr beherrschbar wäre. In der überwiegenden Vielzahl der Fälle kommen solche Werkzeuge heute nicht zum Einsatz.
[42]
Die deutsche Justiz arbeitet sehr intensiv an Werkzeugen für die Durchdringung der elektronischen Akte, da letztlich eine digitale Akte nur durchgängig funktioniert, wenn mit den darin enthaltenen elektronischen Dokumenten auch inhaltlich gearbeitet werden kann. In Niedersachsen heißt das Projekt der Landesjustiz e²A-die ergonomische elektronische Akte.24 Bayern, Baden-Württemberg und weitere Bundesländer haben sich für forumStar von IBM entschieden. Innerhalb von forumStar wird der Normfall Manager eingesetzt.25
[43]
Ein interessantes Produkt, welches in letzter Zeit viel Beachtung gefunden hat, ist von LEVERTON.26 Es handelt sich um ein Produkt, welches für die Analyse von Immobilienverträgen verwendet wird. Es soll dabei die sog. Due Diligence bei Immobilientransaktionen unterstützen, indem es die Prüfung von Verträgen durch die IT automatisiert.

2.1.3.

Entscheidungsunterstützung durch den Computer ^

[44]
Noch seltener sind in der anwaltlichen Praxis Werkzeuge anzutreffen, die bei der Anwendung des Rechts unterstützen. Bisher sind davon nur wenige Tools als marktfähige Produkte bei den Kanzleien angekommen oder von solchen entwickelt worden. Exemplarisch seien folgende drei Projekte genannt:
[45]
CMS Hasche Sigle (Deutschland) hat für seine Mandantschaft ein Expertensystem entwickelt, welches die Prüfung von Werk- und Dienstverträgen bei Fremdpersonaleinsatz unterstützen soll. Diese Prüfung durch einen Anwalt der Kanzlei in jedem Fall vornehmen zu lassen, wäre definitiv für den Mandanten wirtschaftlich nicht sinnvoll. Stattdessen hat die Kanzlei ein Expertensystem entwickelt, das den Mandanten bei der Prüfung unterstützt. Lediglich die problematischen Fälle sollen noch von der Rechtsanwaltskanzlei geprüft werden. Ob dies für CMS und die Mandaten auch wirtschaftlich interessant ist, muss die Zukunft noch zeigen.
[46]
Im HR-Bereich ist das Projekt ComplianceHR27 anzusiedeln. Es handelt sich dabei um ein Joint Venture zwischen der Kanzlei Littler Mendelson28 und NEOTA LOGIC29, einem Anbieter für Expertensysteme. Hier geht es um die Beurteilung des Status der Person, ob sie als Angestellter oder als freier Mitarbeiter einzustufen ist.
[47]
IBM hat vor kurzem die Cognitive Ära ausgerufen.30 Mit dem Projekt ROSS31 möchte IBM die Leistungsfähigkeit ihres Watson zeigen. Bisher steckt in diesem Bereich vor allem viel Phantasie, Hoffnung und Erwartung. Die Fantasie geht so weit, dass manche Bereits das Ende der Anwaltschaft sehen.

2.2.

Erwartete Entwicklungen ^

[48]
Die Etablierung der digitalen Akte und der Einsatz von Software zur digitalen Sachverhaltsbearbeitung sind nur noch eine Konsequenz der Digitalisierung. Es wird erwartet, dass Teile der Wertschöpfung des Rechtsanwaltes durch intelligente Systeme geleistet werden können. Es soll sich dabei um Arbeitsschritte handeln, die ohnehin einen sehr formellen Charakter haben und daher nicht als Essenz der anwaltlichen Leistung verstanden werden. Aktuell wird die kreative anwaltliche Arbeit nicht als automatisierbar gesehen. Auch die Fortschritte in der KI scheinen daran nichts zu ändern.

2.3.

Fazit ^

[49]

Die Digitalisierung der anwaltlichen Wertschöpfung ist heute in Teilen bereits erreicht. Die Führung von digitalen Akten und das Arbeiten mit Werkzeugen zur digitalen Sachverhaltsanalyse sind in Teilen bereits etabliert und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der durchgängige Einsatz solcher Werkzeuge selbstverständlich ist. Man muss mit großer Aufmerksamkeit die Entwicklung bei den Expertensystemen betrachten. Wird die KI hier solche Fortschritte machen? Wird es Geschäftsmodelle geben, die einen wirtschaftlichen Einsatz solcher Technologien ermöglichen? Sollte dies nun erstmalig gelingen, werden wir eine Zeitwende in der Anwaltschaft vor uns haben.

  1. 1 John Donne (1572–1631).
  2. 2 Dies ist in § 51 Abs. 1 BRAO – Bundesrechtsanwaltsordnung – geregelt.
  3. 3 http://bea.brak.de/was-ist-das-bea/.
  4. 4 Weiterführende Informationen zum EGVP unter: http://www.egvp.de/.
  5. 5 http://www.bitkom-research.de/WebRoot/Store19/Shops/63742557/53EC/8570/9883/FF8A/7516/C0A8/2ABB/0ACE/BITKOM-Presseinfo_E-Mail-Nutzung_in_Deutschland_und_der_EU_30_07_2014.pdf.
  6. 6 https://www.test.de/Anwaltssuche-Der-beste-Weg-zum-Anwalt-4502589-0/?mc=kurzurl.anwaltssuche.
  7. 7 https://en.wikipedia.org/wiki/Legal_Electronic_Data_Exchange_Standard; https://ledes.org/.
  8. 8 http://thomsonreuters.com/en/products-services/legal/corporate-and-government-management/serengeti-tracker.html.
  9. 9 https://www.frag-einen-anwalt.de/.
  10. 10 https://www.jurato.de/.
  11. 11 https://www.edicted.de/.
  12. 12 http://www.flightright.de/.
  13. 13 http://www.flightright.de/ihre-rechte/flugverspaetung-entschaedigung.
  14. 14 https://de.wikipedia.org/wiki/Fluggastrechte.
  15. 15 http://www.dentons.com/de/.
  16. 16 http://www.nextlawlabs.com/.
  17. 17 Bekannte Lösung für die Insolvenzverwaltung ist die Produktfamilie winsolvenz – http://www.stp-online.de/loesungen/fuer-die-insolvenzverwaltung/.
  18. 18 Bundesrechtsanwaltskammer – www.brak.de.
  19. 19 Veröffentlichung der Ergebnisse der Umfrage – http://www.brak-mitteilungen.de/media/BRAKMagazin_2_2014.pdf.
  20. 20 http://www.lexisnexis.com/litigation/products/ediscovery.
  21. 21 http://www.lexisnexis.com/litigation/products/ediscovery/concordance.
  22. 22 http://e-akte.jurion.de/.
  23. 23 http://www.normfall.de/.
  24. 24 http://www.mj.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=37350&article_id=138147&_psmand=13#e2A. Demovideo: http://www.mj.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=35296&article_id=126493&_psmand=13.
  25. 25 https://www.edvgt.de/media/Tagung14/Praesentationen/Konzept_eJustice-Arbeitsplatz_26_09_2014.pdf.
  26. 26 https://leverton.de/.
  27. 27 http://compliancehr.com/.
  28. 28 http://www.littler.com/.
  29. 29 http://www.neotalogic.com/.
  30. 30 http://www.ibm.com/cognitive/outthink/.
  31. 31 http://www.rossintelligence.com/.