1.
Einleitung ^
Eine der wesentlichen Aufgaben der Rechtsinformatik ist die Überwindung der Textgebundenheit der Rechtsinformatik, weil die Kosten für die rechtliche Kommunikation im Wissens- und Netzwerkzeitalter bei alleiniger Nutzung von Text- und Sprachmedien zu hoch sind. Mit dem Internet spielen zwar die Beschaffungs- und Verteilungskosten fast keine Rolle mehr. Aber trotz leichter Verfügbarkeit der Materialien und leistungsstarker Suchmaschinen ist sehr aufwändig geworden, immer auf dem letzten Stand zu bleiben. Die notwendige Effizienzsteigerung kann nur dadurch erreicht werden, wenn ein Modell des Rechtssystems geschaffen wird, dass die Rolle der Stakeholder abbilden kann als auch semantische Kommunikation mit hoher Effizienz erlaubt. Netzwerke sind eine wesentliche Ergänzung der Rechtsinformation als auch der Formalisierung. Damit können nicht nur die Kommunikationsakte in der Rechtsordnung und deren Relevanz wesentlich besser beschrieben werden. Es wird damit auch der Weg zu einer Theoriebildung in der Rechtsinformatik gestärkt.
Im Recht gibt die Kooperationsstruktur die Netzwerkstruktur vor. «Kooperation» ist das zweckgerichtete Zusammenwirken von Aktionen von Lebewesen, Menschen oder Organisationen, die durch Arbeitsteilung ein gemeinsames Ziel besser erreichen wollen. Ohne Kooperation gibt es keine Systembildung. Die Rolle im Netzwerk reflektiert die Bedeutung als Stakeholder des Systems (oder nach Fritjof Haft als Autorität des Rechts)4. Derzeit ist es ein System mit Menschen; zunehmend spielen Maschinen eine Rolle (z.B. FinanzOnline). Typisch für das Recht ist zusätzlich, dass auch Dokumente eine wichtige Eigenrolle spielen – bahnbrechende Gesetze, Leitentscheidungen, aber auch Flaggschiff-Kommentare. Daher ist es naheliegend, auch das Rechtssystem als ein Bündel von Netzwerken zu verstehen und zu analysieren. Die Vernetzung der Dokumente ist ein wesentlicher Mehrwert von Rechtsinformationssystemen (Netzwerksicht des Rechts nach Qiang Lu und Jack Conrad).5
2.
Netzwerkeffekt ^
Als Faustregel wurde von Robert Metcalfe das sogenannte Metcalfe’sche Gesetz über das Kosten-zu-Nutzen-Verhältnis von Kommunikationssystemen entwickelt.7 Demnach wächst der Nutzen eines Kommunikationssystems proportional zur Anzahl der möglichen Verbindungen zwischen den Teilnehmern (also etwa dem Quadrat der Teilnehmerzahl); die Kosten hingegen nur proportional zur Teilnehmerzahl steigen. Rod Beckstrom hat dies in einer erstmals 2008 veröffentlichten Berechnungsmethode verfeinert.8
3.
Relevanz des Netzwerkeffekts im Recht ^
Reine Rechtslehre. 2. Aufl.,Deuticke, Wien, S. 196 ff. (1960)An sich sind im Rechtssystem die Rechte und Pflichten der Personen (mehr oder weniger) durch die Verfassung bestimmt; dies gilt natürlich auch für die durch positives Recht geschaffenen Institutionen und deren Aufgaben und Funktionen.9 Dieses Recht schafft durch entsprechende Sanktionen ausreichende Anerkennung. Mehr Recht ist daher mit mehr Rechtsbeziehungen verbunden; je mehr es davon gibt, umso höher ist die Anerkennung und damit der Nutzen des Rechts, insbes. für die Wirtschaft (ubi ius, ibi commercium).
Die Wissens- und Netzwerkgesellschaft zeichnet sich auch für wesentlich intensivere Informations- und Kommunikation im Recht aus, was zu einer ständigen und nachhaltigen Veränderung des Wissensnetzwerks Rechts geführt hat. 11 War früher die juristische Bibliothek, die eigenen Akten und das persönliche Netzwerk Kern des Wissensmanagements, so sind es heute die elektronisch verfügbaren Informationsquellen, die eigenen Dateien, oft schon in der Cloud, die Beteiligung an den semantischen und Sozialen Netzwerken sowie ergänzend und nach wie vor wesentlich das persönliche Netzwerk des Juristen. Das Potential von Sozialen Netzwerken ist im juristischen Bereich bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Noch im Bereich der intelligenten Formulare bewegt sich die Beteiligung am semantischen Web. Mit (semi)automatischer Bearbeitung von semantisch eindeutig strukturierten Anfragen könnte wesentlich mehr Rechtshilfe bei «Standardfällen» geboten werden, und zwar sowohl vom öffentlichen als auch vom privaten Sektor (z.B. Probe-Einkommensteuererklärung, Probe-Mietvertrag, Probe-Arbeitsvertrag).
4.
Das Internet als Kommunikationsplattform der juristischen Agora ^
Das Internet ist nunmehr die wesentliche Kommunikationsplattform der Juristen. War früher die Zahl der wesentlichen Informationsanbieter schon durch die Ressourcen beschränkt, ist diese Schranke nunmehr wesentlich reduziert. Die formalen Kommunikations- und Handlungsformen (Gesetzesentwurf, Gesetz, Klage, Schriftsatz, Plädoyer, Urteil, Handbuch, Kommentar etc.) sind schon aus rechtlichen Gründen unverzichtbar, stehen aber kommunikationsmäßig neben den informellen Kommunikations- und Handlungsformen. Dadurch wird die juristische Agora vielschichtig. Sie besteht aus den Kommunikationsforen des Gesetzgebers, der Gerichte, den Diskussionsforen der Wissenschaft, dem öffentlichen Dialog in Massenmedien und in Sozialen Netzwerken etc.; dazu gibt es eine Vielfalt von bi- und multilateralen Dialogen.
Die sehr papiergebundene bzw. physische Kommunikation vor Ort wird zunehmend elektronisch durchgeführt. Elektronischer Rechtsverkehr, Austausch von Dokumenten per E-Mail oder Cloud, Online-Treffen, etc. ist nunmehr wesentlicher Teil der Kommunikationsoptionen von Juristen. Papier bleibt bedeutsam; aber viel eher als effizienteres und bequemeres Arbeitsmittel als auch Papierdokument an sich.
Aus der Sicht der Rechtsinformatik ist bedeutsam, dass damit die notwendige und auch gewünschte Vielfalt von Kommunikationsformen möglich ist. Normen oder Urteile werden nicht mehr nur im Gesetzblatt bzw. Gerichtssammlung elektronisch publiziert, sondern finden sich auch in einer Zusammenfassung auf den Homepages oder auch sozialen Websites der jeweiligen Ministerien oder Gerichtshöfe bzw. in visualisierter Form in einer Bürgerinformationsplattform; dazu könnte es ein logisch-ontologisches Wissenssystem geben. Die juristische Diskussion erweitert sich von Beiträgen in juristischen Fachzeitschriften um Blogs, Statements in sozialen Medien etc. Der Austausch wird vielschichtiger, flexibler, wechselseitiger und auch schneller. Es wird an innovativen Verlagen liegen, diese Vielfalt entsprechend aufzubereiten. Des Weiteren wird eine neue Form der wechselseitigen Kommunikation mit der Öffentlichkeit gefunden werden müssen. Ein in der Praxis erst in Ansätzen befindliches Feld ist die semantische Kommunikation. In der AI & Recht-Forschung wurden bereits wesentliche Grundlagen geschaffen.14
5.
Die wesentlichen Netzwerke im Recht ^
Wenn auch das persönliche Netzwerk subjektiv am bedeutsamsten erscheint; für die Rechtsordnung sind die Netzwerkbündel wesentlich. Über diese definieren sich die Rollen der Stakeholder des Systems (oder nach Fritjof Haft der Autoritäten des Rechts)15 und ihre Beziehungsgeflechte. Menschen sind dominant, aber Maschinen spielen als Automaten eine immer stärkere unterstützende Rolle. Typisch für das Recht ist das Eigenleben von Dokumenten und ihren Relationen. Die Vernetzung der Dokumente ist ein wesentlicher Mehrwert von Rechtsinformationssystemen. Daher ist die Vernetzte Dokumentenwelt von großer Bedeutung. Weiters kann noch die Subsumption unterstützt werden, wenn eine Vernetzung mit der realen Welt und deren Repräsentationen erfolgt.
5.1.
Autoritäten der Rechtsordnung / Multi-Stakeholder-Ansatz ^
5.2.
Vernetzte Dokumentenwelt ^
Die Erweiterung des Textkopus im Sinne der 8 Sichtweisen-Theorie18 von Schweighofer (basierend auf dem Ansatz von Lu und Conrad) hat zwei Elemente der Vernetzung: Verweisungsnetzwerk bzw. Nutzerfeedback. Das Verweisungsnetzwerk beschreibt die Beziehungen zwischen den Dokumenten im Textkorpus; d.h. es wird dokumentiert, ob ein Dokument andere zitiert (Verweisungen) oder von anderen zitiert wird (Rückverweisungen). Wichtig ist hierbei, dass nicht nur die Dokumente selbst, sondern auch ihre Strukturelemente, wie Artikel, Sektionen, Paragrafen, Listen etc. zitiert werden. Des Weiteren ist eine Klassifikation der unterschiedlichen Formen der Verweisung erforderlich. Die Integration von Nutzerfeedback bedeutet, dass die Bewertung der breiten Öffentlichkeit in die Relevanz einfließen kann. Dies kann durch Rückverweisungen erfolgen; noch besser aber dadurch, dass Nutzerverhalten automatisiert gesammelt wird und bei entsprechender Dichte (d.h. ausreichender Zahl von anonymisierten Nutzungen) Schlussfolgerungen über die Relevanzbewertung durch die Nutzer gezogen werden.
5.3.
Sprachliche Brücken zur Wissenswelt und realen Welt ^
Die Größe des Textkorpus macht es erforderlich, dass für Dokumentationszwecke neben dem Dokumentennetzwerk weitere sprachliche Brücken gebaut werden. Als solche haben sich Thesauri bzw. lexikalische Ontologien und Lebenssituationen bewährt. Die Wissensnetzwerke zum juristischen Textkorpus werden informationswissenschaftlich oder bürgerfreundlich dargestellt. Soziale Netzwerke unterstützen persönliche Netzwerke und fallen daher nicht unter diese Gruppe.
5.3.1.
Thesaurus ^
Ein Thesaurus ist ein kontrolliertes Vokabular zur thematischen Beschreibung eines Wissensgebiets.19 Der Kern besteht aus einem System von Begriffen, die mit Relationen weiter beschrieben werden (z.B. Synonyme, Ober- und Unterbegriffe, gegenteilige Begriffe etc.). Damit wird die thematische Vernetzung der Dokumente zu einer Wissenssammlung möglich. In der EU wird EUROVOC eingesetzt.
5.3.2.
Lebenssituationen ^
6.
Duale Struktur der Netze und der Rechtsinformatik ^
Es können aber auch die Relationen betont sein und die Elemente in den Hintergrund treten. Das war in der Rechtstheorie der Fall, als Hans Kelsen mit der Reinen Rechtslehre einen Paradigmenwechsel hinsichtlich der Theorie der Person vorgeschlagen hat: Wurden bis dahin die Personen als Entitäten angesehen, die neben den Sachen zu den Grundelementen des rechtlichen Systems gezählt wurden, so brachte die Definition Kelsens, dass Personen nur die Einheit von Rechten und Pflichten seien21, eine grundlegende Änderung mit sich. Entgegen der bisherigen Substanz-Ontologie kam es zu einer Relationen-Ontologie, indem die rechtlichen Relationalelemente wie Rechte und Pflichten als tragende Elemente des Systems angesehen wurden.
7.
Schlussfolgerungen und Ausblick ^
- 1 Wikipedia DE, Netzwerk, https://de.wikipedia.org/wiki/Netzwerk (zuletzt abgefragt: 24. Januar 2016).
- 2 Reisinger, Leo, Strukturwissenschaftliche Grundlagen der Rechtsinformatik. Leykam, Graz (1987); Reisinger, Leo, Rechtsinformatik. Walter de Gruyter, Berlin/New York (1977).
- 3 Saarenpää, Ahti, Legal Informatics Today, The View from The University of Lapland. In: Erich Schweighofer, Ahti Sarenpää, Janos Böszörmenyi (Hrsg.), Proc. KnowRi§ht 2012, OCG, Wien 2013, pp. 21–26 (2013).
- 4 Haft, Fritjof, Juristische Schreibschule, Anleitung zum strukturierten Schreiben. Edition Normfall, Frankfurt, S. 225 ff. (2009). Der Text «Das Zitieren von Autoritäten» erschien erstmal 1994.
- 5 Lu, Qiang, Conrad, Jack, Next generation legal search – It’s already here. In: VoxPopuLII, https://blog.law.cornell.edu/voxpop/2013/03/28/next-generation-legal-search-its-already-here/ (zuletzt abgefragt: 3. Februar 2016) (2013).
- 6 Wikipedia DE, Netzwerkeffekt, http://de.wikipedia.org/wiki/Netzwerkeffekt (zuletzt abgefragt: 17. Januar 2016).
- 7 Seine Überlegungen wurden durch Georg Gilder publiziert: Metcalfe’s Law and Legacy, zuerst publiziert: Forbes ASAP, September 13, 1993, online verfügbar: http://www.seas.upenn.edu/~gaj1/metgg.html (zuletzt abgefragt: 17. Januar 2016) (1993).
- 8 Beckström, Rod, The Economics of Networks and Cybersecurity. Präsentation:
- 9 Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 196 ff. (1960).
- 10 Wikipedia DE, Rechtssoziologie, https://de.wikipedia.org/wiki/Rechtssoziologie (zuletzt abgefragt: 3. Februar 2016); Zippelius, Reinhold, Grundbegriffe der Rechts- und Staatssoziologie, 3. Auflage, Mohr Siebeck, Tübingen (2012); Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Mit textkritischen Erläuterungen hrsg. von Johannes Winckelmann, 5., rev. Aufl., Mohr, Tübingen 1976 (1922).
- 11 Vgl. Schweighofer, Erich, Von der Wissensrepräsentation zum Wissensmanagement im e-Government. In: Schweighofer, Erich et al. (Hrsg.), IT in Recht und Staat, Aktuelle Fragen der Rechtsinformatik 2002, Verlag Österreich, S. 85–94 (2002).
- 12 Geist, Anton, Rechtsdatenbanken und Relevanzsortierung, Dissertation, Universität Wien, in Fertigstellung (2016).
- 13 Z.B. für viele die Kolumne Legal§People, Branchen-News aus der Welt des Rechts des Rechtspanoramas der österreichischen Tageszeitung «Die Presse», http://diepresse.com (zuletzt abgefragt: 8. Februar 2016).
- 14 Einen guten Überblick geben die Tagungsbande der JURIX- bzw. der ICAIL-Konferenzen.
- 15 Haft (2014), FN 4.
- 16 Kleinwächter, Wolfgang, Es herrscht kalter Krieg. In: iRights Media (Hrsg.), Das Netz 2012, iRights Media (2012); Schweighofer, Erich, Praktische Voraussetzungen für das Internet als Instrument der Demokratie. In: MIND, #5: Internet und Demokratie, Juni 2013, 42–43 (2013).
- 17 Vgl. Steinmüller, Wilhelm, Informationstechnologie und Gesellschaft, Einführung in die Angewandte Informatik, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (1993).
- 18 Schweighofer, Erich, Rechtsdatalystik – Versuch einer Teiltheorie der Rechtsinformatik. In: Schweighofer, Erich, Kummer, Franz, Hötzendorfer, Walter (Hrsg.), Kooperation, Tagungsband des 18. Internationalen Rechtsinformatik Symposions IRIS 2015, 26.–28. Februar 2015, books@ocg.at, Wien 2015, 61–72 (2015).
- 19 Schweighofer, Erich, Juristische Thesauri und Rechtssprache. In: Erich Schweighofer, Franz Kummer, Walter Hötzendorfer, (Hrsg.), Abstraktion und Applikation, Tagungsband des 16. Internationalen Rechtsinformatik Symposions IRIS 2013, 21. –23. Februar 2013, books@ocg.at, Wien 2013, 389–392; Wikipedia DE, Thesaurus, https://de.wikipedia.org/wiki/Thesaurus (zuletzt abgefragt: 3. Februar 2016).
- 20 Website HELP.gv.at, https://www.help.gv.at (zuletzt abgefragt: 3. Februar 2016); vgl. auch den Beitrag von Andreas Krenmayr, Roland Traunmüller, Bürgerinformationssysteme und semantische Technologien, in diesem IRIS-Tagungsband (2016).
- 21 Kelsen (1960), FN 9, S. 177.
- 22 Leibniz, Gottfried Wilhelm, Monadologie, Philipp Reclam jun., 7853, Stuttgart (1998).
- 23 Lachmayer, Friedrich, Das tertium comparationis im Recht, In: Ulfried Neumann et al. (Hrsg.), Verantwortetes Recht, Die Rechtsphilosophie Arthur Kaufmanns, ARSP Beiheft Nr. 100, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, S. 68 (2005).