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Internet-Trends bringen neue Fragestellungen für die Rechts- und Verwaltungsinformatik

  • Author: Jörn von Lucke
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: E-Government
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2017
  • Citation: Jörn von Lucke, Internet-Trends bringen neue Fragestellungen für die Rechts- und Verwaltungsinformatik, in: Jusletter IT 23 February 2017
Das Internet ist mittlerweile das größte zusammenhängende Computernetzwerk der Welt. Ausgehend vom Häfler Stufenmodell für die Entwicklung des Internet und des World Wide Webs werden fünf Trends und einige ausgewählte, mit ihnen verbundene Internet-Effekte betrachtet. Wissenschaftler der Rechtsinformatik und der Verwaltungsinformatik müssen reflektieren, welche Forschungsfragen sich aus diesen Internet-Trends und Internet-Effekten ableiten. Zugleich müssen sie prüfen, inwieweit diese Fragen noch zu beantworten sind oder diese bereits beantwortet wurden.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Forschungsfrage: Neue Fragestellungen aus den Internet-Trends
  • 2. Häfler Stufenmodell für die Entwicklung des Internet und des World Wide Webs
  • 3. Effekte durch das Internet der Systeme: Herausforderungen für Electronic Justice und Electronic Government
  • 4. Effekte durch das Internet der Menschen: Herausforderungen für Open Justice und Open Government
  • 5. Effekte durch das Internet der Daten: Herausforderungen für Open Justice Data und Open Government Data
  • 6. Effekte durch das Internet der Dinge und das Internet der Dienste: Herausforderungen für Smart Justice und Smart Government
  • 7. Effekte durch das taktile Internet: Herausforderungen für Real-Time Justice und Real-Time Government
  • 8. Zusammenfassung
  • 9. Literatur

1.

Forschungsfrage: Neue Fragestellungen aus den Internet-Trends ^

[1]
Zukunftsforscher beschäftigen sich mit vielen Trends, die für die Zukunft relevant sein könnten. Die große Herausforderung ist es, aus der Vielzahl jene zu identifizieren, die prägend für die weitere Entwicklung sein werden. Zugegeben haben die TCP/IP-Protokoll-Suite und das auf ihnen basierende Internet in den vergangenen Jahrzehnten besonders viele Veränderungen für Wirtschaft, Verwaltung, Justiz und Gesellschaft ausgelöst. Da diese Technologien von vielen, weltweit verteilt wirkenden Akteuren und Institutionen immer weiterentwickelt und optimiert werden, wird hier auch in den kommenden Jahren mit substantiellen Veränderungen zu rechnen sein. Aus diesem allgemeinen Trend heraus stellt sich die Frage, welche zentralen Effekte bei den prägenden Entwicklungslinien zu erwarten sind. Aus diesen Trends und Effekten lassen sich konkrete Forschungsfragen für die Rechtsinformatik und die Verwaltungsinformatik ableiten, die sich mit der IT-gestützten Gestaltung des Handelns von Politik, Gesetzgebung, Administration und Justiz auseinandersetzen.
[2]
Ausgehend vom Häfler Stufenmodell für die Entwicklung des Internet und des World Wide Webs (Abschnitt 2) wird dieser Beitrag einen Blick auf fünf Internet-Trends (Abschnitt 3-7) sowie einige ausgewählte und diese prägende Effekte werfen. Diese Trends und Effekte sind auch für den öffentlichen Sektor mit echten Herausforderungen verbunden. An ihnen können die vorhandenen Gestaltungs- und Veränderungspotentiale für Justiz und Verwaltung am besten aufgezeigt werden.

2.

Häfler Stufenmodell für die Entwicklung des Internet und des World Wide Webs ^

[3]

Im Rahmen von Lehre und Forschung wird an der Zeppelin Universität das Häfler Stufenmodell für die weitere Entwicklung des Internet und des World Wide Webs (Tabelle 1) [von Lucke 2016, 175] verwendet. Es orientiert sich an den populären Marketing-Begriffen «Web 1.0», «Web 2.0», «Web 3.0», «Web 4.0» und «Web 5.0» und deren bisherigen Verwendungen in der Öffentlichkeit. Da diese Begriffe oft für ganz unterschiedliche Ideen, Konzepte und Produkte verwendet werden, soll mit dem Stufenmodell eine Struktur in die Diskussion und Entwicklung gebracht werden. Zweck des Modells ist es, mit den Studierenden, Wissenschaftlern und Partnern mit Blick auf die Vernetzung über das Internet und das World Wide Web über dieselben Inhalte zu sprechen.

Web 5.0 Taktiles Internet Netzwerkkommunikation nahezu in Echtzeit Real-Time Government
Web 4.0 Internet der Dinge & Internet der Dienste Smart Objekte, Cyberphysische Systeme Smart Government
Web 3.0 Internet der DatenSemantisches Web Linked Data, Open Data,Big Data, Big Data Analytics Open Government Data
Web 2.0 Internet der MenschenInternet zum Mitmachen Netzwerkkommunikation über Social Media Open Government
Web 1.0 Internet der SystemeWorld Wide Web Netzwerkkommunikation über das World Wide Web Electronic Government

 Tabelle 1: Häfler Stufenmodell für die weitere Entwicklung des Internet und des World Wide Webs

[4]
Das Häfler Stufenmodell (Tabelle 1) zeigt Entwicklungsschritte für das World Wide Web auf, die seit 1990 zu beobachten sind und als Trends des Internet bezeichnet werden können. Mit dem Internet der Systeme, dem Internet der Menschen, dem Internet der Daten, dem Internet der Dinge und dem Internet der Dienste wird die technische Entwicklung der Digitalisierung jedoch nicht abgeschlossen sein. Weitere Technologiefortschritte, etwa in Richtung des taktilen Internets, sind zu erwarten. Technisch handelt es sich bei diesen, in den folgenden Abschnitten noch näher aufzubereitenden Trends um evolutionäre Entwicklungen, die vom andauernden Ausbau der Bandbreiten und Fortschritten bei Datennutzung, Datenspeicherung, Datenverarbeitung und Datenkommunikation profitieren. Mit weiteren, durchaus signifikanten Entwicklungsschüben ist in den kommenden Jahren durch die verbesserten Maschine-zu-Maschine-Kommunikationsmöglichkeiten noch zu rechnen [von Lucke 2016, 174].

3.

Effekte durch das Internet der Systeme: Herausforderungen für Electronic Justice und Electronic Government ^

[5]
Das Internet selbst ist der weltweit größte zusammenhängende Verbund von Computernetzwerken, in dem alle beteiligten Rechner und Server auf Basis der Internet-Protokolle kommunizieren. 1989 entwarf Tim Berners-Lee am CERN mit dem World-Wide-Web-Dienst (Web 1.0 [Berners-Lee 1989]) ein hypertextbasiertes System zur Lösung von Organisationsproblemen im «Internet der Systeme». Diesem folgten 1990 ein Prototyp und seit 1993 viele marktfähige Produkte und Anwendungen für Internet, Intranet und Extranet [von Lucke 2016, 174–175]. Der seitdem andauernde rapide technische Fortschritt im Bereich von Servern, Software, Netzwerken und Bandbreiten sorgt für immer neue Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten.
[6]
In diesem Zusammenhang sind mehrere Internet-Effekte zu beobachten. Die zunehmende Digitalisierung, Vernetzung und Multimedialität ermöglicht eine Dematerialisierung und Digitalisierung von vielen Produkten und Dienstleistungen. Papier, Texte, Bilder, Musikstücke, Hörbeiträge und Filme lassen sich in Form von digitalen Dateien speichern und einfach über das Internet verbreiten. Dadurch entwickelt sich eine neuartige Konkurrenz zum bisherigen Angebot. Durch die Digitalisierung verändern sich auch die Kostenstrukturen. Im Digitalen lässt sich eine Dominanz der Fixkosten beobachten. Die Herstellungskosten des ersten digitalen Endprodukts sind für die Kostenkalkulation entscheidend. Da aber vom Original nahezu ohne zusätzliche Kosten beliebig viele digitale Kopien angefertigt werden können, tendieren die Grenzkosten gegen Null. Dies eröffnet ganz neue Kostenmodelle, die sich bei hohen Stückzahlen für die Anbieter besonders rasch rentieren [Rifkin 2014]. Über das Internet und die mobilen Datendienste sind Angebote und Produkte zudem ubiquitär verfügbar. Territoriale Grenzen spielen bei der Datenübertragung kaum noch eine Rolle. Die globale Zugänglichkeit eröffnet Organisationen einen weltweiten Vertrieb zu vertretbaren Kosten. Insofern ist es nicht überraschend, dass sich viele Unternehmen mit einem Fokus auf das Internet gegründet haben, die sich mit neuen und weltweit verfügbaren Dienst-, Geschäfts-, Preis- und Erlösmodellen gegenüber der Konkurrenz erfolgreich positionieren. Vor allem beim Vertrieb von Produkten profitieren diese vom langen Schwanz (Long Tail), also der Möglichkeit, bei einem Digitalvertrieb über räumlich verteilte Lager ein größeres Angebot anbieten zu können, das sich auch bereits bei überschaubarer Nachfrage rentiert [Anderson 2007].
[7]
Für die Rechtsinformatik stellen sich vor diesen Entwicklungen zahlreiche Forschungsfragen rund um das elektronisch unterstützte Handeln von Gesetzgebung (E-Legislation) und Justiz (E-Justice). Mit Forschungsfragen zum elektronisch unterstützten Regierungs- und Verwaltungshandeln (E-Government) setzt sich in diesem Zusammenhang die Verwaltungsinformatik auseinander. Im Kern geht es um die Gestaltung des Behördenhandelns mit Hilfe von Informationstechnik. Dies hat Auswirkungen auf die Aufbau- (Front-Office, Back-Office, Leistungsportfolio, Bürgerbüros, Dienstleistungszentren, Portale) und die Ablauforganisation (Neuausrichtung der Prozesse, Einführung von elektronischen Akten- und Vorgangsbearbeitungssystemen, elektronische Rechnung, elektronische Bezahlung) sowie die Zusammenarbeit. Die skizzierten Internet-Effekte lassen sich zur Neugestaltung des Kontakts mit den Bürgern, Angeklagten und Mittlern sowie des Vertriebs von Verwaltungsleistungen nutzen. In diesem Zusammenhang reicht es aber nicht, das bestehende Portfolio einfach anzupassen, also unreflektiert «in Softwarebeton zu gießen». Vielmehr müssen auch dort, wo dies einer effizienteren und effektiveren Erfüllung öffentlicher Aufgaben dient, neue Angebote und Dienste durchdacht, konzipiert, eingeführt und betrieben werden. Dabei sind die besonderen Anforderungen an Datenschutz und IT-Sicherheit zu berücksichtigen, denn der Staat trägt hier den Bürgern und den Unternehmen gegenüber eine besondere Verantwortung.

4.

Effekte durch das Internet der Menschen: Herausforderungen für Open Justice und Open Government ^

[8]
Tim O’Reilly skizzierte 2006 das durchaus schon wahrnehmbare Web 2.0 mit seinen neuartigen Entwurfsmustern und Geschäftsmodellen [OReilly 2006]. In diesem «Internet der Menschen» können Menschen dank der «gesellschaftlichen Medien» (Social Media) vielfältige Angebote und Dienste einfach nutzen, ohne Details über Handhabung, Funktionsweise, Programmierung und Schnittstellen kennen zu müssen. Das Angebot dieser zweiten Generation an Webdiensten ist sehr breit gefächert. Es umfasst unter anderem Text-, Bilder-, Musik-, Audio- und Videoplattformen, soziale Netzwerke, Kurznachrichten, Blogs, Wikis, Apps, Foren und Bewertungsgemeinschaften. Viele dieser sich selbst tragenden Angebote werden als Dienste aus der Cloud bereitgestellt. Ihren jeweiligen Betreibern liegt viel an einer laufenden Erweiterung, um deren Attraktivität, Nutzerzahl und gegebenenfalls Werbeumsatz zu steigern [von Lucke 2015, 17][von Lucke 2016, 175].
[9]
Das Internet der Menschen profitiert vor allem von den Netzwerkeffekten und den dadurch entstehenden positiven Rückkopplungen. Je mehr Menschen an einem Netzwerk(-dienst) teilnehmen, desto höher steigen dessen Reichweite, dessen Nutzerzahl, dessen Attraktivität und der damit verbundene Mehrwert für die Teilnehmer [Katz/Shapiro 1986][Shapiro/Varian 1999]. Einigen Anbietern gelingt der Aufbau von sowohl äußerst attraktiven als auch den Markt dominierenden Social-Media-Netzwerken, die der gesamten Konkurrenz nur noch geringe Marktanteile übrig lassen. Oft bieten sie ihre Dienste für die Nutzer kostenlos an, analysieren und vermarkten dann jedoch die generierten Nutzerdaten etwa für Werbezwecke, zur Einnahmegenerierung oder zum Schutz der (US-amerikanischen) nationalen Sicherheit. Um Nutzer an sich zu binden, erschweren Social-Media-Anbieter das Verlassen ihrer Netzwerke. All dies führt zu einem Ende der Privatheit, denn die Nutzer müssen damit rechnen, dass ihre Kommunikation im Internet der Menschen von Dritten ausgespäht und ausgewertet wird. Bei aller Beteiligungsfreude verlaufen Diskussionen und Debatten in Social Media nicht immer nur fair, konstruktiv und ausgleichend. Möglichkeiten der Anonymität und der Pseudonyme enthemmen einige Akteure. So genannte «Trolle» geben häufig abwertende, verletzende und hasserfüllte Beiträge und Kommentare von sich. All dies führt zu einem Strukturwandel von Öffentlichkeit im Internet. Social Media verfügen in der Regel über keine eigene filternde Chefredaktion, wie es sie zur Qualitätssicherung in den klassischen Medien gibt. Andererseits erfolgen Diskussionen und Debatten zunehmend transparenter. Alternativen, Argumentationen, Entscheidungen und Umsetzungen lassen sich über das Internet sehr transparent darstellen, analysieren und verfolgen. Durch die soziale Offenheit könnte sich theoretisch jeder einbringen, an Entscheidungen mitwirken und seine Teilhabe voll ausschöpfen. Durch das «Internet zum Mitmachen» eröffnen sich auch neue Formen der Zusammenarbeit. Aus Konsumenten können «Prosumenten» werden, die nicht nur wie bisher Vorgesetztes (Text, Bilder, Hörbeiträge, Videos) konsumieren, sondern auch eigene Beiträge produzieren und sich Angebote nach ihren eigenen Vorstellungen zusammenstellen und mit anderen teilen [Toffler 1983].
[10]
Dieses «Internet zum Mitmachen» bietet Staat, Verwaltung und Justiz neuartige Möglichkeiten zur Öffnung und für Transparenz, Mitwirkung und Zusammenarbeit. Dies kann zur Stärkung von Demokratie und Bürgergesellschaft beitragen. Die Rechtsinformatik beschäftigt sich mit der Gestaltung von «Open Legislation» und «Open Justice», also der Frage, an welchen Stellen offene, transparente und kollaborative Ansätze zu einer Verbesserung der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und der Abläufe führen könnten. Gleichzeitig muss sie über erforderliche Grenzen nachdenken, um Gesetzgebung und Justiz nicht durch ein Übermaß an Transparenz angreifbar zu machen. Die Verwaltungsinformatik beschäftigt sich dagegen mit dem breit interpretierbaren Sammelbegriff «Open Government». Konkret geht es um die inhaltliche Gestaltung von offenen Verwaltungsdaten, Transparenz 2.0, Bürgerbeteiligung 2.0, Zusammenarbeit 2.0, Informationsfreiheit, Open Innovation, offene Standards, offene Schnittstellen und Open-Source-Software aus staatlicher Sicht. Auch hier stellen sich Fragen nach den Grenzen, etwa beim Datenschutz und der IT-Sicherheit. Sollten andere Staaten oder Feinde der offenen Gesellschaft sich vorhandener Social Media bedienen, um mit Desinformation, Gegenpropaganda und gezielten Netzangriffen die öffentliche Ordnung zu stören und den Staat zu destabilisieren, so muss der wehrhafte Staat dagegen vorgehen.

5.

Effekte durch das Internet der Daten: Herausforderungen für Open Justice Data und Open Government Data ^

[11]
Tim Berners-Lee et al. entwarfen 2001 bereits eine Vision eines semantischen Webs, in dem Daten und Informationen für Computer verwertbar sind [Berners-Lee/Hendler/Lassila 2001]. Das «Internet der Daten» (Web 3.0) vernetzt mittlerweile vorhandene Datenbestände und erschließt sie so für eine offene Weiternutzung durch Dritte. Durch eine Öffnung ihrer Daten (Open Data) und deren Vernetzung (Linked Open Data) bieten sich für Behörden, Unternehmen, Verbände und Vereine neuartige Perspektiven zur Integration, Analyse, Bewertung und Nutzung von großen wie vielfältigen Datenbeständen, die künftig nach Möglichkeit in Echtzeit auszuwerten sind (Big Data). Gerade in diesen Bereichen besteht für den öffentlichen Sektor auf Basis seiner Datenbestände (Open Government Data) ein großes Potential zur Generierung von zusätzlichem Wirtschaftswachstum [von Lucke 2015, 17][von Lucke 2016, 175].
[12]
Offene und zur weiteren Nutzung frei zugängliche Datenbestände erzeugen weitere Effekte, denn die an diesen Daten Interessierten werden sie sich herunterladen, analysieren und nach eigenen Vorstellungen verarbeiten und verwerten. Dies kann zum Beispiel zu einer Veredelung der Datenbestände, zu neuartigen Visualisierungen und zu neuen Anwendungen führen. Das trägt zur Stärkung der Datenwissenschaften (Data Science) bei, also einer auf Daten gestützten und statistischer Analyse und Methodik fundierten Wissenschaft, die Wissen aus Daten extrahiert. Gerade die zunehmend so ausgebildeten Datenanalysten werden künftig dazu beitragen, dass die von ihnen noch zu entwickelnden datengetriebenen Lösungen neue Antworten auf bestehende Probleme und Herausforderungen liefern werden, an die bisher aus verschiedensten Gründen nicht zu denken war. Mit zunehmender Verarbeitungskapazität werden solche Lösungen den Anforderungen von Big Data Analytics gerecht [Dhar 2013]. Eine solche datenorientierte Herangehensweise bedeutet aber auch, übrigens ganz im Gegensatz zu einer postfaktischen Politik, dass evidenzbasierte Entscheidungen eine zunehmend wichtigere Rolle für Meinungsbildung, Entscheidung und Management spielen werden. Zudem sind die Effekte einer Datenökonomie zu berücksichtigen, in der datengestützte Unternehmen durch ihre Aktivitäten, Produkte und Dienstleistungen einen nicht zu vernachlässigenden Beitrag zum Bruttosozialprodukt beitragen [Gruen/Houghton/Tooth 2014].
[13]
Das «Internet der Daten» eröffnet Staat, Verwaltung und Justiz vielfältige Möglichkeiten zu Bereitstellung und Nutzung von Daten zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Datenschutz und Datensicherheit (IT-Sicherheit) sind in diesem Zusammenhang ganz entscheidende Herausforderungen, mit denen sich staatliche Stellen seit mehr als 50 Jahren intensiv auseinander setzen müssen. Laufend werden datenschutzkonforme Lösungen erarbeitet und überprüft, die aus unterschiedlichen Gründen und durch die technische Weiterentwicklung eigentlich ständig wieder in Frage gestellt werden. Die Rechtsinformatik setzt sich zudem mit Forschungsfragen auseinander, inwieweit offene und vernetzte Datenbestände etwas zur Verbesserung der Abläufe, Prozesse und Verfahren in Gesetzgebung und Justiz beitragen können. Die Verwaltungsinformatik stellt sich dieselbe Fragestellung mit Bezug auf das Regierungs- und Verwaltungshandeln. Während einerseits oft gefragt wird, welches Wissen aus vorhandenen Datenbeständen generiert werden könnte, sollte auch überlegt werden, welche «Public-Big-Data»-Bestände, etwa im Bereich von Bildung, Wissenschaft, Kunst, Kultur und Medien, vernetzt aufzubauen sind, um dauerhaft neues Wissen zu generieren und zu etablieren.

6.

Effekte durch das Internet der Dinge und das Internet der Dienste: Herausforderungen für Smart Justice und Smart Government ^

[14]
Die vierte Generation der Web-Technologien (Web 4.0) wird vom Internet der Dinge und vom Internet der Dienste geprägt. Das Internet der Dinge verbindet intelligent vernetzte Objekte mit ihren Sensoren und Aktoren sowie die darauf aufsetzenden cyberphysische Systeme über die IP-Protokolle. Eingebettete Alltagsgegenstände und cyberphysische Systeme lassen sich von Personen, Programmen, Diensten und Datenpaketen über eine IP-Adresse eindeutig identifizieren, ansprechen, nutzen und gegebenenfalls auch steuern. Das Internet der Dinge steht damit für die globale «elektronische Vernetzung von Alltagsgegenständen» [BMBF 2013] und den direkten gegenseitigen Informationsaustausch von Objekten ohne menschliche Eingriffe im Sinne einer echten Kommunikation von Maschine zu Maschine. Im Internet der Dienste werden Dienste und Funktionalitäten als feingranulare Softwarekomponenten abgebildet und von Providern auf Anforderung über das Internet zur Verfügung gestellt werden. Web Services, Cloud Computing und standardisierte Schnittstellen ermöglichen dies. Die einzelnen Softwarebausteine sind so miteinander integrierbar. Die enge Verzahnung des Internet der Dienste mit dem Internet der Dinge beruht darauf, dass sich eine Reihe an realen Dingen wie etwa Papier bei mindestens gleichwertiger Funktionalität auch in webbasierte Dienste überführen und um ergänzende durchdachte Funktionen erweitern lassen. Vor allem durch die direkte Maschine-zu-Maschine-Kommunikation eröffnen sich hier zahlreiche neue Ansätze, die bei konsequenter Umsetzung grundlegende Veränderungen und mit smarten Objekten auch einen Einstieg in «Smart Government» bedeuten [von Lucke 2015, 18–19][von Lucke 2016, 175].
[15]
Die direkte Kommunikation von Maschinen untereinander und ohne Einbindung von Menschen wird den signifikantesten Effekt haben, weswegen mit Blick auf die industrielle Nutzung bereits von der «vierten industriellen Revolution» gesprochen wird. IT-Systeme werden sich zunehmend eigenständig informieren und eine Situation analysieren, aber auch automatisch und autonom Entscheidungen treffen und diese umsetzen. Sensoren und sensorbasierte Datensammlungen werden in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle einnehmen, denn Industrie, Wirtschaft, Politik, Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz werden sich zunehmend auf sie verlassen. Sensorbasierte Entscheidungen und sensorbasierte Rückkopplungen werden bei Entscheidungen an Einfluss gewinnen. Menschen werden durch entscheidende Systeme eher in den Hintergrund gedrängt und zu Objekten heruntergestuft, deren Verhalten andererseits durch Raum und Zeit voll verfolgbar wird. Sorge bereiten jene Akteure, die die Sensoren manipulieren, um Systeme durch unzutreffende Eindrücke zu ihren Gunsten zu steuern. Neue smarte Lösungen werden zudem zu Disruption und Transformation führen, wenn die cyberphysischen Systeme im Hintergrund den bisherigen Ansätzen an Nutzen, Flexibilität, Qualität und Wirksamkeit überlegen sind. Mit einer grundlegenden Marktbereinigung und einer Konvergenz von Märkten ist gerade hier zu rechnen.
[16]
Das Internet der Dinge und das Internet der Dienste, vor allem smarte Objekte und cyberphysische Systeme, verfügen über das Potential, mit ihrer neuartigen Funktionslogik bestehende Systeme substantiell zu übertreffen. Damit können sie disruptive Wirkungen auslösen, mit denen nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch der Staat, die Gesetzgeber, die öffentliche Verwaltung und die Justiz konfrontiert wären [von Lucke 2016, 174]. Rechtsinformatik und Verwaltungsinformatik müssen sich den Fragen stellen, welche intelligent vernetzten Objekte und welche cyberphysischen Systeme Staat, Verwaltung und Justiz zur wirtschaftlichen wie sparsamen Erfüllung öffentlicher Aufgaben benötigen. Zugleich muss abgeklärt werden, welche vorhandenen smarten Objekte und welche vorhandenen cyberphysischen Systeme schon heute eingesetzt werden könnten beziehungsweise wo Grenzen bei deren Einsatz zu ziehen sind, damit aus dem Staat kein Überwachungsstaat wird. Aus der Gestaltung des Internet der Dinge und des Internet der Dienste ergibt sich ein enormer Rechtsgestaltungsbedarf für den Gesetzgeber, etwa wenn es darum geht, den zulässigen Handlungsraum von autonomen Drohnen und autonomen, vernetzten und selbstfahrenden Automobilen zu bestimmen. Zudem müssen offene Standards und offene Schnittstellen vereinbart werden, um eine Interoperabilität zwischen den verschiedenen Systemen, Anbietern und Akteuren zu gewährleisten [von Lucke 2015, 32–33].

7.

Effekte durch das taktile Internet: Herausforderungen für Real-Time Justice und Real-Time Government ^

[17]
Das taktile Internet (Web 5.0) als erkennbare nächste Entwicklungsstufe des Internet wird dafür sorgen, dass in einem Jahrzehnt über Gigabit-breitbandige Netzwerke und die künftige fünfte Mobilfunkgeneration (5G) eine Netzwerkkommunikation und ein Handeln nahezu in Echtzeit erfolgen können. Durch minimale Reaktionszeiten im Millisekundenbereich, höchste Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit und Sicherheit wird es einen weiteren Innovationsschub für Wirtschaft und Gesellschaft bringen. Es ermöglicht durch taktile und haptische Sinneseindrücke eine neue Dimension in der Mensch-Maschine-Kommunikation und beschleunigt zugleich die Interaktion von Maschinen [VDE-ITG 2014][von Lucke 2015, 25][von Lucke 2016, 175–176].
[18]
Das taktile Internet wird zahlreiche Effekte zur Folge haben, die derzeit in ihrem Umfang weder voll abschätzbar noch vorstellbar sind. Die minimalen Reaktionszeiten im Millisekundenbereich bei höchster Verfügbarkeit erlauben ein Echtzeitprinzip über größere Distanzen. Von Sendern ausgelöste Impulse haben dann nahezu in Echtzeit Reaktionen beim Empfänger zur Folge. Zuverlässig und vor Unberechtigten geschützt können so Eingriffe aus der Ferne ausgelöst oder begleitet werden. Diese steuernden Eingriffe eröffnen neue Möglichkeiten zur Steuerung von schnell beweglichen Teilen, Robotern oder anderen smarten Objekten. In Verbindung mit optischen Sensoren und smarten Brillen ergeben sich neue Ansätze für die virtuelle Realität und die erweiterte Realität. Dies bietet neuartige Perspektiven für Montage- und Reparaturarbeiten, Telechirurgie, Assistenzsysteme, kooperative Verkehrssysteme und Lernumgebungen. Nutzer müssen aber permanent mit Aktualisierungen rechnen, was die Komplexität entsprechender Systeme erhöhen wird [VDE-ITG 2014].
[19]
Staat, Justiz und Verwaltung stehen hier vor der Frage, in welchen Bereichen Investitionen in eine «Real-Time Justice» und ein «Real-Time Government» zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben sinnvoll und vertretbar wären [von Lucke 2016, 176]. Visuell aufbereitete Zusatzinformationen und Assistenzdienste, die automatisch aus den Akten heraus generiert werden können, ermöglichen neuartige Ansätze für Strafprozess- und Verwaltungsverfahren. Drohnen und Roboter können Menschen bei Analyse-, Montage- und Reparaturarbeiten entlasten und so dringend gesuchte Produktivitätsreserven freisetzen. Zugleich muss aber auch über Grenzziehungen nachgedacht werden, denn nicht alles, was in Echtzeit aus der Ferne möglich wäre, ist aus Sicht des Staates oder der Bevölkerung auch wünschenswert. Beispielsweise wäre erstmals ein staatlicher Zugriff auf (selbstfahrende autonome) Kraftfahrzeuge aus der Ferne vorstellbar, etwa um diese aus triftigem Grunde anzuhalten und aus dem Verkehr zu ziehen. Aber wäre dies auch wirklich wünschenswert oder handelt es sich gar um einen unzulässigen Eingriff in den Straßenverkehr? Und wie anfällig sind Staaten, wenn es Unberechtigten, Kriminellen oder Cyberkriegern gelingen würde, solche Systeme als Waffen gegen die herrschende Ordnung und die Gesellschaft einzusetzen?

8.

Zusammenfassung ^

[20]
Mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte lässt sich feststellen, dass sich die Informationstechnik und deren Vernetzung «atemberaubend» entwickelt haben. Vor allem die Internet-Protokolle und das Internet sorgen für eine weltweite Vernetzung von Systemen, Menschen, Daten, Dingen und Diensten. Es ist zu erwarten, dass diese künftig nahezu in Echtzeit miteinander kommunizieren können. Dies wird auch Folgen für Staat, Verwaltung und Justiz haben, mit denen sich Wissenschaft, Politik und Verwaltung frühzeitig auseinander setzen sollten und diese nach den eigenen Vorstellungen, etwa mit Blick auf Datenschutz und eine offene, freie Gesellschaft, gestalten zu wollen. Ansonsten droht die Gefahr, als Beobachter nur zu staunen und als Konsument woanders vorgefertigte Lösungen mit allen Risiken und Nebenwirkungen einkaufen zu dürfen, ohne Einfluss auf die Entwicklung und deren Betrieb zu haben.
[21]
Wissenschaftler der Rechtsinformatik und der Verwaltungsinformatik sind daher gleichermaßen gefordert zu beobachten, zu beschreiben und zu erklären, sich vor allem aber gestaltend zu Wort zu melden und mit der Praxis Lösungen zu entwickeln und zu realisieren, die den eigenen Anforderungen und Erwartungen entsprechen. Dieser Beitrag hat fünf relevante Internet-Trends aufgezeigt, aus denen sich jetzt und künftig Gestaltungs- und Veränderungspotentiale für Justiz und Verwaltung ableiten lassen. Einige der damit verbundenen Forschungsfragen sind schon beantwortet worden. Andere müssen noch gelöst werden. Eine Herausforderung wird in der Umsetzung von geeigneten Vorschlägen liegen. Mit Blick auf die personelle Ausstattung von Wissenschaft und Verwaltungspraxis mit gestaltenden Vordenkern und Innovationsräumen sowie die zur Verfügung stehenden Budgets fällt es manchmal trotz aller öffentlichen Bekenntnisse zur Digitalisierung schwer zu glauben, dass eine gestaltende Rechtsinformatik und eine gestaltende Verwaltungsinformatik politisch und administrativ wirklich gewollt sind. Und die fehlende digitale Vorreiterschaft erweist sich seit mehr als einem halben Jahrhundert zu einem echten Problem für Staat, Verwaltung und Justiz.

9.

Literatur ^

Anderson, Chris, The Long Tail – Der lange Schwanz – Nischenprodukte statt Massenmarkt – Das Geschäft der Zukunft, Carl Hanser Verlag, München 2007.

Berners-Lee, Tim, Information Management – A Proposal, CERN, Genf 1989. Online: https://www.w3.org/History/1989/proposal.html.

Berners-Lee, Tim/Hendler, James/Lassila, Ora, The Semantic Web, in: Scientific American, 284. Jahrgang, Heft 5, New York 2001, S. 34–43.

Bundesministerium für Bildung und Forschung, Zukunftsbild «Industrie 4.0», Berlin 2013.

Dhar, Vasant, Data Science and Prediction, Communications of the ACM, 56. Jahrgang, Heft 12, New York 2013, S. 64–73.

Gruen, Nicholas/Houghton, John/Tooth, Richard, Open for Business – How Open Data Can Help Achieve the G20 Growth Target – A Lateral Economics report commissioned by Omidyar Network, Sydney 2014. Online: http://www.omidyar.com/sites/default/files/file_archive/insights/ON%20Report_061114_FNL.pdf.

Katz, Michael/Shapiro, Carl, Product Compatibility Choice in a Market with Technological Progress, in: Oxford Economic Papers, Band 38, Heft 0, Oxford 1986, S. 146–65.

von Lucke, Jörn, Smart Government – Wie uns die intelligente Vernetzung zum Leitbild «Verwaltung 4.0» und einem smarten Regierungs- und Verwaltungshandeln führt, The Open Government Institute, Zeppelin Universität gemeinnützige GmbH, Friedrichshafen 2015. Online: https://www.zu.de/institute/togi/assets/pdf/ZU-150914-SmartGovernment-V1.pdf.

von Lucke, Jörn, Deutschland auf dem Weg zum Smart Government – Was Staat und Verwaltung von der vierten industriellen Revolution, von Disruptionen, vom Internet der Dinge und dem Internet der Dienste zu erwarten haben, in: Verwaltung & Management, 22. Jahrgang, Heft 4, Nomos Verlag, Baden-Baden 2016, S. 171–186.

OReilly, Tim, What Is Web 2.0 – Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software, O’Reilly Media Inc., Sebastopol 2006. Online: http://www.oreillynet.com/pub/a/oreilly/tim/news/2005/09/30/what-is-web-20.html.

Rifkin, Jeremy, The Zero Marginal Cost Society – The Internet of Things, the Collaborative Commons, and the Eclipse of Capitalism, Palgrave Macmillan, New York 2014.

Shapiro, Carl/Varian, Hal R., Information Rules: A Strategic Guide of the Network Economy, in: Harvard Business School Press, Boston 1999.

Toffler, Alvin, Die dritte Welle – Zukunftschance – Perspektiven für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, Goldmann, München 1983.

VDE-ITG, Positionspapier «Das Taktile Internet», Informationstechnische Gesellschaft im Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e.V., Frankfurt 2014.