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Virtuelle Politik, reelle Vorteile: Die digitale Zusammenarbeit der Schweizer Kantone

  • Authors: Blaise Dévaud / Franz Kummer
  • Category: Articles
  • Region: Switzerland
  • Field of law: E-Democracy
  • Collection: Conference Proceedings IRIS 2017
  • Citation: Blaise Dévaud / Franz Kummer, Virtuelle Politik, reelle Vorteile: Die digitale Zusammenarbeit der Schweizer Kantone, in: Jusletter IT 23 February 2017
Die 26 Schweizer Kantone sind souveräne Akteure der Schweizer Politik. Sie nehmen aktiv am Gesetzgebungsverfahren auf der Ebene des Bundes (Eidgenossenschaft) teil. Ein wichtiges Element der interkantonalen Zusammenarbeit ist die Überwachung von laufenden Gesetzgebungsverfahren. Ab 2017 nutzen die Kantone zu diesem Zweck ein neues kollaboratives Informationssystem. Das System automatisiert die Überwachung der Gesetzgebungsprojekte, erlaubt den Austausch der Informationen oder Dokumente untereinander und vereinfacht die Planung und Koordination. Es unterstützt die Kantone bei der Erarbeitung gemeinsamer Stellungnahmen und Strategien.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Das politische System der Schweiz
  • 2. Die Zusammenarbeit der Schweizer Kantone
  • 3. Das neue Monitoring- und Kollaborationssystem
  • 4. Die Möglichkeiten für die Zukunft

1.

Das politische System der Schweiz ^

[1]

«Die Kantone sind souverän» besagt Art. 3 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV; SR 101)1. Gemeint ist damit die primäre Souveränität: die Kantone üben alle Rechte aus, die dem Bundesstaat nicht übertragen sind. Dieses Prinzip prägt entscheidend das Schweizer Rechtssystem und die Schweizer Politik.

[2]
Die besondere Rolle der Schweizer Kantone ist im Text der Bundesverfassung ersichtlich. Gemäss Art. 1 BV bilden sie – zusammen mit dem Schweizervolk – die Schweizerische Eidgenossenschaft. Daraus und aus ihrer Souveränität folgt, dass sie am Gesetzgebungsverfahren – gleich wie das Volk – beteiligt sind. Das Schweizer Parlament besteht aus einer Vertretung des Volkes (Nationalrat) sowie der Kantone (Ständerat). Beide Kammern müssen einem neuen Bundesgesetz zustimmen (Art. 156 Abs. 2 BV). Auch bei einem Referendum ist die Zustimmung einer Mehrheit der Kantone notwendig (Art. 142 Abs. 2 BV).
[3]
Die Mitwirkung der Schweizer Kantone in der Schweizer Politik zeigt sich nicht nur auf der Entscheidungsebene, sondern beginnt bereits bei der politischen Diskussion. Auch hier sind besondere Bestimmungen in der Verfassung vorgesehen. So sieht Art. 45 Abs. 1 BV explizit die Mitwirkung der Kantone an der Willensbildung des Bundes vor, mit Informationspflichten des Bundes und der Möglichkeit der Stellungnahme durch die Kantone (Art. 45 Abs. 2 BV). Noch ausführlicher ist die Mitwirkung der Kantone in auswärtigen Angelegenheiten geregelt. Art. 55 BV räumt den Kantonen Mitwirkungsrechte an aussenpolitischen Entscheiden ein, konkretisiert im Bundesgesetz vom 22. Dezember 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik (BGMK; SR 138.1)2.

2.

Die Zusammenarbeit der Schweizer Kantone ^

[4]
Die Beteiligung der Kantone an der Bundespolitik ist anspruchsvoll. Einerseits sind die Kantone ein wichtiger Partner des Bundesstaates, mit dem sie die Erfüllung gemeinsamer Ziele anstreben; andererseits wahren sie ihre Interessen gerade gegenüber dem Bund, aber auch gegenüber anderen politischen Akteuren wie Parteien, NGOs oder Interessenverbänden. Eine Institutionalisierung der kantonalen Zusammenarbeit wurde unerlässlich, um diese komplexen Anforderungen zu erfüllen.
[5]
Die Kantone haben bereits 1967 die ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit als privatrechtliche Stiftung gegründet. Der nächste Schritt folgte 1993 mit der Gründung der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK)3. Mitglieder der KdK sind die Regierungen aller Schweizer Kantone. Sie nutzen die KdK zur Koordination kantonsrelevanter Fragen und zu einem abgestimmten, gemeinsamen Auftritt in der Bundespolitik4. Die KdK dient als Schnittstelle zwischen den Kantonen und den Bundesbehörden und stärkt die Stellung der Kantone auf Bundesebene5.
[6]
Zusätzlich zur KdK bilden die einzelnen Departemente der kantonalen Regierungen eigene Konferenzen (sog. Direktorenkonferenzen) zur Koordination ihrer Aufgabenbereiche6. Es existieren derzeit über 10 Direktorenkonferenzen, die den Hauptbereichen der kantonalen Verwaltung entsprechen (z.B. Konferenz Kantonaler Volkswirtschaftsdirektoren, Konferenz Kantonaler Energiedirektoren usw.). Weiter sind die kantonalen Staatsschreiber (Generalsekretäre der kantonalen Regierungen) in der Schweizerischen Staatsschreiberkonferenz versammelt. Darüber hinaus vereinigen sich manche Kantone in separaten regionalen Regierungskonferenzen zur Koordination der Geschäfte von regionaler Bedeutung (wie z.B. Westschweizer Regierungskonferenz, Regierungskonferenz der Gebirgskantone usw.)7.
[7]
Die KdK und die meisten Direktorenkonferenzen sind in Bern im Haus der Kantone domiziliert. Das Haus der Kantone bietet der KdK und den anderen Konferenzen eine gemeinsame Infrastruktur in der Nähe des Bundesparlaments und der Bundesregierung8.

3.

Das neue Monitoring- und Kollaborationssystem ^

[8]
Der aktuelle Kollaborationsmechanismus der Kantone entspricht der Komplexität des politischen Systems. Die Zusammenarbeit ist vielfältig und braucht eine zuverlässige organisatorische Unterstützung. Diese ist zwar durch die Mitwirkung der ch Stiftung gegeben, die die organisatorischen Aufgaben des Sekretariats der KdK wahrnimmt. Mit der immer steigenden Anzahl der Gesetzgebungsverfahren, Dokumente und Informationen wurde jedoch das Bedürfnis nach einer effizienten informatischen Unterstützung besonders spürbar.
[9]

Deswegen haben sich die KdK und die ch Stiftung im Jahr 2015 entschieden, ein neues System für die Kollaboration und Arbeitsunterstützung zu beschaffen. Das System wurde 2016 entwickelt und wird 2017 bei den Kantonen und den Konferenzen unter der Bezeichnung MOKKA (Monitoring-Lösung für Konferenzen und Kantone) eingesetzt. Es bietet zwei grundsätzlichen Funktionalitäten: Überwachung des Gesetzgebungsverfahrens auf der Bundesebene und Unterstützung der politischen Zusammenarbeit.

[10]
Das System überwacht zwei Quellen mit Informationen zum Bundesgesetzgebungsverfahren. Die erste ist Curia Vista – die Datenbank der Geschäfte des Bundesparlaments9. In der Datenbank werden alle Geschäfte erfasst, mit denen sich das Parlament beschäftigt. Dies sind insbesondere Vorstösse (Motionen, Postulate, Interpellationen, Fragen und Anfragen) und Gesetzgebungsinitiativen (parlamentarische Initiativen, Standesinitiativen oder Gesetzesentwürfe des Bundesrates). Zu jedem Parlamentsgeschäft werden jeweils eine eindeutige Nummer vergeben sowie Hintergrundinformationen, der aktuelle Beratungsstand sowie konnexe Informationen und Dokumente aufgelistet10. Die zweite Quelle sind die Vernehmlassungen des Bundes: bei den wichtigsten Gesetzesentwürfen publiziert die Bundesverwaltung bereits in der vorparlamentarischen Phase die Gesetzesvorlage samt dem erklärenden Bericht auf der Website der Bundesverwaltung11. Die Kantone, die politischen Parteien und die wichtigsten Verbände und Interessenvertreter werden zur Stellungnahme eingeladen. Die Ergebnisse der Vernehmlassung beeinflussen den Gesetzesentwurf des Bundesrates, der dem Parlament verbreitet wird.
[11]
Die beiden Quellen sind im offiziellen Schweizer Open Government Data Portal12 leider nicht vorhanden. Deswegen werden die Daten vom neuen System einerseits vom Web Service des Parlaments13 in einer strukturierten und andererseits direkt von der Website der Vernehmlassungen in einer halbstrukturierten Form heruntergeladen. Die Integration der beiden Quellen in eine stets aktuelle Paketlösung bildet an sich schon einen wesentlichen Vorteil. Das System vereinfacht zudem die Übersicht aller laufenden Gesetzgebungsverfahren und befreit die Kantone von redundanter, manueller Informationsbeschaffung und naturgemäss fehleranfälliger manueller Erfassung.
[12]
Die Kollaboration mit dem neuen System basiert auf dem Konzept der Monitoring-Geschäfte – es handelt sich dabei um digitale Dossiers, die zu einem konkreten Gesetzgebungsprojekt erstellt werden. Mit jedem Monitoring-Geschäft können passende Parlamentsgeschäfte oder Vernehmlassungen verknüpft werden. Weiter können zu einem Monitoring-Geschäft Nachrichten erfasst oder Dokumente zugefügt werden. Es ist auch möglich, Termine und konkrete Massnahmen samt verantwortlichen Personen zu definieren. Alle Informationen zu einem Monitoring-Geschäft werden übersichtlich auf einer einzigen Website dargestellt und sind allen Nutzern zugänglich. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, einzelne Informationen nur mit einem eng definierten Kreis der Kantone zu teilen, was insbesondere bei regionalen Angelegenheiten nützlich ist. Des Weiteren bietet das System Push-Mechanismen mit Benachrichtigungen über neuste Nachrichten oder kommende Termine.
[13]
Mit dem neuen System erreichen die Kantone eine Verbesserung und Vereinfachung der Informationsbeschaffung und der politischen Zusammenarbeit. Sie können interaktiv Dokumente verteilen und Informationen austauschen, das Vorgehen zu den konkreten Fällen definieren sowie gemeinsame politische Massnahmen besprechen, festlegen und durchführen. Die virtuelle politische Zusammenarbeit mit dem neuen System bringt den Schweizer Kantonen reelle Vorteile.

4.

Die Möglichkeiten für die Zukunft ^

[14]

In einem breiteren Kontext der Schweizer Bundespolitik betrachtet ist das neue Kollaborationssystem eine fallbezogene Lösung für eine bestimmte Zielgruppe. Das System an sich hat jedoch Eigenschaften, die nicht nur den Schweizer Kantonen, sondern allen Beteiligten der Schweizer Politik einen wesentlichen Mehrwert bringen können. Zeitnahe Überwachung von allen Informationen zum Gesetzgebungsprozess in einem einzigen Arbeitswerkzeug, gekoppelt mit strukturierter Arbeit rund um ein thematisches Dossier, einfacher Informationsaustausch und bequeme Zusammenarbeit mit politischen Partnern entsprechen den Bedürfnissen der meisten politischen Akteure. Deswegen ist der nächste Entwicklungsschritt, das System zu generalisieren und auch den politischen Verbänden, Interessenvertretern sowie weiteren Beteiligten zur Verfügung zu stellen.

[15]
Weiter ist festzuhalten, dass das neue System nur auf einen Teil der politischen Interaktion beschränkt ist, nämlich auf die interne Koordination innerhalb von politischen Interessengruppen. Es wäre jedoch denkbar, das System so zu erweitern, dass es auch einer schweizweiten, öffentlichen Diskussion aller politischen Gremien dienen könnte. Zwei Möglichkeiten sind besonders erwähnenswert.
[16]
Erstens könnte das System einer direkten, medienbruchsfreien Kommunikation zwischen den Kantonen und den Bundesbehörden dienen. Derzeit wird das neue Kollaborationssystem (nur) intern von den Kantonen verwendet. Der Austausch mit den Bundesbehörden findet auf den üblichen Wegen (Post, E-Mail usw.) ausserhalb des Systems statt. Eine Erweiterung des Systems auf das Parlament und die Bundesverwaltung würde die politische Kommunikation weiter vereinfachen und wäre im Sinne der Prinzipien eines modernen eGovernments.
[17]

Zweitens könnte das System allgemein im Vernehmlassungsverfahren eingesetzt werden, um die Stellungnahmen zu Gesetzesprojekten aller Interessierten entgegenzunehmen. Derzeit werden die Vernehmlassungsunterlagen auf der oben erwähnten einfachen Website publiziert; die Vernehmlassungsantworten werden wiederum auf den üblichen Wegen (Post, E-Mail) an die Bundesverwaltung zurückgeschickt. Besonders bei grösseren Projekten führt das zu einem erheblichen Aufwand bei der Bearbeitung der Vernehmlassungsresultate (z.B. bei einem aktuellen Projekt zur Änderung des Urheberrechts wurden rund 1200 Stellungnahmen mit rund 8000 Textseiten eingereicht14). Ein einziges System für die strukturierte Publikation der Gesetzesentwürfe und eine strukturierte Entgegennahme der Kommentare zu den einzelnen Artikeln, ähnlich wie es das aktuelle e-Participation Projekt des Europäischen Parlaments vorsieht15, würde den Vernehmlassungsprozess rationalisieren und wesentlich vereinfachen.

[18]
Das Anstreben der beiden Ziele kann nur nach einer breiten Diskussion mit den Schweizer Behörden und eGovernment-Stellen gelingen. Die Qualität und der Nutzen der aktuellen Lösung für die Schweizer Kantone bilden einen zuversichtlichen ersten Schritt auf dem Wege für die Verbesserung und Automatisierung der gesamten politischen Kollaboration in der Schweiz.
  1. 1 www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/index.html (alle im Beitrag erwähnten Hyperlinks wurden am 5. Januar 2017 zuletzt überprüft).
  2. 2 www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19996351/index.html.
  3. 3 ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit, Geschichte der ch Stiftung. www.chstiftung.ch/de/ueber-uns/geschichte/.
  4. 4 Konferenz der Kantonsregierungen, Grundlagen. www.kdk.ch/de/die-kdk/grundlagen.
  5. 5 ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit, Die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK). www.chstiftung.ch/de/kdk.
  6. 6 Konferenz der Kantonsregierungen, Direktorenkonferenzen. www.kdk.ch/de/kooperation/direktorenkonferenzen.
  7. 7 Konferenz der Kantonsregierungen, Regionale Regierungskonferenzen. www.kdk.ch/de/kooperation/regionale-regierungskonferenzen.
  8. 8 Haus der Kantone, www.haus-der-kantone.ch/de.
  9. 9 www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/curia-vista.
  10. 10 Z.B. Geschäft 14.015 «Bundesgesetz über die elektronische Signatur, ZertES. Totalrevision» unter https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20140015.
  11. 11 www.admin.ch/gov/de/start/bundesrecht/vernehmlassungen.html.
  12. 12 https://opendata.swiss.
  13. 13 http://ws-old.parlament.ch.
  14. 14 Der Bundesrat/Eidgenössisches Institut für Geistiges Eigentum/Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, Modernisierung des Urheberrechts grundsätzlich begrüsst, Medienmitteilung vom 2. Dezember 2016. www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-64762.html.
  15. 15 Vgl. Schmitz, Peter/Francesconi, Enrico/Batouche, Brahim/Touly, Vivien/Peruginelli, Ginevra, A Knowledge Modelling Approach for Promoting Citizens’ Participation in the EU Law Making Process, unpublizierter Beitrag für den «Work-shop on Legal Data Analysis», Jurix 2016 Konferenz, Antibes, 14. Dezember 2016.