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Computerlinguistische Unterstützung der Sprachentwicklung für Rechtsvisualisierungen am Beispiel der Mediation von Nachbarschaftsstreits

  • Authors: Nadine Schaaf / Thorsten Schoormann / Julien Hofer / Ralf Knackstedt
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Visualisation
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2018
  • Citation: Nadine Schaaf / Thorsten Schoormann / Julien Hofer / Ralf Knackstedt, Computerlinguistische Unterstützung der Sprachentwicklung für Rechtsvisualisierungen am Beispiel der Mediation von Nachbarschaftsstreits, in: Jusletter IT 22 February 2018
Diskussionen in Mediationen können durch Visualisierungen wirksam unterstützt werden. Hierfür muss Mediatoren eine Symbolbibliothek zur Verfügung stehen. Oft wird dieser Symbolvorrat eher zufällig und unsystematisch entwickelt. Der Beitrag vermittelt, basierend auf einem Vorgehensmodell zur computerlinguistisch unterstützten Entwicklung von Modellierungstechniken, wie sich passende Aspekte einer visuellen Sprache für die Darstellung von und Kommunikation in Mediationsprozessen aufbauen lassen. Am Beispiel einer Konfliktbeilegung eines Nachbarschaftsstreits wird die Visualisierung demonstriert.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Mediation von Nachbarschaftsstreits als Anwendungsdomäne
  • 3. Überblick über die Ebenen der Darstellung des Anwendungsfalls
  • 4. Grundlegendes methodisches Vorgehen bei der Sprachentwicklung (Ebene 3)
  • 5. Visualisierungssprache für die Mediation von Nachbarschaftsstreits (Ebene 2)
  • 6. Demonstration der Anwendung zur Erstellung von Visualisierungen (Ebene 1)
  • 7. Limitationen
  • 8. Fazit und Ausblick
  • 9. Literatur

1.

Einleitung ^

[1]
Rechtsvisualisierung kann in der Laien-Expertenkommunikation zwischen Klienten und Mediatoren, Anwälten bzw. Richtern einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung von Missverständnissen leisten (z.B. [Brunschwig 2001]). Zu den Potenzialen von Visualisierungen zählen gemäß dem Akronym CARMEN sechs wesentliche Aspekte: Coordination (Koordination und Strukturgebung in der Zusammenarbeit verdeutlichen), Attention (Aufmerksamkeit erzielen durch Emotionen), Recall (Einprägsamkeit und Erinnerungsvermögen verbessern), Motivation (Zielgruppe motivieren), Elaboration (Verständnis und Anerkennung neuer Ideen erreichen) sowie New Insights (verdeckte Zusammenhänge verdeutlichen) [Eppler/Burkhard 2006]. Für die Verankerung der Rechtsvisualisierung in der Rechts- und/oder Beratungspraxis erscheint es förderlich, Barrieren der Gestaltung visueller Medien durch Bereitstellung mächtiger bzw. genau passender Werkzeuge zu reduzieren (zu weiteren Grenzen der Rechtsvisualisierung vgl. z.B. [Brunschwig 2001]). Auf Anwendungsbereiche speziell abgestimmte Bild-/Symbolsammlungen bzw. Visualisierungs-/Modellierungssprachen zählen zu diesen Instrumenten.
[2]
Am Beispiel der Mediation von Nachbarschaftsstreits wird in dem vorliegenden Beitrag die Entwicklung geeigneter sprachlicher Aspekte von Rechtsvisualisierungswerkzeugen diskutiert. Hierzu wird zunächst in den Anwendungsfall eingeführt (Abschnitt 2). Im Anschluss werden drei Ebenen zur differenzierten Diskussion der gewählten Problemstellung unterschieden (Abschnitt 3). Basierend auf diesen Ebenen wird das Vorgehen zur Entwicklung der sprachlichen Hilfsmittel (Abschnitt 4), die entwickelte Bausteinbibliothek (Abschnitt 5) und eine Anwendung der Sprache (Abschnitt 6) präsentiert. Der Beitrag endet mit einer Diskussion der wichtigsten Limitationen (Abschnitt 7) und der Darstellung sich anschließender Forschungsarbeiten (Abschnitt 8).

2.

Mediation von Nachbarschaftsstreits als Anwendungsdomäne ^

[3]

Definition der Mediation. Streitigkeiten, die zwischen Nachbarschaftsfronten festgefahren sind, können anstelle über ein eventuell instanzenreiches Gerichtsverfahren mit Hilfe eines Konfliktbeilegungsverfahrens wie der Mediation nachhaltig gelöst werden. Dabei bezeichnet Besemer die Mediation als ein Verfahren zur «Vermittlung in Streitfällen durch unparteiische Dritte, die von allen Seiten akzeptiert werden.» [Besemer 1998, S. 14]. In einer Befragung von 1'832 Personen bevorzugten 87% der Befragten bei Nachbarschaftsstreitigkeiten eine Mediation zur Beilegung des Konfliktes [Roland-Gruppe 2010]. Die Mediation eignet sich besonders, wenn die im Konflikt stehenden Personen an einer zukünftigen Zusammenarbeit weiter interessiert, die Verhandlungen allerdings festgefahren sind [Besemer 1998, S. 20].

[4]

Vorgehensweise der Mediation. Im Rahmen eines Mediationsverfahrens wird den im Streit stehenden Parteien die Möglichkeit eröffnet, unter Zuhilfenahme eines vermittelnden, neutral und allparteilichen Dritten, gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten, die nachhaltig und für alle Parteien akzeptabel erscheint. Nach Haft steht die Verhandlung und somit die gemeinsame Erarbeitung einer Lösung von den im Konflikt stehenden Parteien im Mittelpunkt, mit der sich jede Partei identifizieren kann [Haft 2016, S. 99]. In der Literatur existiert eine Vielzahl von beschriebenen, ähnlich verlaufenden Phasenmodellen zur Mediation (vgl. hierzu auch z.B. [Kessen/Troja 2016, S. 330 f.]). In dem vorliegenden Beitrag wird auf einen Phasenverlauf aus der Wirtschaftsmediation Bezug genommen (vgl. zu der folgenden Aufzählung [Duve/Eidenmüller/Hacke 2011, S. 78 ff.]):

  • Einstieg in die Mediation: Die im Streit stehenden Parteien vereinbaren, mit Unterstützung eines Mediators eine Lösung für ihren Streit anzustreben. Der Mediator bereitet die Mediation vor.
  • Eröffnung der Mediation: Der Mediator informiert die Parteien zum Mediationsablauf, zu den Besonderheiten, zum Rollenverständnis sowie zu den Grenzen der Mediation.
  • Bestandsaufnahme: Der Mediator verschafft sich einen Überblick über Einzelheiten zu den Streitthemen. Weiterhin wird festgelegt, mit welchem Thema begonnen wird.
  • Erforschung der Interessen: Mit Hilfe des Mediators wird von den ursprünglichen Positionen aus zu den Interessen der Parteien hingearbeitet.
  • Entwicklung und Bewertung von Lösungen: Die im Streit stehenden Parteien generieren Ideen zu Lösungsvorschlägen, die zunächst von jeder Partei bewertet und priorisiert werden. Geeignete Lösungsvorschläge werden weiterentwickelt, bis die konsensfähige Lösung erarbeitet ist.
  • Vereinbarung und Abschluss: Abgestimmte Maßnahmen und Verantwortlichkeiten zur Umsetzung der konsensfähigen Lösung werden in einer Abschlussvereinbarung festgeschrieben.
[5]
Anwendungsfall Mediation im «Nachbarschaftsstreit». Mediation zur Konfliktbeilegung lässt sich nahezu in allen Bereichen des täglichen Lebens anwenden, so wie z.B. bei Familien-, Wirtschafts-, Erbschafts- oder bei Nachbarschaftsstreits. Dabei ist «Lärm» das häufigste Streitthema bei Nachbarschaftsstreits, wie in einer Studie im Auftrag der Gesellschaft für Konsumforschung dokumentiert ist [Gesellschaft für Konsumforschung 2014]. Darauf aufbauend ist Lärmbelästigung als Beispiel für einen Anwendungsfall für eine Mediation mit dem Konfliktthema «Lärmbelästigung durch einen in der Frühe krähenden Hahn» realitätsnah nachgestellt worden (Abschnitt 6).

3.

Überblick über die Ebenen der Darstellung des Anwendungsfalls ^

[6]
Die Darstellung der sprachlichen Aspekte für die Mediation von Nachbarschaftsstreits orientiert sich an der Unterscheidung von drei aufeinander aufbauenden Ebenen (Abbildung 1), die für die Rechtsvisualisierung von zentraler Bedeutung sind (zu weiteren Bereichen vgl. [Schoormann/Knackstedt/Haapio 2017]). Die Erstellung konkreter Visualisierungen in Mediationssitzungen (Ebene 1) nutzt eine Visualisierungssprache (Ebene 2), die unter Rückgriff auf bestimmte Vorgehensweisen der Sprachentwicklung (Ebene 3) konstruiert wurde (Abbildung 1).

Abbildung 1: Drei Ebenen der Darstellung sprachlicher Aspekte

[7]
Im Folgenden werden für die gewählte Anwendungsdomäne Artefakte auf allen drei Ebenen der Rechtsvisualisierung präsentiert.

4.

Grundlegendes methodisches Vorgehen bei der Sprachentwicklung (Ebene 3) ^

[8]
Übergeordnetes Ziel einer Modellierungstechnik ist es, eine gemeinsame Sprache zu schaffen, die die Realität in einer einheitlichen und formalen Weise beschreibt [Frank/et al. 2014]. Viele Modellierungssprachen sind allerdings durch Allgemeingültigkeit geprägt (sogenannte «General Purpose Languages»), wodurch Defizite entstehen können, wie z.B. hinsichtlich der Vergleichbarkeit (Darstellungsunterschiede) oder der uneinheitlichen Verwendung von Begriffen, die keinen direkten Bezug zur eigentlichen Anwendungsdomäne einer Sprache aufweisen [Algermissen/Instinsky/Pähler vor der Holte 2010]. Da die Vereinheitlichung von Elementen in Modellen (z.B. dem Vokabular) einen großen Beitrag zur Modellqualität leisten kann, stieg in den letzten Jahren die Relevanz und Verfügbarkeit von domänenspezifischen Modellierungssprachen [Delfmann/Herwig/Lis 2009]. Insbesondere werden dabei bausteinorientierte Ansätze verwendet (z.B. «Picture» und «IceBricks»), die das Modellieren mit vordefinierten Elementen unterstützen und somit Effektivität und Effizienz während des Konstruktionsprozesses sowie die Wiederverwendbarkeit erhöhen (z.B. [Becker/Algermissen/Falk 2009]; [Schoormann/Behrens/Knackstedt 2017]).
[9]
Vorgehen zur Sprachentwicklung. Der vorliegende Beitrag zur Sprachentwicklung zielt daher darauf ab, eine domänenspezifische Bausteinbibliothek für Rechtsvisualisierungen am Beispiel der Mediation von Nachbarschaftsstreits zu entwickeln. Da manuelle Vorgehensmodelle zur Entwicklung von Modellierungssprachen oftmals mit Herausforderungen wie Nachverfolgbarkeit und Reproduzierbarkeit konfrontiert sind, wird ein semi-automatischer Ansatz zur Identifikation von Domänentermen angewendet, der vor allem auf Methoden und Werkzeuge der Computerlinguistik zurückgreift [Schoormann/et al. 2017]. Das in dieser Studie adaptierte Vorgehen gliedert sich in sechs Hauptphasen (Abbildung 2).
[10]

Zunächst müssen Zweck und Anwendungsgebiet der Visualisierungssprache abgegrenzt und spezifiziert werden. In dem vorliegenden Beitrag wird die Anwendungsdomäne Mediation von Nachbarschaftsstreits gewählt und spezifiziert (siehe Abschnitt 2). Deren Relevanz wird in einer Studie von der Roland-Gruppe [Roland-Gruppe 2010] belegt, in der die Befragten «Mediation» als Konfliktbeilegungsverfahren in Nachbarschaftsstreits als besonders geeignet favorisieren (Phase 1). Um eine entsprechende Datenbasis aus Konfliktbeilegungsverfahren zu schaffen, werden 406 frei verfügbare Urteile als Datenbasis genutzt (Phase 2). Diese mit geeigneten Textquellen gefundenen Urteile im Juraforum [s. http://www.juraforum.de] wurden im PDF-Format aus der Datenbank Openjur [s. http://www.openjur.de] heruntergeladen, in Textdateien umgewandelt und in den Korpus eingelesen (Phase 3). Hier erfolgt die automatische Auswertung der Textdateien nach Termkandidaten, wie z.B. Nomen, Adjektiven, Verben etc. und die Expertenselektion aller Mediations- und Nachbarschaftsrelevanter Begriffe in Form von Nomen (Termkandidaten) durch einen Mediator (Phase 4). Die ausgewählten Terme (=Begriffe) werden nach möglichen Kategorien für die Mediation zusammengefasst (Phase 5). Abschließend werden den Termen passende Symbole (s. freie Clipart-Bibliothek z.B. unter [http://www.openclipart.org]) zugeordnet und in einer Bausteinbibliothek zusammengefasst (Phase 6).

Abbildung 2: Methodisches Vorgehen zur Sprachentwicklung

[11]
Im Folgenden werden für die Anwendungsdomäne Mediation von Nachbarschaftsstreits die Phasen der computerlinguistisch-orientierten Sprachentwicklung sowie ausgewählte Ergebnisse im Detail beschrieben.
[12]
Phase 1 und Phase 2. Dem methodischen Vorgehen folgend wurde das Ziel der Entwicklung einer Visualisierungssprache für die Mediation von Nachbarschaftsstreits formuliert. Um einen geeigneten Textkorpus (Datenbasis) zu erstellen, wurden zunächst thematisch entsprechende Urteile gesucht. Das Juraforum (Plattform mit z.B. juristischen Nachrichten und Organisationshilfen für Kanzleien, http://www.juraforum.de) wurde als Ausgangspunkt für die Identifikation von Urteilen mit dem Schlagwort «Nachbar» gewählt. Alle gefundenen Urteile wurden als Volltext im PDF-Dateiformat in einem Repository gespeichert. Insgesamt wurden 406 Dateien abgespeichert.
[13]
Phase 3. Für die weitere Bearbeitung im Textformat war es notwendig, die Inhalte der gefundenen PDF-Dateien mit einem PDF-Extraktor (pdf2txt) in Textdateien umzuwandeln. Nach Normalisierung der Textdateien lagen die Texte in Kleinschreibung vor und Sonderzeichen wie z.B. $, @, &, etc. wurden eliminiert. Zudem wurden alle Zahlen aus den Texten entfernt, da diese für die Zielstellung nicht für relevant erachtet wurden. Da PDF-Extraktoren mit der Leserichtung oder mit eingebetteten Bildern in den Texten Erkennungsschwierigkeiten für die Weiterverarbeitung haben, mussten Regeln entwickelt werden, um die Daten zielführend für die vorliegende Arbeit einsetzen zu können.
[14]
Phase 4. Alle in den Textdateien gefundenen Terme (=potenzielle Konzepte für die zu entwickelnde Visualisierungssprache) wurden in eine Liste übertragen und deren absolute Häufigkeit annotiert. Ebenfalls wurde analysiert wie häufig ein Wort in einem Dokument vorkommt, um so eine Kennzahl zu generieren, die als ein Maß für die Suchwortdichte [Phinitkar/Sophatsathit 2010] herangezogen werden kann. Somit ist auch die Relevanz des Terms im Verhältnis zum jeweiligen Dokument ermittelt. Darüber hinaus wurde die inverse Dokumentenhäufigkeit berechnet – eine weitere Kennzahl zur Relevanzerkennung – welche die Relevanz von Termen in Dokumenten im Verhältnis zum Korpus bzw. der Dokumentenkollektion angibt.
[15]

Phase 5. Die einzelnen Terme wurden mit einem Part-of-Speech(POS)-Tagger nach ihren Wortarten klassifiziert. Gemäß dem TreeTagger-Verfahren von Schmid [Schmid1994], das Entscheidungsbäume zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit nutzt, wurde einem Term (z.B. «Haus») eine bestimmte Wortart (z.B. «Haus» – Nomen) als Auswertekriterium zugeordnet. Anschließend wurden die Terme von einem Mediator nach ihrer Relevanz für die Mediation von Nachbarschaftsstreits anhand der Kennzahlen klassifiziert.

[16]

Phase 6. Um für die Visualisierung des adressierten Anwendungsfalls eine Visualisierungssprache zu nutzen, wurden in einem Workshop nach einem qualitativen Ansatz Kategorien aus den relevant-beurteilten Termen gebildet und konsolidiert. Zudem wurde jedem dieser Terme (Konzept) ein Symbol (Repräsentation) aus OpenClipart [s. http://www.openclipart.org] zugeordnet. So ist eine Bausteinbibliothek (Abschnitt 5) entstanden, die zur Visualisierung der Mediation in Nachbarschaftsstreits eingesetzt werden kann.

5.

Visualisierungssprache für die Mediation von Nachbarschaftsstreits (Ebene 2) ^

[17]
Aus der zuvor generierten Bausteinbibliothek können nun in Abbildung 3 Teilergebnisse gezeigt werden. Basierend auf dem Workshop (s. Abschnitt 4, Phase 6 des Vorgehens zur Sprachentwicklung) wurden die identifizierten Bausteine in folgende acht Kategorien eingeordnet: Involvierte Personen (z.B. Konfliktparteien), Störungen/Belästigungen (mögliche Störungen, die z.B. zu Konflikten führen können), Konfliktbeeinflusser (Merkmale, die Konflikte beeinflussen können), Grundstücke (Haus- und Außenanlagen), Tiere (Involvierte Tiere), Baumaßnahmen (Planung/Durchführung von Maßnahmen), Lösungen/Vereinbarungen (Merkmale zur Lösungsherbeiführung/Vereinbarung) und weitere Objekte (Pool für Sonstiges). Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die ermittelte Bausteinbibliothek über weitere Anwendungsfälle in der Mediation jederzeit erweiterbar ist, um somit einen größeren Bereich in der Mediationspraxis zu unterstützen.

Abbildung 3: Bausteinbibliothek

6.

Demonstration der Anwendung zur Erstellung von Visualisierungen (Ebene 1) ^

[18]

An einem konkreten realitätsnahen Anwendungsfall ist überprüft worden, ob die entwickelten Bausteine (Visualisierungssprache) ihren Einsatz in einzelnen Phasen der Mediation finden, und zum anderen sollten domänenspezifische Terme für Nachbarschaftsstreits mit dem Blick auf Ergänzung der Bibliothek gefunden werden. Als Konfliktgegenstand in dieser Nachbarschaftsmediation wurde, wie im Vorangegangenen bereits erwähnt (Abschnitt 2), der in der Frühe (ab vier Uhr morgens) krähende Hahn angenommen (Abbildung 4). Zu den konstanten Parametern zählten der alleinlebende Frührentner, Lageplan seines Grundstücks mit Haus, Garten, Hahn und Hühnern im Hühnergehege (mit Loch im Zaun) und Hühnerstall und die alleinerziehende Mutter im Nachbarhaus mit Garten.

[19]
Anwendung der Bausteinbibliothek im Anwendungsfall. Im Nachfolgenden sind konkrete Visualisierungen zur Unterstützung der Gespräche zwischen dem Mediator und den Parteien, basierend auf der in Abschnitt 5 entwickelten Bausteinbibliothek, dargestellt, die während der Mediationsdurchführung entstanden sind. Der Bedarf an Visualisierungen zeigte sich konkret in den Mediationsphasen «Bestandsaufnahme», «Entwicklung und Bewertung von Lösungen» und «Vereinbarung und Abschluss». Auf die Visualisierungen wird phasenweise im Einzelnen eingegangen.
[20]
Mediationsphase «Bestandsaufnahme». Um sich einen Überblick zu verschaffen, visualisierte der Mediator gemäß den Schilderungen der im Streit liegenden Nachbarn die Konfliktsituation unter Hinzuziehung passender Symbole aus der Bausteinbibliothek in Form einer Lageplan-Skizze. So ist in Abbildung 4 zu sehen, dass Nachbarpartei 1 (hier: alleinstehender Frührentner) Hühner und einen Hahn in einem Gehege in seinem Garten hält. Der Gehegezaun ist defekt. Ein Huhn des Nachbarn 1 befindet sich außerdem außerhalb des Geheges und läuft Richtung Nachbargrundstück 2. Nachbarpartei 2 (hier: eine alleinstehende Mutter mit Kind) wohnt nebenan und hat einen Garten. Weiterhin geht aus der Skizze hervor, dass der Hahn sowie auch das herumstreunende Huhn für die Spannungen zwischen den Nachbarparteien verantwortlich sind (gekennzeichnet durch Symbol «Spannung/Konflikt»).

Abbildung 4: Situationsbeschreibung/Lageplan-Skizze unter Verwendung der Visualisierungssprache

[21]
In Abbildung 5, wird unter Zuordnung passender Bausteine die chronologische Entwicklung von Lösungsvorschlägen bis hin zur finalisierten und akzeptierten Vereinbarung der Nachbarparteien gezeigt.
[22]
Mediationsphase «Entwicklung und Bewertung von Lösungen». Die Nachbarparteien generierten Lösungsvorschläge, die anschließend von jeder Partei bewertet wurden, beiderseitig geeignete Lösungsvorschläge wurden gemeinsam weiterentwickelt, bis eine konsensfähige Lösung erarbeitet war. In Abbildung 5 dokumentiert Bild 1 (links oben) alle Lösungsideen der Nachbarparteien, inklusive derjenigen, die nicht weiter für eine finale Lösungsfindung verfolgt wurden. In Bild 2 (rechts oben) sind diejenigen Lösungsideen mit dem speziellen Symbol «Übereinstimmung» gekennzeichnet, die aus Sicht beider Nachbarparteien zu einer Konfliktlösung beitragen könnten. Bild 3 (links unten) stellt das Ergebnis gemeinsam weiter entwickelter Lösungsvorschläge für das Lärmproblem (Krähen des Hahns in der Frühe) dar. Aus Bild 4 (rechts unten) gehen die gemeinsam entwickelten und beiderseitig akzeptierten Lösungsvorschläge hervor, die zu der angestrebten einvernehmlichen und nachhaltigen Lösung im Nachbarschaftsstreit geführt haben (gekennzeichnet durch das Symbol «Abschluss»).

Abbildung 5: Weiterentwicklung von Ideen bis hin zu akzeptierten Lösungen

[23]
Mediationsphase «Vereinbarung und Abschluss». Mit dem aus der Diskussion der Nachbarn erarbeiteten Konsens aus Bild 4 (Abbildung 5) ist abschließend die Mediationsvereinbarung mit konkreten Maßnahmen und Verantwortlichkeiten formuliert und visualisiert worden (Abbildung 6). Dazu wurden erneut die vordefinierten Elemente aus der Bausteinbibliothek genutzt. Folgende Vereinbarungen wurden getroffen:
  • In der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr morgens wird der Hahn ab sofort in den Hühnerstall gesperrt. (Verantwortlich: Nachbarpartei 1)
  • Um das Grundstück von Nachbarpartei 2 wird bis zum 29. Dezember ein hoher Lärmschutzzaun gebaut. (Verantwortlich: Nachbarpartei 2)
  • Der Gehegezaun wird bis zum 29. Dezember instand gesetzt. (Verantwortlich: Nachbarpartei 1)

Abbildung 6: Vereinbarung mit abgestimmten Maßnahmen

[24]
Terme zur Ergänzung der Bausteinbibliothek. Im vorliegenden Anwendungsfall konnten weitere Terme (z.B. «Sofortige Gültigkeit» für die Vereinbarung und «Verschiebung Hühnerstall» als ergänzende Baumaßnahme) herausgearbeitet werden, die noch nicht in der ursprünglichen Bausteinbibliothek gelistet sind. Hier gilt es wiederrum, den Termen passende Symbole zuzuordnen. Mit diesen neuen Termen und Symbolen kann die Bausteinbibliothek ergänzt werden.

7.

Limitationen ^

[25]
Mit Hilfe des in dem Beitrag verwendeten computerlinguistischen Verfahrens können semi-automatisch Modellierungssprachen entwickelt werden. Grundsätzlich, wie am voran beschriebenen Anwendungsbeispiel einer Mediation gezeigt, trifft dies zu. Nichtsdestotrotz ergeben sich durch die Anzahl der zur Verfügung stehenden Textquellen sowie durch die eingesetzte Extraktionsmethodik Limitationen.
[26]
Qualität verfügbarer Texte. Die Dateien standen nur im PDF-Format zur Verfügung, diese mussten als Bilder eingelesen und bei der anschließenden Extraktion decodiert werden, kann bei der Vorlage unterschiedlicher Codierungen in den einzelnen PDF-Dateien ein Übersetzungsproblem sowie ein Worterkennungsproblem entstehen. Optimaler wäre der Zugang über eine Anwendungsprogrammierungsschnittstelle, denn je hochwertiger (fehlerfreier) der Dateninput zur Worterkennung ist, desto qualitativ hochwertiger und fehlerfreier ist auch das Ergebnis.
[27]
Verfahren des Goldstandards. Der Anwendungsfall der Mediation sollte realitätsnah sein (Anforderung). Mediationen werden unter absoluter Verschwiegenheit und Vertraulichkeit durchgeführt. Deshalb wurde ein Rollenspiel gewählt, in dem in einem Nachbarschaftsstreit mit Hilfe eines professionellen Mediators konsensfähige Lösungen erarbeitet wurden. Die Lösungen wurden im Anschluss visualisiert. Es verbleibt der Hinweis, dass im vorliegenden Beispiel nur ein Mediator die Bewertung und Zuordnung der Begriffe zu Symbolen für die Bibliothek bestimmt, umgesetzt und im Rollenspiel angewandt hat. Zu prüfen bleibt, ob die Bewertung durch mehrere Mediatoren mit Hilfe des Goldstandard-Verfahrens zu den gleichen Ergebnissen von Begriffen und Symbolen gekommen wäre.
[28]
Repräsentation der Terme. Die Zuordnung von Begriffen zu Symbolen aus OpenClipart [http://www.openclipart.org/] wurde von einer Person durchgeführt – mehrere Personen können die Ergebnisse weiter absichern.

8.

Fazit und Ausblick ^

[29]
Eine Modellierungstechnik enthält mehr als nur Terme (Konzepte) oder nur Symbole (Repräsentationen) zur Visualisierung. In dem vorliegenden Beitrag wird aufgezeigt, wie domänenspezifische Terme auf Basis großer Textmengen mit computerlinguistischen Ansätzen ermittelt, visualisiert und anschließend am Beispiel einer Nachbarschaftsmediation angewandt werden können.
[30]
Modellierungssprache erweitern. Wird ein computerlinguistisches Verfahren – wie das hier verwendete [Schoormann/et al. 2017] – für andere Domänen eingesetzt (z.B. für Familienauseinandersetzungen, Mietangelegenheiten, Erbschaftsangelegenheiten oder Wirtschaftsstreits), so entsteht eine Bausteinbibliothek, die z.B. für Mediatoren zur Durchführung von Mediationsverfahren, Richtern, Anwälten Standardsymbole zu Termen bereitstellt und erweiterbar ist. Experten für computerlinguistische Verfahren zur domänenbezogenen Sprachentwicklung sind angesprochen, in weiterführenden Arbeiten die Datengrundlage zu erweitern.
[31]
Modellierungssprache evaluieren. Inwiefern Visualisierungspotenziale wie Strukturgebung und Einprägsamkeit (Abschnitt 1) der vorgestellten Modellierungssprache für Nachbarschaftsstreits adressiert werden können, sollte zudem mit Hilfe einer Evaluation überprüft werden. Dazu können etablierte Evaluationsframeworks verwendet werden (z.B. [Gemino/Wand 2004]), die z.B. Verständlichkeit und Qualität einer Sprache verifizieren. Diese unterscheiden häufig zwischen Modellerstellung und Modellinterpretation, um sowohl die Konstrukteur- als auch Leserperspektive abzudecken.

9.

Literatur ^

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