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Tagebuchstudie zum Einsatz von Visualisierungen in der richterlichen Praxis

  • Authors: Bettina Mielke / Christian Wolff
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Visualisation
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2018
  • Citation: Bettina Mielke / Christian Wolff, Tagebuchstudie zum Einsatz von Visualisierungen in der richterlichen Praxis, in: Jusletter IT 22 February 2018
Der Beitrag befasst sich mit einer Tagebuchstudie, in der über einen Zeitraum von zehn Monaten die Nutzung von Visualisierungen im richterlichen Arbeitsalltag dokumentiert wurde. Einführend stellen wir die interdisziplinäre methodische Perspektive, die das Paradigma der visual studies aufgreift und mit einem Mixed-Methods-Ansatz die Rolle von Visualisierungen untersucht, sowie die konkrete Herangehensweise vor. Anschließend präsentieren wir die wesentlichen Ergebnisse der Studie, nach der die richterliche Praxis mit einer Vielzahl von Visualisierungen, vornehmlich Fotografien, aber auch anderen Abbildungstypen konfrontiert ist. Gesonderte Betrachtungen zum Visualisierungstyp Fotografie und zur Zusammenschau mit den Ergebnissen einer Fragebogenstudie runden den Beitrag ab.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einführung
  • 2. Visuelle Studien, Informationsverhalten, juristische Arbeitskulturen
  • 3. Methodik und Herangehensweise
  • 3.1. Konkreter Ablauf der Studie
  • 3.2. Mixed-Methods-Design: Kombination mit einer Online-Umfrage
  • 4. Ergebnisse
  • 4.1. Häufigkeit Visualisierungen allgemein
  • 4.2. Kontext, in dem Visualisierungen auftreten
  • 4.3. Visualisierungstypen und Visualisierungsinhalte
  • 4.3.1. Visualisierungstypen
  • 4.3.2. Visualisierungsinhalte
  • 4.3.3. Urheber der Visualisierungen
  • 4.3.4. Schaubilder – Fallbeispiele
  • 5. Der Visualisierungstyp Fotografie
  • 6. Fazit
  • 7. Literatur

1.

Einführung ^

[1]
Es gibt unterschiedliche Wege, sich Phänomenen der Rechtsvisualisierung anzunähern. Ein Ansatz ist, ausgehend von einer Analyse rechtlicher Zusammenhänge statt einer textorientierten Erörterung visuelle Darstellungsmittel zu entwickeln. Die Kombination aus Analyse und Konstruktion dürfte die derzeitige Literatur zur Rechtsvisualisierung dominieren (siehe Hahn/Mielke/Wolff 2014, 493). Bisher weniger stark vertreten sind empirische Untersuchungen zu diesem Thema. Grundsätzlich bieten sich hier alle Methoden der empirischen Sozialforschung an, wie z.B. Erhebungen zur Häufigkeit des Einsatzes von Visualisierungen mittels Fragebögen (siehe dazu Mielke/Walser Kessel/Wolff 2018). Wie nachfolgend beschrieben gehen wir hier einen anderen Weg und stellen eine qualitative Tagebuchstudie (diary study, siehe dazu Bolger/Davis/Rafaeli 2003) vor, die einen konkreten juristischen Arbeitskontext untersucht: die richterliche Tätigkeit.
[2]
Über einen Zeitraum von zehn Monaten wurde festgehalten, inwiefern Visualisierungen im beruflichen Alltag eines Richters zum Einsatz kommen. Dass in der forensischen Praxis beispielsweise Fotografien, die Tatorte dokumentieren, eine Rolle spielen, ist unmittelbar einleuchtend (vgl. etwa Boehme-Neßler, 2017, 3034). Aufschlussreich ist aber, in welcher Intensität dies erfolgt und mit welchen anderen Formen visueller Darstellungen die juristische Praxis konfrontiert ist.
[3]

Die Studie steht im Zusammenhang mit einer weiteren Untersuchung, die die Erhebung von Häufigkeit und Art der Verwendung bildlicher Darstellungen mittels eines Fragebogens bei Schweizer Richterinnen und Richtern zum Gegenstand hat (Mielke/Walser Kessel/Wolff 2018). Wir nähern uns der Frage nach dem alltäglichen Gebrauch von Visualisierungen also durch eine langlaufende Einzelstudie (in diesem Beitrag) einerseits sowie durch eine Umfrage unter einer möglichst großen Personengruppe andererseits. Neben den zu beobachtenden Ergebnissen ist diese Herangehensweise auch methodisch insoweit interessant, als die beiden Studien in der Zusammenschau eine Mixed-Methods-Herangehensweise (Creswell/Plano Clark 2017; Kelle 2014) darstellen. Durch diese Mixed-Methods-Methodik erhoffen wir, die jeweiligen methodischen Defizite der verschiedenen Verfahren ausgleichen, die Ergebnisse besser konsolidieren und das Gesamtbild des untersuchten Phänomens präziser beschreiben zu können.

2.

Visuelle Studien, Informationsverhalten, juristische Arbeitskulturen ^

[4]
Visuelle Studien und visuelle Methoden haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, vor allem in den Fächern, in denen die materielle Kultur seit jeher eine große Rolle gespielt hat, etwa in der Anthropologie und den Kulturwissenschaften. Allerdings ist man sich selbst in den Sozialwissenschaften, wie in einem einleitenden Aufsatz zu einem erst vor wenigen Jahren erschienenen Handbuch der visuellen Forschungsmethoden ausgeführt wird, der Tatsache der Existenz oder gar der wachsenden Bedeutung visueller Methoden bisher kaum bewusst (Pauwels 2014, 3: «[…] most social scientists are completely unaware of their existence or potential»). Dies dürfte für die Rechtswissenschaft in verstärktem Maße gelten.
[5]
Daneben besteht eine informationswissenschaftlich geprägte Forschung zum Thema Informationsverhalten, die untersucht, wie Menschen in spezifischen Situationen mit Information interagieren und versuchen, bestehende Informationsbedürfnisse zu befriedigen (Case/Given 2016). Diese Grundkonstellation trifft auch für die richterliche Arbeit zu, z.B. beim Aktenstudium, bei dem Informationsbedürfnisse hinsichtlich des Sachverhalts bestehen. Auch für die mittlerweile umfangreiche Forschung zum Thema Informationsverhalten stellt die visuelle Dimension immer noch ein Novum dar, da diese Forschungsrichtung traditionell von der Auseinandersetzung mit (meist wissenschaftlicher) Fachinformation geprägt war und sich erst vergleichsweise spät anderen Informationskontexten und anderen Medien bzw. Repräsentationsformen als Text zugewandt hat.
[6]
Eine dritte Perspektive ist die der Arbeitskulturforschung (Götz/Wittel 2000), die spezifische Arbeitspraxen untersucht. In der Kulturwissenschaft sind visuelle Studien und Datenerhebungsverfahren, wie sie hier in Form einer Tagebuchstudie angewandt wurden, seit langem verbreitet. Insofern kann die vorliegende Studie auch als ethnographisch bzw. kulturwissenschaftlich bezeichnet werden. Ethnographische Methoden bieten sich dort in besonderem Maße an, wo Fragen der Medialität und Materialität, hier gegeben in Form unterschiedlicher Typen von Visualisierungen, eine zentrale Rolle spielen (vgl. Wagner 2014, 55 ff.).

3.

Methodik und Herangehensweise ^

[7]

Bei der Entscheidung für eine Tagebuchstudie spielten folgende Faktoren eine Rolle: Es sollte eine Einzelfallstudie erstellt werden, bei der der richterliche Arbeitsalltag über einen längeren Zeitraum erfasst wird. Andere ethnographische Methoden wie die teilnehmende Beobachtung (Thierbach/Petschick 2014) schieden aus, da sie aus arbeitspraktischen wie rechtlichen Gründen nicht ohne weiteres zu realisieren gewesen wären. Das Konzept der Tagebuchstudie ist in den Sozialwissenschaften seit einiger Zeit verbreitet, es handelt sich um eine autoethnographische Methode für die Analyse und Erfassung visuellen Materials (Chaplin 2014). Die häufigste Arbeitsmethode, die auch hier angewandt wurde, lässt sich als Papier- und Bleistift-Verfahren beschreiben (Bolger/Davis/Rafaeli 2003, 593). Für diese Studie gab es – u.a. in Ermangelung vergleichbarer Arbeiten – zunächst keine weiteren strukturellen Vorgaben. Der Erfassungsmodus hat sich während der Studie entwickelt und greift typische Merkmale der juristischen Arbeitspraxis, etwa Fachbegriffe wie Wahllichtbildvorlage oder auch gerichtsspezifische Abkürzungen für bestimmte Verfahrensarten auf. Es handelt sich im Wesentlichen um eine arbeitsbegleitende sowie eine arbeitszusammenfassende Erhebung: Erstere während des Aktenstudiums, bei dem problemlos Notizen zu Visualisierungen gemacht werden konnten, letztere für die Erfassung von Visualisierungen bei Gerichtsverhandlungen, die die volle richterliche Aufmerksamkeit erfordern und keine Erfassung nebenher zulassen. Im dem Fall wurden Ergebnisse zur Visualisierungsnutzung am Ende eines Arbeitstages erfasst.

[8]
Neben dem Vorteil, dass bei dieser Art der Vorgehensweise kein Dritter (mit dem damit verbundenen Aufwand und den sich dadurch ergebenden datenschutzrechtlichen Problemen) benötigt wird, ist bei einer diary study eine Innensicht möglich, die sonst kaum zu gewährleisten ist. Gegenüber einer Auswertung durch Fragebogen hat die Vorgehensweise den Vorteil, dass es sich nicht um eine reine Selbsteinschätzung ohne empirische Untermauerung handelt. Außerdem lassen sich deutlich detailliertere Erkenntnisse gewinnen. Andererseits handelt es sich hier um die Darstellung eines Einzelfalls, der allerdings aufgrund der Länge einen Überblick über das Vorkommen von Visualisierungen in einem bestimmten Kontext gibt.

3.1.

Konkreter Ablauf der Studie ^

[9]

Über einen Zeitraum von zehn Monaten, konkret vom 27. Februar 2017 bis zum 27. Dezember 2017, wurde von der Autorin Mielke durch eine autoethnographische Erhebung festgehalten, wie häufig sie in welchen Kontexten mit welcher Art von Visualisierungen in der juristischen Arbeitspraxis konfrontiert ist. Die Autorin war in diesem Zeitraum an einem bayerischen Landgericht Vorsitzende einer Strafkammer, die weit überwiegend (80%) mit Strafverfahren befasst war, die zur Zuständigkeit der sog. großen Strafkammer gehören (also im Wesentlichen Verbrechen, bei denen die Straferwartung über vier Jahren liegt, § 74 Abs. 1 GVG). Zu etwa 20% war die Kammer als Rechtsmittelinstanz für Berufungen gegen Urteile des Amtsgerichts (Strafrichter oder Schöffengericht) zuständig. Daneben war die Tagebuchführerin im Beobachtungszeitraum als Güterichterin sowie in der Ausbildung der Rechtsreferendare und der Fortbildung für Kollegen tätig und war selbst Teilnehmerin an Fortbildungsveranstaltungen.

[10]
Die Autorin unterschied bei ihren Aufzeichnungen nach Zuständigkeit und Verfahrenstyp (Verfahren der großen Strafkammer, Berufungsverfahren, Güterichterverfahren, Aus- und Fortbildung), dem Kontext (Aktenstudium, Kommunikation mit Kollegen, Verhandlung) sowie der Art der bildlichen Darstellung (Fotografie, Video, Kartenmaterial, Skizze, Schaubild etc.) und dem Inhalt der Visualisierung (Abbildung des Tatorts, der sichergestellten Beute, der entstandenen Schäden und Verletzungen etc.). Am Ende der Studie wurden die handschriftlichen Aufzeichnungen in Excel erfasst, um die Auswertung zu erleichtern. Alle Daten sind dabei so abstrakt gefasst, dass ein Rückschluss auf einzelne Verfahren nicht möglich ist.
[11]

Die Tagebuchführerin war sich der Gefahr der Einflussnahme bewusst, zumal sie als Vorsitzende einer Strafkammer den Verfahrensablauf wesentlich bestimmt. Sie hat sich daher um eine rein deskriptive Darstellung ihres Arbeitsalltags bemüht und in den ersten Monaten auch deshalb keine Zwischenauswertung vorgenommen. Erst im Frühsommer 2017 fand eine erste Sichtung hinsichtlich der Art der Visualisierungen und der jeweiligen Kontexte statt (ohne Auszählung der Häufigkeiten), deren Erkenntnisse in die Konzeption der Umfrage bei Schweizer Richterinnen und Richtern eingingen (vgl. Mielke/Walser Kessel/Wolff 2018).

3.2.

Mixed-Methods-Design: Kombination mit einer Online-Umfrage ^

[12]

Die vorliegende Tagebuchstudie und die durchgeführte Online-Umfrage zur Nutzung von Visualisierungen bei Schweizer Richterinnen und Richtern (Mielke/Walser Kessel/Wolff 2018) ergeben in der Zusammenschau eine Mixed-Methods-Studie. Solche Untersuchungen kombinieren quantitative und qualitative Methoden der Datenerhebung. Die verschiedenen Teile einer solchen gemischten Studie können zu unterschiedlichen Zwecken miteinander verbunden sein. Diese methodische Herangehensweise ist erst seit den 1990er Jahren insbesondere im angloamerikanischen Raum in der Sozialforschung etabliert worden («Mixed-Methods-Bewegung», Kelle 2017, 40). Kelle 2014, 158 f. beschreibt die wichtigsten Merkmale für das Design von Mixed-Methods-Studien: Dazu gehört die Frage, ob qualitative und quantitative Methoden unmittelbar bei der Anwendung kombiniert werden, die Reihenfolge, in der qualitative und quantitative Methoden in einem Forschungsdesign kombiniert werden, die relative Bedeutung der unterschiedlichen Erhebungstypen sowie die jeweilige Funktion für das Gesamtprojekt. In der vorliegenden Studie wurde im weitesten Sinn eine Parallelität angestrebt, d.h. die empirische Umfrage (Schwerpunkt quantitative Daten) bei Schweizer Richtern (Mielke/Walser Kessel/Wolff 2018) erfolgte in zeitlicher Überlappung mit der – deutlich länger andauernden – Tagebuchstudie. Ein methodisches Kernproblem in der Mixed-Methods-Forschung ist die Ergebnisintegration aus den unterschiedlichen Erhebungsmethoden. Kukartz 2017, 161 zeigt die unterschiedliche Motivation für die verschiedenen Methoden auf. Die Methoden-Triangulation will Konvergenz erreichen, d.h., mit unterschiedlichen Methoden vergleichbare Ergebnisse erreichen. Im Unterschied dazu setzt das Ziel der Komplementarität auf Ausweitung und Ergänzung auf der Basis der Annahme, dass unterschiedliche Methoden auch unterschiedliche Ergebnisse an den Tag bringen. Beide Aspekte sind für die vorliegende Studie relevant. Das auf eine zeitliche Abhängigkeit und logische Abfolge unterschiedlicher Instrumentarien zielende Kriterium der Entwicklung ist für diese Studie nur am Rande relevant. Immerhin kann gesagt werden, dass der Umfrage-Fragebogen erst nach einigen Monaten Laufzeit der Tagebuchstudie entworfen wurde und insofern erste Ergebnisse und Eindrücke aus der Tagebuchstudie auch das Fragebogen-Design beeinflusst haben.

4.

Ergebnisse ^

4.1.

Häufigkeit Visualisierungen allgemein ^

[13]
Die Auswertung der Tagebuchaufzeichnungen ergab hinsichtlich der Häufigkeit folgendes Bild: In ihrer beruflichen Tätigkeit war die Anzahl der Tage, an denen die Autorin mit Visualisierungen konfrontiert war, in etwa so groß wie die Zahl der Tage, an denen die Autorin beruflich nicht mit Visualisierungen befasst war (92 zu 89 Tage). Von den Arbeitstagen mit Visualisierungen war die Autorin an 13 Tage auch als Referentin in der Aus- und Fortbildung tätig oder Teilnehmerin von Fortbildungsveranstaltungen und war lediglich in diesem Kontext mit Visualisierungen befasst. Umgekehrt gab es auch Tage, an denen die Autorin gerade wegen der Teilnahme an Dienstbesprechungen oder ähnlichem nicht primär mit originärer richterlicher Tätigkeit beschäftigt war und sich an diesen Tagen – evtl. deshalb – keine Befassung mit Visualisierungen ergab.
[14]
Insgesamt kam die Autorin während ihrer beruflichen Tätigkeit mit knapp 2‘200 Visualisierungen im Beobachtungszeitraum von zehn Monaten in Berührung. Nicht untersucht wurde, um wie viele verschiedene Visualisierungen es sich handelt. So wurden sicher eine ganze Reihe der bei den jeweiligen Verfahren befindlichen Bilder mehrfach gesichtet, z.B. bei der Entscheidung über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens, bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung und dann in der Hauptverhandlung selbst. In der Studie wurde jegliche Befassung mit einer Visualisierung gesondert gezählt.

4.2.

Kontext, in dem Visualisierungen auftreten ^

[15]
Die Auswertung der Aufzeichnungen dahingehend, in welchem Kontext Visualisierungen vorkommen, ergibt, dass vor allem zwischen Aktenstudium und Verhandlungen zu unterscheiden ist. Neben Sonderfällen und dem Kontext der Aus- und Fortbildung hatte die Autorin im Beobachtungszeitraum beim Aktenstudium mit über 1‘440 Visualisierungen zu tun sowie in der Verhandlung mit 625. Dieser Unterschied erklärt sich dadurch, dass während der Vorbereitung häufig alle von den Ermittlungsbehörden gefertigten Fotografien, etwa zur Tatörtlichkeit oder den dokumentierten Verletzungen/Schäden, gesichtet werden, während nur ausgewählte Lichtbilder durch Augenscheinnahme in der Hauptverhandlung zum Gegenstand der förmlichen Beweisaufnahme gemacht werden. Während der Urteilsverkündung kamen keine Visualisierungen vor, auch bei der internen Kommunikation mit Kollegen spielten Visualisierungen nur eine geringe Rolle.
[16]
Hinsichtlich der Verfahrensarten entfielen ca. 1‘400 Visualisierungen auf Verfahren, die zur Zuständigkeit der großen Strafkammer gehören, ca. 650 Visualisierungen auf Berufungsverfahren (Verfahren, die zur Zuständigkeit der kleinen Strafkammer gehören), ca. 100 ergaben sich im Aus- und Fortbildungskontext.

4.3.

Visualisierungstypen und Visualisierungsinhalte ^

[17]
In der Regel hielt die Autorin auch fest, um welche Art von Visualisierung (Foto, Video, Schaubild, Karten etc.) es sich handelte und welchen Inhalt die Visualisierungen haben.

4.3.1.

Visualisierungstypen ^

[18]

Von den knapp 2‘200 Visualisierungen, mit denen die Autorin konfrontiert war, entfallen über drei Viertel auf Fotografien einschließlich einzelner Bilder aus Videos (hier als Videobilder bezeichnet). Am zweithäufigsten vertreten sind Visualisierungen mit Moderationskarten und Flipcharts, die die Autorin allerdings nicht in ihrer strafrichterlichen Praxis verwendete, sondern während ihrer Tätigkeit in der Aus- und Fortbildung bzw. als Güterichterin. Screenshots kamen vor allem während einer Fortbildung zur E-Akte zum Einsatz. In der strafrichterlichen Tätigkeit begegneten der Tagebuchführerin zudem Landkarten, Videos und Skizzen (beispielsweise zum Grundriss einer Wohnung oder zur Bauart einer Schusswaffe). Schaubilder wurden außerhalb von Aus- und Fortbildung nur selten genutzt, die wenigen Fälle betreffen ausschließlich die Nutzung eines Zeitstrahls zur Klärung, ob eine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet werden muss. Tabellen wurden von der Autorin aufgrund des Umstands, dass es sich um strukturierten Text handelt, nicht als Visualisierung erfasst. Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick zu den verschiedenen Visualisierungstypen:

Visualisierungstyp Anzahl
Fotografien/Videobilder 1‘994
Moderationskarten/Flipcharts 67
Screenshots 30
(Land)Karten 15
Schaubilder/Zeitstrahl 15
Videos 8
Skizzen 5
Sonstige 32

Tabelle 1: Häufigkeiten der verschiedenen Visualisierungstypen

4.3.2.

Visualisierungsinhalte ^

[19]

Die Auswertung der Visualisierungsinhalte ergibt, dass am häufigsten Bilder mit kinderpornographischen Darstellungen vorkamen, gefolgt von Lichtbildern des Tatorts sowie Bilder, auf denen Betäubungsmittel zu sehen sind. Anzumerken ist dabei, dass bei ersteren diese selbst den Gegenstand des Verfahrens bilden und sich hier nur zwei Berufungsverfahren, die den Besitz bzw. die Verbreitung von kinderpornographischen Schriften zum Gegenstand haben, besonders auswirken, was insofern einen Sonderfall darstellt. Bei Wahllichtbildvorlagen zur Personenidentifizierung handelt es sich um standardisierte Lichtbildmappen, in denen sich jeweils acht Fotos von Personen ähnlicher Erscheinung befinden, darunter auch der oder die zu Identifizierende. Insgesamt wurden 15 solcher Vorlagen mit jeweils acht Fotografien im Beobachtungszeitraum von der Autorin gesichtet. Interessant ist auch, dass sich häufig abfotografierter Chat-Verkehr aus unterschiedlichen social media-Plattformen wie WhatsApp oder Facebook als Beweismittel in den Akten befindet. Die nachfolgende Tabelle zeigt, wie häufig die Visualisierungen welche Inhalte enthalten. Für die tabellarische Zusammenfassung wurden die Erfassungskategorien teilweise aggregiert, beispielsweise wurden die Kategorien «Tatort», «Wohnung Verkaufsort BtM» sowie «Wohnung Auffindeort BtM» zur Kategorie Tatort zusammengefasst.

Visualisierungsinhalt Anzahl
Kinderpornographische Darstellungen 459
Tatort 414
Betäubungsmittel 292
Wahllichtbildvorlagen 120
Verletzungen 98
Beute 96
Fundort Beute/Betäubungsmittel 83
Beschuldigte 57
Abfotografierter WhatsApp-Verkehr/Facebook-Chats u.ä. 56
Schäden 40
Tatwerkzeug/Waffen 32

Tabelle 2: Vorkommen der unterschiedlichen Inhaltstypen

4.3.3.

Urheber der Visualisierungen ^

[20]
Soweit die Aufzeichnungen dazu etwas enthielten, wurde ausgewertet, von wem die Visualisierung stammt. Die überwiegende Zahl stammt erwartungsgemäß von den Ermittlungsbehörden, insgesamt ca. 1‘440 Bilder. Bei den knapp 460 Bildern mit kinderpornographischem Inhalt ist die Urheberschaft unbekannt.
[21]

Außerhalb des Kontextes der Aus- und Fortbildung sowie der Güterichtertätigkeit wurden insgesamt nur sechs Visualisierungen von der Autorin selbst produziert, und zwar ausnahmslos Visualisierungen zur nachträglichen Gesamtstrafenbildung. Es handelt sich um einen Zeitstrahl, auf dem vermerkt ist, wann welche Taten abgeurteilt wurden. In einem Fall wurde ein solcher von Seiten der Staatsanwaltschaft gefertigt und in der Hauptverhandlung zur Verdeutlichung den übrigen Beteiligten übergeben. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass eine Reihe der in den Akten befindlichen Fotografien von den Beschuldigten selbst stammen, beispielsweise im Handy gespeicherte Fotografien von Waffen oder Betäubungsmitteln.

4.3.4.

Schaubilder – Fallbeispiele ^

[22]

Schaubilder treten in dieser Studie zwar nur selten auf, da sie aber anders als Fotografien juristische Zusammenhänge bildlich repräsentieren und nicht nur einen Realweltausschnitt abbilden oder selbst Verfahrensgegenstand sind (kinderpornographische Fotos), sind sie aus Sicht der Rechtsvisualisierung von besonderem Interesse. Deshalb seien zwei Beispiele aufgeführt (Abbildungen 1 und 2).

Abbildung 1: Zeitstrahl zur Gesamtstrafenbildung Abbildung 2: Ökonomische und rechtliche Zusammenhänge in einer Güterichterverhandlung (Foto eines Flipchart; Eigennamen verpixelt)
[23]
Abbildung 1 zeigt einen Zeitstrahl zur Gesamtstrafenbildung, Abbildung 2 entstand im Rahmen eines Güterichterverfahrens. Die Beteiligten entwickelten hier interaktiv an einer Flipchart ein Schaubild zu den Zusammenhängen von Ansprüchen verschiedener Gesellschaften. Es handelt sich um die Spontankreation eines komplexen logischen Bildes auf der Basis weniger graphischer Primitive (Kästchen, Pfeile, verschiedene Farben, Freihand-Umrisse als Ein-/Abgrenzung).

5.

Der Visualisierungstyp Fotografie ^

[24]

Soweit Fotografien Beweiszwecken dienen und nicht selbst Gegenstand des Verfahrens sind, zeigen sie am häufigsten den Tatort, was bei einer strafrichterlichen Tätigkeit nicht überraschend ist. Dass die Inhalte dabei auch die strafrechtlichen Arbeitsschwerpunkte im Beobachtungszeitraum spiegeln, ist ebenso nachvollziehbar: Fotografien als gerichtliche Beweismittel und ihre Rolle der Fotografie als «Zeuge» genauso wie als «Lügner» sind schon oft beschrieben worden (Stiegler 2015, 135 ff., 265 ff.; Golan 2016, 171 ff.).

[25]

Die klar erkennbare (und erwartbare) Dominanz der Fotografie unter den auftretenden Visualisierungstypen gibt Anlass zu einer genaueren Betrachtung zum Umgang mit diesem Medientyp: In der Retrospektive wird deutlich, dass unterschiedliche Arten der Interaktion mit Fotografien vorkommen. An einem Ende des Spektrums tritt eine sehr intensive Betrachtung auf, typischerweise gerade dort, wo die Fotografie selbst Gegenstand der Straftat ist, z.B. bei Verfahren, in denen es um Kinderpornographie geht. Hier muss jedes Bild analysiert und die dargestellte Szene nach entsprechenden Tatbestandsmerkmalen klassifiziert werden. Beispielsweise geht es darum, ob in einer Fotografie eine «unnatürlich geschlechtsbetonte Körperhaltung» erkennbar ist. Eine ähnlich intensive Auseinandersetzung tritt bei Videos aus Überwachungskameras mit schlechter Qualität oder bei Aufnahmen aus einem ungünstigen Winkel auf. Hier ist die Interpretation dessen, was auf dem Film zu sehen ist, oftmals außerordentlich schwierig. Eine ähnliche Herausforderung bieten teilweise die oben bereits angeführten Wahllichtbildvorlagen, wenn zu beurteilen ist, wie hoch die Verwechslungsgefahr ist oder ob die übrigen abgebildeten Personen zu wenig Ähnlichkeit mit der zu identifizierenden Person aufweisen. Schließlich sind zur Bewertung von Fotografien von Verletzungen oftmals Sachverständige, insbesondere Gerichtsmediziner hinzuzuziehen.

[26]

Am anderen Ende des Spektrums finden sich Bilder, die durch ihre Abbildhaftigkeit – gezeigt wird eine Waffe, eine Menge an Betäubungsmitteln, ein Unfallort – vergleichsweise leicht zu interpretieren sind. Bei derartigen Abbildungen existieren zudem Alternativen zur medialen Vermittlung durch eine Fotografie, z.B. durch Zeugenaussagen, handgefertigte Skizzen oder die Möglichkeit, vom Objekt selbst Augenschein zu nehmen. In vielen Fällen kommen Fotografien auch als Vorhalt gegenüber Zeugen bei ihrer Vernehmung zum Einsatz.

[27]
Es fragt sich, inwieweit eine eigene Bildschulung zur Ausbildung richterlicher Bild- bzw. Fotokompetenz erforderlich ist. Mit Blick auf die Manipulationsmöglichkeiten digitaler Medien ist anzumerken, dass zumindest Grundkonzepte der digitalen Bildforensik vermittelt werden sollten.

6.

Fazit ^

[28]
Für die Autorin war überraschend, wie viele Visualisierungen in ihrer Arbeitspraxis vorkommen, auch wenn nicht alle Bilder eine bedeutende Rolle für das Verfahren spielen. In der Rückschau wäre nicht zu erwarten gewesen, dass jeder zweite Arbeitstag von der Auseinandersetzung mit Visualisierungen geprägt ist.
[29]

Die dominierende Form der Visualisierungen sind Fotografien, andere Visualisierungsarten treten seltener auf: Es kommen nur wenige Schaubilder vor und diese vor allem in der Aus- und Fortbildung, in der richterlichen Praxis lediglich zur nachträglichen Gesamtstrafe, zur Darstellung rechtlicher Zusammenhänge ansonsten praktisch nicht. Dies steht im Gegensatz zur Bedeutung, die gerade dem logischen Bild in der juristischen Visualisierungsliteratur gewidmet wird (vgl. die Auswertung bei Mielke/Walser Kessel/Wolff 2017).

[30]
Zu fragen ist, inwieweit die Ergebnisse auf andere juristische Tätigkeiten übertragbar sind: Auf der Hand liegt, dass die Ergebnisse der strafrichterlichen Praxis auf die Tätigkeit des Strafverteidigers, soweit Aktenstudium und Verhandlung betroffen sind, eins zu eins übertragen werden können, da Gericht und Verteidiger mit denselben Strafakten umgehen. Ob beim Mandantengespräche Visualisierungen zum Einsatz kommen, erscheint möglich, dürfte aber sicherlich stark von der individuellen anwaltlichen Praxis abhängen.
[31]
In der Makroperspektive sehen wir in der Zusammenschau mit Mielke/Walser Kessel/Wolff 2018 als Ergebnis des Mixed-Methods-Ansatzes ein konvergentes Bild mit Blick auf die Nutzung von Visualisierungen in der richterlichen Praxis: Beide Studien ergeben, dass grundsätzlich viele Visualisierungen auftreten, vor allem beim Aktenstudium, seltener in der Verhandlung, wobei Fotografien dominieren. In der Mikroperspektive zeigen die qualitative Tagebuchstudie und die – wenigen – qualitativen Teile der Online-Umfrage jeweils Details und Facetten der Visualisierungsnutzung, die durch standardisierte quantitative Erhebungsinstrumente nicht ohne Weiteres zu erfassen sind. Die Tagebuchstudie ergibt zudem Detailerkenntnisse zu Inhalten, Urheberschaft und Einzelphänomenen wie der Produktion von Schaubildern in unterschiedlichen Kontexten.

7.

Literatur ^

Boehme-Neßler, Volker (2017), Die Macht der Algorithmen und die Ohnmacht des Rechts. Wie die Digitalisierung das Recht relativiert, NJW 2017, 3031–3037.

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Mielke, Bettina/Walser Kessel, Caroline/Wolff, Christian (2018), Praxis der Rechtsvisualisierung bei Schweizer Richterinnen und Richtern – eine empirische Studie, in diesem Band.

Pauwels, Luc (2014), An Integrated Conceptual Framework for Visual Social Research. In: Margolis, Eric/Pauwels, Luc (Hrsg.), The SAGE Handbook of Visual Research Methods, SAGE, Los Angeles et al. 2011, Reprint 2014, 3–23.

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