Jusletter IT

Der digitale Mensch als Defizitmodell. IoT-Cyborgisierung, künstliche Intelligenz und Ich-Virtualisierung

  • Author: Wolfgang Schinagl
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Theory, Artificial Intelligence & Law, Robotics, Internet-of-Things
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2019
  • Citation: Wolfgang Schinagl, Der digitale Mensch als Defizitmodell. IoT-Cyborgisierung, künstliche Intelligenz und Ich-Virtualisierung, in: Jusletter IT 21. February 2019
Die ubiquitäre digitale Echtzeit-Vermessung des Menschen schürt enorme Hoffnungen auf ein besseres Verständnis der Funktionsweise von Körper und Geist. Massive Datenanalyse, Maschinenlernen und Künstliche Intelligenz sollen neue Erkenntnisse liefern, welche die zunehmenden Defizite durch Alterung und den schleichenden körperlichen und mentalen Verfall verlangsamen, ja sogar stoppen. Der Mensch wird zunehmend als schlecht konstruiertes System entlarvt, welches grundlegend re-engineered werden soll. Dabei geht es nicht mehr nur um den Austausch von ausgeleierten, verbrauchten und erkrankten Organen, sondern um eine fundamentale Transformation von Körper und Geist mittels IoT-Cyborgisierung und Künstlicher Intelligenz. Endo- und Exoprothesen werden zunehmend mit IoT ausgestattet. Dabei sind Cybersecurity, Datenschutz und Robolaw wichtige Voraussetzungen für Anwendungen im Massenmarkt. Ein weiterer Schritt ist die in der transhumanistischen Philosophie erörterte und in Science Fiction Literatur bereits vollzogene Aufspaltung von Körper und Geist (Ich, Bewusstsein, Personale Identität) für eine Lebensverlängerung des Ichs außerhalb des biologischen Körpers. Theorien eines synthetischen Bewusstseins und Methoden der Ich-Virtualsierung beginnen sich langsam zu formieren.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Künstliche Intelligenz – ein Marketingbegriff
  • 2. Der Mensch als Defizitmodell – Ein Irrläufer der Evolution
  • 2.1. Im Zentrum steht das Ich (Personale Identität)
  • 2.2. Wie viele Ichs haben jemals gelebt?
  • 2.3. Ich-Lebensverlängerung durch Körperkult
  • 2.4. Ich-Lebensverlängerung durch Medizin
  • 2.5. Ich-Lebensverlängerung durch Cyborgisierung
  • 2.6. Ich-Lebensverlängerung durch Transhumanismus
  • 3. Fazit

1.

Künstliche Intelligenz – ein Marketingbegriff ^

[1]

Der Begriff «Künstliche Intelligenz» verspricht nicht das, was er suggeriert, nämlich dass der Computer Information versteht, etwas weiß und kluge Sprachhandlungen erzeugt. Im Detail verweise ich dazu auf meine Publikation1, in der im Abschnitt über «Künstliche Intelligenz» philosophisch-wissenschaftstheoretisch begründet wird, dass Artificial Intelligence (AI) in der derzeitigen Computerpraxis (syntaktische Symbolmanipulation in der Programmierung und Maschinenlernen) noch keine echten Denk- und Verstehensprozesse realisiert. «Künstliche Intelligenz» ist eher ein Marketingbegriff, der durchaus erstaunliche Ergebnisse produziert, die eine «Künstliche Intelligenz» imitieren.

2.

Der Mensch als Defizitmodell – Ein Irrläufer der Evolution ^

[2]

Arthur Koestler (1905–1983), ein österreichisch-ungarischer Denker, Philosoph und multilingualer Journalist, hat im Jahre 1976 ein bemerkenswertes Buch geschrieben: «Der Mensch. Irrläufer der Evolution». Mit seinem Titel steht er in vollem Kontrast zur biblischen Aussage «des Menschen als Krönung der Schöpfung»2. Ich zitiere: «Die Evolution hat viele Fehler gemacht; Julian Huxley hat sie mit einem Labyrinth von zahllosen Sackgassen verglichen, die alle zu Stagnation oder in den Untergang führen. Auf jede lebende Spezies kommen Hunderte andere, die in der Vergangenheit ausgestorben sind; die Fossiliensammlungen unserer Museen sind gleichsam die Müllplätze für die verworfenen Modelle des großen Chefkonstrukteurs.»3,4 Koestler weist den Menschen in seiner biologischen Konstruktion als Pfusch aus, als Konglomerat voller Defizite, als Fehlkonstruktion der Evolution oder eines Schöpfers. Kein multidisziplinäres Team an Ingenieuren und Wissenschaftern würde heutzutage den Menschen mit solch biologischen, kognitiven und irrationalen Unzulänglichkeiten konstruieren. Als Beispiel des Menschen als Fehlkonstruktion dient die durchaus sinnvolle Schmerzwahrnehmung des menschlichen Körpers, die zu tödlichen Fehleinschätzungen führen kann. Der Zahnschmerz ist für die meisten Menschen eine der größten Qualen. Die häufigste Ursache dafür ist ein multifaktorielles Karies-Phänomen, das völlig harmlos ist und durch Zahnextraktion oder Wurzelbehandlung schnell und ohne lebensbedrohliche Folgen aus der Welt geschafft werden kann. Hingegen ist die Krebsentstehung5 meistens unauffällig und geschieht völlig ohne Schmerzen. Wenn dann der Schmerz aufgrund von Krebsgeschwüren auftritt, ist es meist zu spät. Hier wurde das an und für sich sinnvolle Frühwarnsystem einer Schmerzwahrnehmung bei einem Körperdefekt vom Konstrukteur «komplett vergeigt». Weil nun dieser Konstrukteur, sei es die Evolution oder der Schöpfer, sich nicht schnell genug um die Verbesserung seiner Erfindung kümmert, müssen wir Menschen die Reparatur, eine Therapie, beziehungsweise vielleicht sogar ein vollständiges Re-Engineering der biomolekularen Konstruktion Mensch in Angriff nehmen. Der Mensch wird durch das Empowerment der Wissenschaften selbst zum Konstrukteur, zum Schöpfer und zum Homo Deus6. Die digitale Vermessung des Menschen, die Digitalisierung und das Verständnis der medizinischen, molekularbiologischen, mechanischen und interaktiven Zusammenhänge von Mensch und Welt sollen den Menschen auf eine neue Ebene bringen, ihn besser, robuster und resilienter machen.

2.1.

Im Zentrum steht das Ich (Personale Identität) ^

[3]

Doch wer ist dieser Mensch, wenn wir von ihm sprechen? Es ist unser Ich, wir selbst sind damit gemeint. Nicht der Mensch steht im Vordergrund, sondern das Ich-Bewusstsein oder philosophisch ausgedrückt: die personale Identität. Das Ich ist etwas Unglaubliches: Obwohl sich alles in der Welt ändert, auch unser molkularer Körper durch den Stoffwechsel, bleibt unser Ich gleich. Das Ich ist eine Konstante im Fluss der Lebenszeit. Die Philosophie als Generalwissenschaft beschäftigt sich schon seit jeher mit dem Ich. Doch zunehmend interessieren sich die Computerwissenschaften verstärkt für die personale Indentität: Künstliche Intelligenz, Neuronale Netzwerke, Maschinenlernen, Neuroinformatik und Artificial Consciousness analysieren das Ich und versuchen das Geheimnis der Funktionsweise des Bewusstseins zu entschlüsseln.

[4]

In der allgemeinen Wahrnehmung ist das Ich ohne Ende konzipiert. Es ist ein sinnvoller Glaube anzunehmen, dass man am nächsten Tag noch lebt und nicht nach dem Einschlafen stirbt. Selbst wenn man sterben sollte, sagen uns die meisten Religionen ein ewiges Leben voraus. Bereits die Frühmenschen hatten Bestattungsrituale und zelebrierten Ahnenverehrung. In der christlichen Religion heißt es, dass jeder, der an Jesus Christus glaubt7, mit einem ewigen Leben belohnt wird. Der Tod ist das Ende der körperlichen Existenz. Wenn man vom Freitod-Tourismus absieht, dann ist das irdische Ende evolutionär bestimmt. Entweder stirbt man durch Krankheit oder durch eine Koinzidenz. Die Krankheit kann auch eine Depression sein und als Folgewirkung einen Selbstmord auslösen. Eine Koinzidenz mit Todesfolge ist meistens ein tragisches Unglück, bei dem sich ein Unfall- oder Mordopfer zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort befunden hat, z.B. bei einem Crash mit einem Geisterfahrer auf der Autobahn. An einem vorsätzlichen Mord zu sterben, ist eher unwahrscheinlich. Weltweit kommen durchschnittlich 6,2 Morde auf 100'000 Einwohner pro Jahr, in Österreich sind es 0,7 Morde pro 100'000 Einwohner pro Jahr (57 Morde im Jahr 2016)8. Die fünf häufigsten Todesursachen9 sind (1) Koronare Herzkrankheiten 15,5%, (2) Schlaganfall 11 %, (3) Infektionen der unteren Atemwege 5,6%, (4) Chronisch obstruktive Lungenerkrankung 5,6 % und (5) Krebs der Lunge, Luftröhre und Bronchien 3%. In Wirklichkeit ist eine tödliche Krankheit als Körperdefizit fast immer der Mörder des Ichs.

2.2.

Wie viele Ichs haben jemals gelebt? ^

[5]

Derzeit leben ca. 7,6 Milliarden Ichs auf der Welt (in Österreich sind es 8,8 Millionen). Im Jahr 2055 werden es circa zehn Milliarden und im Jahr 2100 11,2 Milliarden sein. Aber besonders interessant ist es, wie viele Menschen jemals auf der Welt gelebt haben. Der kanadisch-amerikanische Wissenschaftler Nathan Keyfitz10 (1913–2010) gilt als Begründer der mathematischen Demographie. Nach seiner Theorie11 haben insgesamt mehr als circa 108 Milliarden12 Menschen jemals gelebt. Wenn wir von 108 die ca. 8 Milliarden abziehen, dann kommen wir auf ca. 100 Milliarden Ichs, die jemals gelebt haben und bereits gestorben sind. Das Himmelreich benötigt daher Platz für ca. 100 Milliarden Seelen. Nun wäre es natürlich sehr interessant, zu den Verstorbenen Kontakt aufzunehmen, mit ihnen offene Fragen zu besprechen und Geheimnisse zu ergründen, welche die Toten mit ins Grab genommen haben. Doch im Sinne eines Forschungspragmatismus ist es zielführender, das Ich-Bewusstsein der zukünftigen Generationen mit neuen, technologischen Mitteln und Ansätzen vor dem endgültigen Verblassen zu schützen.

2.3.

Ich-Lebensverlängerung durch Körperkult ^

[6]

Eine der brennenden Fragen unserer Zeit ist, wie man möglichst lange, ohne Krankheit, mit hoher Motivation, Lebensfreude und maximalem Glücksgefühl leben und so den Tod hinauszögern kann? Eine naive Idealvorstellung wäre, überhaupt nicht zu sterben. Aber selbst ein homo deus wird das Sterben nicht abschaffen können. Wer Körperkult und Fitness betreibt, hat gute Chancen auf eine Lebensverlängerung. Das Bewusstsein für einen lebensverlängernden Körperkult (Fitness) kann durch Digitalisierung gestärkt und motivational mit Apps verankert werden. Bereits im Altertum waren Sanatorien und Heilthermen beliebt und aufgrund ihrer Heilerfolge sehr geschätzt, wie z.B. das Asklepieion auf der griechischen Insel Kos, dem Geburtsort von Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.), dem Begründer der modernen Medizin als Wissenschaft.

[7]

Fast jeder kennt den Spruch des römischen Dichters Juvenal (ca. 60–130 n.Chr.): mens sana in corpore sano13 (ein gesunder Geist in einem gesunden Körper). Gemeint ist damit, wer die richtige Lebensweise wählt, der oder die sorgt dafür, dass sowohl der Körper als auch der Geist (das Ich) möglichst lange gesund bleiben. Die Frage, die sich dann stellt, ist: Gibt es eine natürliche Altersgrenze für das menschliche Leben? Die Antwort kennen wir schon sehr lange, nämlich aus dem Alten Testament und diese lautet: 120 Jahre. Im ersten Buch Mose 6, 3 (Lutherbibel) steht: «Da sprach der HERR: Mein Geist soll nicht immerdar im Menschen walten, denn auch der Mensch ist Fleisch. Ich will ihm als Lebenszeit geben einhundertzwanzig Jahre.» Wenn man annimmt, dass Moses im 13. Jahrhundert vor Christus gelebt hat und dass die fünf Bücher Mose von jüdischen Priestern im 5. Jahrhundert vor Christus zusammengestellt wurden, dann gibt es diese natürliche Grenze von 120 Jahren schon seit ca. 2'500 Jahren. Bis heute werden Menschen kaum älter als 120 Jahre14.

2.4.

Ich-Lebensverlängerung durch Medizin ^

[8]

Die praktische, moderne Medizin als Wissenschaft ist ein Vier-Schritt-System bestehend aus (1) Symptom, (2) Anamnese (Krankheitsgeschichte), (3) Diagnose und (4) Therapie. Moderne Technologien und Digitalisierung ändern und ergänzen dieses Vier-Schritt-System. Bei der Symptom-Erkennung werden zunehmend bildgebende Verfahren eingesetzt. So werden beispielsweise auffällige Muttermale und Pigmentflecken von hochauflösenden Haut-Scannern (Laser-Spektrometern) abgebildet und mit Methoden der Künstlichen Intelligenz als maligne Melanome (schwarzer Hautkrebs) erkannt15. Über High-Tech-Uhren (so genannte Smartwatches) und Wearables16 lassen sich mittlerweile physiologische Biomarker (messbare Indikatoren für krankhafte Prozesse im Körper) wie Herzfrequenz, Puls, Blutdruck, EKG17, Gehirnaktivität (EEG)18, Temperatur, Bewegungsaktivität, Schlafrhythmus, Kalorienverbrauch, u.v.a.m. messen.

[9]

Eine der ältesten Befundungen der modernen Medizin ist die Erstellung eines Blutbildes mittels eines Blutanalysegerätes. Mit dem Fortschreiten der Medizin in Richtung Molekularbiologie werden zunehmend molekulare Biomarker zur Früherkennung von Krankheiten wie z.B. Prostatakrebs19 eingesetzt. Molekulare und bildgebende Biomarker-Analysetechnik-Geräte werden durch verbesserte Sensorik und Mikroelektronik immer kompakter, kleiner, präziser, durch IoT vernetzt und preisgünstiger, so dass in Zukunft zu erwarten ist, dass einerseits die Ärzte immer schneller und genauer messdatengestützte Diagnosen erstellen können und dass andererseits der «digitale Mensch» sich selbst vermisst und so einen Echtzeit-Befund über seinen Gesundheits- oder Krankheitszustand am Smartphone im Zugriff hat20. Der Trend geht eindeutig in Richtung massive Datensammlung im Sinne der Selbstvermessung und Selbstoptimierung – bis hin zur individuellen Gesamtgenomsequenzierung. Die US Firma 23andMe21 bietet bereits um US$ 69 eine individuelle Gensequenzierung (Teilgenomanalyse) an. Die daraus gewonnenen Informationen enthalten individuelle und familiäre Daten zur genetisch-geografische Abstammung (z.B. 47% Nordeuropäer, 12% Neandertaler). Durch die zunehmende molekularbiologische Präzisierung der Funktionsweise des individuellen Körpers entwickelt sich die Medizin des 21. Jahrhunderts sehr schnell von der Leitlinien-Medizin in eine personalisierte Medizin, die maßgeschneidert auf den Patienten ist, genauer die Ursachen für eine Erkrankung erforscht, höhere Heilungschancen verspricht und die Nebenwirkungen reduziert. In Teilbereichen wie z.B. in der Transplantationschirurgie ist die Medizin schon lange personalisiert. Der Trend zur personalisierten Medizin hängt mit der Digitalisierung zusammen. Moderne Untersuchungen wurden bereits in den letzten Jahrzehnten mit Digitalmessgeräten durchgeführt, z.B. Genomanalysen, funktionelle Bildgebungsuntersuchungen und molekulare Pathologiediagnostik. Die digitalen Messergebnisse führen zu einer massiven Datensammlung aus Diagnostik und Therapie. Letztlich soll durch die digitale personalisierte Medizin eine Qualitätsverbesserung der medizinischen Behandlung erfolgen und zu einer Lebensverlängerung führen22. Das durch die personalisierte Medizin gewonnene Datenkonglomerat erzeugt einen «digitalen Zwilling», ein Daten-Abbild der körperlichen und einzigartigen Identität in Form von Big Data. Der Mensch existiert ab dann zweimal, einmal als reales Lebewesen in einer realen Welt und einmal als «digital-verkörperter» Mensch 2.0 im Cyberspace.

[10]

Das Blutbild wird als zweispaltige Tabelle angezeigt. In der ersten Spalte stehen die Ist-Werte, in der zweiten Spalte stehen die Idealwerte einer Leitlinien-Medizin. Durch die digitale, personalisierte Medizin wird es möglich werden, ein individualisiertes Optimalmodell der Messwerte darzustellen. Gemessen an diesem Optimalmodell sind dann die Realwerte mit größter Wahrscheinlichkeit davon abweichend. Dies bedeutet, dass der Mensch – gemessen am Optimalmodell – immer ein Defizitmodell ist und sein wird. Bereits heute suggerieren Fitness-, Diät-, Meditations- und Lauftrainings-Apps, alles zu tun, um in einen optimalen Bereich zu kommen, der dann eine Lebensverlängerung verspricht. Schon seit einigen Jahren werden unseriöse Apps angeboten, die das individuelle Todesdatum berechnen (Dein Todestag, Todesrechner, Wann ich sterbe?, etc.). Sinnvoller sind jene Apps, die Realdaten mit Idealdaten verknüpfen und konkrete Handlungsempfehlungen geben, wie z.B. zu einem täglichen Bewegungsprogramm motivieren. Der digitale Zwilling, generiert aus Wearables und einer digitalen personalen Medizin, bekommt eine Eigendynamik und fördert die Selbstoptimierung und Selbstkonditionierung mit dem Smartphone als Feedback-System. Der Blick auf den digitalen Zwilling vermittelt sofort Übergewichtigkeit, Cholesterin-Probleme, Bewegungsmangel und den Gesamtzustand als Defizitmodell.

2.5.

Ich-Lebensverlängerung durch Cyborgisierung ^

[11]

Die moderne Medizintechnik hat eine Ersatzteilmedizin hervorgebracht. Organe, die nicht mehr richtig funktionieren, werden durch künstliche Ersatzteile ersetzt, mit künstlichen Bauteilen ergänzt und elektronischen Maschinen gestützt. Wie alle Bauelemente unterliegen diese dem Verschleiß und müssen daher gewartet werden. Das Austauschen und Ergänzen von natürlichen Organen durch medizintechnische Artefakte nennt man Cyborgisierung. Ein CYBORG (CYBernetic ORGanism) ist daher ein Mensch, der zu einem bestimmten Prozentsatz aus künstlichen Bauteilen, Maschinen oder tierischen Ersatzteilen besteht. Ein Mensch mit Herzschrittmacher, Kontaktlinsen, künstlicher Hüfte oder Stents (Implantat zum Offenhalten von Gefäßen) ist bereits ein Cyborg. Die häufigsten Ersatzteile und Bauteile der Cyborgisierung sind so genannte Endoprothesen. Das sind Implantate im Körperinneren wie Zahnimplantate, künstliche Gelenke wie Schultern, Hüften, Kniegelenke, Ellbogen und Sprunggelenke, Brustimplantate, Herzschrittmacher, Stents, Cochlea-Implantate, bionische Augen23, Kunstherzen, etc. Bei den künstlichen Gelenken ist das künstliche Hüftgelenk derzeit noch das einzige Gelenk, das man vergisst und nach einiger Zeit nicht mehr als Fremdkörper spürt (forgotten joint). Kniegelenke und Schultergelenke werden derzeit noch als Artefakte im Körper wahrgenommen.

[12]

Damit die bei Körperbeanspruchung auftretenden Kräfte in den Gelenken im Körper gemessen werden können, bekommen diese IoT-Mess-Sensoren eingebaut, welche die Messdaten nach außen per Funkverbindung übertragen. Damit kann die Materialbeanspruchung gemessen und die Prothese für Langlebigkeit optimiert werden. Herzschrittmacher werden immer stärker miniaturisiert und gleichzeitig durch Mikroprogrammierung intelligenter. Der kleinste Herzschrittmacher (Micra Kardiokapsel von Medtronics)24 hat die Größe einer Vitaminkapsel, kann per Herzkatheter an die richtige Stelle im Herzen gebracht werden und wird dort verankert. Die Batterielebensdauer beträgt 12–14 Jahre. Mit einem kabellosen Programmiergerät, welches man auf die Brust legt, wird der Herzschrittmacher aktiviert und richtig eingestellt. In Zukunft kann man über Cybersecurity-geschützte Verbindungen Remote Monitoring und Remote Diagnostics über Smartphone und 5G-Mobilfunkverbindung zu einem Arzt, Krankenhaus oder einem medizinischen Cloud-Dienst realisieren. Eine weitere Hoffnung ist das Kunstherz. Derzeit werden in Deutschland ca. tausend Kunstherzen pro Jahr25 implantiert. Idealerweise wird das elektronisch-mechanische Kunstherz nur als Übergangssystem bis zur Implantation eines Spenderherzes verwendet. Ein natürliches Herz schlägt ca. 4'000 Mal pro Stunde, 95'000 Mal pro Tag und 35 Millionen Mal pro Jahr. Die Anforderungen an die Zuverlässigkeit von Akku, Controller, Biomechanik, Materialien, IoT, etc. für ein Kunstherz sind enorm. Eines der modernsten Kunstherzen HeartMate 326 zur Kreislaufunterstützung27 ist von der kalifornischen Firma Thoratec Corporation, die vom US-amerikanischen Pharmakonzern Abbott Corporation übernommen wurde. Eine andere Technologie mit Zukunftspotenzial ist es, durch Selbstorganisation ein künstliches Herz, eine künstliche Lunge, etc. im Labor als Organoid zu züchten und Schicht für Schicht mit einem 3D-Drucker aufzubauen28. Daraus erwächst sogar ein neuer Berufszweig, der des «Organoid Architect»29. Organoide können für folgende Anwendungen verwendet werden: Regenerative Medizin (Organaustausch), Medikamententest und Personalisierte Medizin (bessere Voraussage zur Wirkung des Medikaments und der Therapie), Toxizitätstests (Giftigkeit von Stoffen für den Körper kann getestet werden), Studien zum Mikrobiom (Testung der Wirkung von Bakterien in Darm-Organoiden), Modellbildung von Infektionen (Infektion von Organoiden mit Viren/Bakterien und Studien über die Auswirkungen auf die Zellen), Krebsstudien (Organoide aus gesunden Zellen werden künstlich mutiert und bezüglich Krebsentstehung untersucht). Es gibt auch den anderen Trend, den Menschen im Internetzeitalter als «Natural Born Cyborg»30 anzusehen. Schon durch elektronische Kommunikation (z.B. Telefonieren, Whatsapp, Skype) und Interaktion (z.B. Suchen im Internet, soziale Medien) inkorporieren wir Cyborg-Technologien in unser Mindset. Wir sind bereits heute Denk-Symbionten, die ihr Gedächtnis und ihre Denkwerkzeuge auf Smartphones, Tablets, Smartwatches, SmartTVs ausgeweitet haben. Genauer definiert sind wir Ektosymbionten, d.h. Cyborgs, die ihre Denkprothesen nach außen in den Cyberspace verlagert haben und mit ihnen in Symbiose leben. Eine endosymbiotische Variante der Cyborgisierung (Prothesen werden im Körper aufgenommen) hat Stanislaw Lem in seinem Hörspiel «Gibt es Sie, Mr. Johns?» 31 dargestellt: Bei einer Gerichtsverhandlung wird dem Rennfahrer Harry Johns, der nach Unfällen immer wieder mittels Prothesen der Firma Cybernetics Company zusammengeflickt wurde, die personale Identität abgesprochen, da mittlerweile ein Großteil seiner Körperteile künstlich sei und noch immer der Firma Cybernetics gehöre, da Harry Johns die Prothesen aus Geldmangel nicht bezahlen konnte. Einen Schlüsselsatz aus diesem Hörspiel spricht der Anwalt der Firma Cybernetics Company: «Herr Richter, zu der Hauptsache möchte ich noch bemerken, dass der Beklagte im Grunde genommen gar kein Beklagter ist, sondern ein materieller Gegenstand, der behauptet, sich selbst zu gehören.»

[13]

Die Prothetik schreitet auch im Bereich der Molekularbiologie schnell voran. Auch das Gehirn ist Objekt für die Artifizialisierung. So ist es seit kurzem gelungen, zerebrale Organoide in Zellkulturen zu züchten32. Derzeit dienen diese Organoide als Forschungsmodell für die Krebsentwicklung und -behandlung. Aber in Zukunft ist vorstellbar, dass Teile von untergegangenem Zellgewebe durch nachgezüchtete Organoide ergänzt und ausgetauscht werden können. Der digitale Mensch wird damit zum Hybridmodell eines Cyborgs, bestehend aus Endo- und Exo-Prothesen, Endo- und Exo-Maschinen, Spender- und eigenen nachgezüchteten Organen. Wenn sich die Medizin so rasant weiterentwickelt, dann kommt eventuell ein neuer Trend, den wir aus der Schönheitschirurgie kennen. In der Schönheitsmedizin werden Organe nach ästhetischen Kriterien verändert, ohne dass ein funktionaler Defekt vorliegt. Wenn sich die Cyborg-Medizin so fortentwickelt, dass künstliche Organe eine höhere Zuverlässigkeit als natürliche Organe haben, dann werden wir prophylaktisch Organe austauschen, um die Lebensdauer zu verlängern. Denn künstliche Organe können aufgrund rasant zunehmender Digitalisierung (z.B. durch IoT) effizienter überwacht und gemanagt werden, als natürliche Innereien ohne elektronische Schnittstellen. In der Science Fiction Literatur und in Science Fiction Filmen findet man diese Thematik in extremen Auslegungen, die insbesondere moralische Fragen aufwerfen. Der Roman: «Geklont» von Michael Marshall Smith aus dem Jahre 1996 kam 2005 als «Die Insel» in die Kinos. Dabei geht es um den kommerziellen Betrieb der Zucht von menschlichen Klonen als Ersatzteil-Lager für Reiche, die ihre kranken Organe austauschen lassen wollen. Um den geklonten Menschen eine perfekte Welt vorzuspielen, werden sie in einer von der Umwelt isolierten Fabrik gehalten, aus der sie mittels Lotterie auf eine wunderschöne Insel übersiedeln können. Der Umzug auf die Insel ist aber ein Trick des Konzerns, da die vermeintlichen Gewinner genau zum Zeitpunkt des Lotterie-Gewinns von ihren reichen Sponsoren als Organspender gebraucht werden. Die Illusion des Gewinns und Umzugs auf die Insel führt in Wirklichkeit zu Mord und Organentnahme.

[14]

Eine ähnliche Geschichte ist das sehenswerte Science Fiction Drama «Moon» aus dem Jahr 2009 des Philosophen und Regisseurs Duncan Jones, dem Sohn des Popstars David Bowie (1947-2016). Der Astronaut Sam Bell arbeitet am Mond, hat vierzehn Tage vor seinem Rückflug zur Erde einen Arbeitsunfall und wird von seinem drei Jahre jüngeren Klon gerettet. Es beginnt eine kommunikative Interaktion zwischen Original und Klon, welche die philosophische Frage der personalen Identität thematisiert. Letztlich wird evident, dass Sam Bell selbst ein Klon ist, eine begrenzte Lebensdauer hat, seine Familie auf der Erde ein psychologischer Fake zur Stabilisierung seiner Emotionen ist und er ad infinitum durch identische Klone nach Ablauf der dreijährigen Klon-Lebenszeit ersetzt wird.

[15]

Der amerikanische Science Fiction Schriftsteller Philip K. Dick, der dem Genre der philosophischen Science Fiction zuzurechnen ist, hat eine besonders bizarre Art der Lebensverlängerung in seinem 1969 veröffentlichten Roman «Ubik» beschrieben. Philip K. Dick, der bereits 1956 die gleichnamige Kurzgeschichte veröffentlicht hatte, wurde dem Massenpublikum durch den Film «Minority Report» (2002) mit Tom Cruise bekannt. In «Ubik» beschreibt Dick einen Schlafzustand, aus dem man gekühlte Personen im «Halbleben» immer wieder zurückrufen und dann Fragen stellen kann: «Der Kunde nahm dem Sarg gegenüber Platz, dessen Kaltpackungshülle dampfte. Er steckte sich eine Hörkapsel ins Ohr und sprach mit fester Stimme in das Mikrophon. ‹Flora, Liebling, kannst du mich hören? Ich kann dich, glaube ich, bereits hören. Flora?› Wenn ich einmal sterbe, dachte Herbert Schönheit von Vogelsang, werde ich meine Erben testamentarisch bitten, mich jedes Jahr einmal wieder ins Leben zurückzurufen. Auf diese Weise kann ich das Schicksal der Menschheit mitverfolgen. Allerdings würde das für die Erben ziemlich hohe Unterhaltskosten bedeuten – er wusste, wovon er sprach. Früher oder später würden sie dagegen rebellieren, seinen Körper aus der Kaltpackung nehmen und – Gott behüte – begraben. ‹Begräbnisse sind etwas Barbarisches›, murmelte Herbert, ‹Überreste der primitiven Anfänge unserer Kultur›»33

2.6.

Ich-Lebensverlängerung durch Transhumanismus ^

[16]

In der Philosophie34, aber auch in der Science Fiction Literatur und später im Film oder im Computerspiel, gibt es zahlreiche Ideen für eine Lebensverlängerung. Eine der interessantesten philosophischen Visionen ist die Separation von Körper und Geist (Seele, Ich-Bewusstsein, personale Identität). Die augenscheinlich holistische Einheit des Menschen von Körper und Geist wird zunehmend als wechselseitiger Interaktionismus angesehen: Ohne Körper kein Geist und ohne Körper und Geist kein Mensch. Der materielle Körper ist eine notwendige Voraussetzung für den menschlichen Geist. Der Geist (als Wille) wiederum steuert den Körper. Eine Trennung von Körper und Geist im Sinne einer Lebensverlängerung der Ich-Identität ohne das religiöse Konzept eines Totenreichs, Himmelreichs, Fegefeuers oder einer Hölle war vor dem Computerzeitalter schwer vorstellbar.

[17]

Die neuere philosophische Strömung des Transhumanismus beziehungsweise des Singularitarianismus35 postuliert eine prinzipielle Möglichkeit dieser Separation. Unter «Technologischer Singularität» versteht man den Zeitpunkt, ab dem Maschinen mittels Künstlicher Intelligenz eine übermenschliche Intelligenz schaffen, die sich fortwährend beschleunigt, den Menschen weit überragt und letztendlich das Zeitalter der Menschheit beendet. Vertreter des Transhumanismus sind u.a.: Vernor Vinge36, Marvin Minsky37, Damien Broderick38, Hans Moravec, Raymond Kurzweil39, Nick Bostrom40, Michio Kaku41 und Yuval Noah Harari. Eine theoretische Lösung für eine technische Aufspaltung von Körper und Geist wird von Hans Moravec (geb. 1948) in seinem Buch: «Mind Children. The Future of Robot and Human Intelligence» (1988) im Kapitel «Transmigration» beschrieben42: Der Schädel wird geöffnet und ein Scanner tastet die oberste Schicht der Hemisphären ab und speichert diese Information. Anschließend wird eine hauchdünne Schicht abgetragen und auf der Schnittoberfläche werden die vorhin aufgezeichneten Signale simuliert, so dass der Patient nichts merkt. Die neuen Signale werden wieder gescannt und gespeichert. Der nächste Layer wird abgetragen und das Procedere so lange wiederholt, bis die gesamte Gehirn-Geist-Migration in die Maschine abgeschlossen ist. Der geistlose Körper kann anschließend entsorgt werden.

[18]

In der dystopischen Science Fiction Netflix Serie «Black Mirror», Episode «White Christmas» aus dem Jahr 2014 wird der Geist / das Ich-Bewusstsein mit einem Chip ausgelesen. Diese Kopie wird dann benutzt, um ein Smart Home zu steuern. Es stellt sich die Frage, ob es tatsächlich möglich ist, das Bewusstsein oder zumindest Gedanken aus dem Gehirn auszulesen? Die Antwort lautet teilweise ja – mit einem Brain Computer Interface (BCI). Bereits in den 1990er Jahren hat sich Gert Pfurtscheller von der TU-Graz mit dem BCI beschäftigt. Dabei werden mittels Elektroden an der Kopfoberfläche elektrische Aktivitäten aufgezeichnet. Dieses Verfahren nennt man Elektroenzephalographie (EEG), die Anzahl der Elektroden bilden die Anzahl der Kanäle, üblich sind 7–24 Kanäle43. Die Idee hinter dem BCI ist, mit einem nichtinvasiven Verfahren Denkakte aus dem geschlossenen Gehirn auslesen zu können. BCI-Anwendungen sind beispielsweise Maussteuerung bzw. VR-Interaktivität bei Computerspielen, Steuern von Prothesen, Steuern des Rollstuhls oder Autos, Monitoring und Biofeedback-Anwendungen für mentale Entspannung (Meditation) zur Behandlung von Kopfschmerzen, Depression und pathogenem Verhalten. Steve S. Hoffman, Gründer von Founder Space, einem der größten Inkubatoren und Acceleratoren für Start-Ups, hat auf der Video-Plattform TEDxCEIBS auf Youtube am 29.August 2017 die Zukunftstechnologien von neuen Brain-Computer-Schnittstellen44 dargestellt. Hoffman geht wie die Transhumanisten davon aus, dass Gedanken und das Gedächtnis beispielsweise durch EEG und auch Brain Chips, die in das Gehirn eingebaut werden, ausgelesen werden können. Er berichtet von einem Tierversuch, bei dem Brain Chips in zwei Rattengehirnen eingebaut wurden. Die eine Ratte am Ort A hat gelernt, wo das Futter in einem Labyrinth versteckt war. Da die beiden Brain Chips in den Rattengehirnen per Internet miteinander verbunden waren, hat die Ratte am Ort B gewusst, wo das Futter im Labyrinth war. Beispielsweise beschäftigt sich der brasilianische Neurowissenschafter Miguel A.L. Nicolelis in seinem Laboratorium mit der Vernetzung von Gehirnen (Brainet)45. Hoffman prophezeit für die Zukunft eine «Mind-to-Mind-Communication», welche die Übertragung von Gedanken und Wissen zwischen zwei Personen möglich macht. Der nächste Schritt in der Entwicklung von Brain Chips ist die Verbindung von «Brain to Internet». Dies ermöglicht beispielsweise eine Google-Suche durch bloßes Denken, da das Gehirn mit dem Internet verbunden ist. In einem weiteren Schritt wird es möglich sein, Erinnerungen, Erlebnisse und ganze Gedächtnisse von einem Gehirn zum anderen zu übertragen. Als Beispiel bringt Hoffman das Erlebnis des Fallschirmspringens, das einem Freund übertragen werden kann, wenn dieser das wünscht. Diese Erlebnisse können gespeichert werden, beispielsweise in Open Source Plattformen für Erlebnisse. Dabei kann man dann nicht mehr unterscheiden, ob es die eigenen oder fremden Erlebnisse sind. Akademische Grade und Universitäten werden sinnlos, denn man kann sich jederzeit das Wissen z.B. eines Doktors der Medizin herunterladen. Diese Brain Chips ermöglichen auch «VR In Your Head», da man eine komplette 3D-Umgebung und Erlebnisse in den Kopf downloaden kann, so wie das derzeit beim Träumen geschieht. Durch diese neuen Brain-Chips-Technologien wird es auch möglich sein, die Körper zu verlassen, «Live Outside Your Body» wird sogar zeitlich überwiegen. Dies ermöglicht, als Roboter am Mars zu sein oder das Leben von anderen Menschen, Idolen und Vorbildern zu leben, falls diese das zulassen. Mit dieser Technologie ist es möglich, die Gefühle (z.B. Schmerz) anderer Menschen tatsächlich zu spüren. In dieser neuen Welt werden die Menschen selbst zum Netzwerk. Security spielt eine besondere Rolle, denn es geht hier nicht mehr um Datendiebstahl, sondern um «Brain Hackers» und «Mind Control». Brain Hackers können das Ich-Bewusstsein stehlen, fremde Erinnerungen aktivieren, die niemals real erlebt wurden und dennoch als eigenes Bewusstsein angesehen werden. Selbstverständlich kann auch das Ich-Bewusstsein upgeloaded, downgeloaded, kopiert und verändert werden. Laut Hoffman wird sich das Menschenbild grundlegend verändern. Diese Darstellung ist eine gekonnte Marketingpräsentation eines utopischen bzw. dystopischen Transhumanismus. Der Prozess des Uploads eines Ich-Bewusstseins in den Computer wurde eindrucksvoll im Science Fiction Film «Transcendence» (2014) mit Johnny Depp als Hauptdarsteller «Dr. Will Caster» dargestellt, der es als sterbenskranker AI-Forscher gerade noch schafft, sich auf ein Computersystem hochzuladen. Mittels Nanotechnologie gelingt es ihm, aus dem Cyberspace als Nanopartikel-Verbund in seiner ursprünglichen Gestalt wieder zurückzukommen. Noch extremere Transhumanismus-Fantasien zeigt die Netflix Serie «Altered Carbon» (2018) basierend auf dem Science Fiction Roman «Das Unsterblichkeitsprogramm» von Richard Morgan aus dem Jahr 2002. Dort werden völlig neue Begriffe für eine transhumanistische Welt eingeführt46.

[19]

Doch was von den Science Fiction Technologien ist in der Nähe einer realen Umsetzung. Ein Beispiel sind die Brain-Computer-Interfaces, z.B. EEG-Headbands, die in der Forschung, Spieleindustrie und Wellness-Szene verwendet werden. Als Beispiel gilt das EEG Headband Muse47, welches bequem auf der Stirn sitzt und wie eine Brille aufzusetzten ist. Es nutzt fünf EEG-Hautsensoren an der Stirnvorderseite und erzeugt damit fünf EEG Kanäle. Muse wird über USB aufgeladen und besitzt eine Bluetooth-Schnittstelle zum Smartphone oder PC. Zahlreiche Apps ermöglichen, die EEG-Muster auszuwerten, insbesondere dafür, um einen Entspannungszustand zu erreichen. Ein Forschungszugang zur Auswertung der EEG-Wellen ist vergleichbar mit einer Audiospektrumanalyse einer Stereo-Musikaufnahme. Es ist nicht notwendig, jede OrchestermusikerIn mit einem Mikrofon aufzunehmen, es reicht ein Stereomikrofon. Aus dem Stereo-Signal der Orchesteraufnahme kann man neuerdings mit Audiospektrumanalyseprogrammen wie «Steinberg Wavelab Pro 9.5» oder «Magix Sprectralayers Pro 5» oder  «Celemony Melodyne 4 Studio» ein bestimmtes Instrument herausfiltern. Die gleiche Logik wird nun für die EEG-Frequenzbänder zur Neurofeedbackanalyse angewendet. Mit geeigneten Algorithmen werden die EEG-Kanäle48 analysiert und Alpha- (8–13 Hz leichte Entspannung, Superlearning), Beta- (13–38 Hz von Aufmerksamkeit bis Angst), Gamma- (38–70 Hz Hoher Informationsfluss), Delta- (0,5–4 Hz Tiefschlaf, Trance) und Theta-Wellen (4–8 Hz Tiefenentspannung, Meditation, Wachträumen), Sharp Waves, Slow Waves, Spike Waves, Schlafspindeln, K-Komplexe, Vertex-Wellen, etc. identifiziert, die eine bestimmte Form des Gehirnzustandes repräsentieren. Die häufigsten Anwendungen beim Headband Muse ist die Selbstoptimierung durch Neurofeedback in Richtung Entspannung, erhöhte Aufmerksamkeit, verbesserte Intelligenzleistung und Meditation. Diese Meditationszustände49 sollen in Zukunft auch helfen, Kopfschmerzen, Depression, Epilepsie, Ich-Störungen, verminderte Aufnahmefähigkeit etc. zu therapieren. Durch Verbesserung der Sensorik und Algorithmik erwartet man sich, aus dem EEG-Muster einen Gedanken herauszulesen – analog zur Extraktion eines Instruments beim komplexen Audiosummensignal durch digital-algorithmische Audiospektrumanalyse. Sollte das funktionieren, könnten Locked-In Patienten mit der Umwelt kommunizieren, Querschnittgelähmte Exoprothesen und sogar ein Auto steuern, etc. Schlüsseltechnologie für all diese Anwendungen ist IoT (Internet of Things).

3.

Fazit ^

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Nichtinvasive Schnittstellen in Wearables (Smartwatches, Activity Trackers, Head Mounted Displays, EEG Headbands, etc.) werden bereits seit einigen Jahren von der «Quantified-Self-Bewegung»50 (z.B. Spitzensportler, chronisch Erkrankte, Hobbyisten, etc.) für die Selbstoptimierung verwendet. Dabei werden personenbezogene Daten in Clouds im Sinne einer «Massive Data Analysis» ausgewertet und diese Erkenntnisse vorwiegend für eine individuelle Verhaltensänderung verwendet. In Zukunft werden diese Daten durch weitere Datenquellen ergänzt: Medizinisch-technische IoT-Artefakte im Inneren des Körpers werden mit IoT-Geräten im Umfeld des Menschen vernetzt und geben dem digitalen Menschen neue Handlungsspielräume – im Sinne einer Überwindung seiner Defizite.

  1. 1 Schinagl, Next Generation Wireless Technology 5G und Artificial Intelligence als Innovationstreiber für eine digitale Wirtschaft, in: Wirtschaftspolitische Blätter. Globale Megatrends und regionale Auswirkungen. Sonderausgabe, Manz Verlag, Wien, September 2018, S.121–156.
  2. 2 Koestler, Der Mensch Irrläufer der Evolution. Die Kluft zwischen unserem Denken und Handeln – eine Anatomie menschlicher Vernunft und Unvernunft. Scherz-Verlag, 1976.
  3. 3 Ebenda, S. 14.
  4. 4 Julian Huxley (1887–1975) war der ältere Bruder des Autors Aldous Huxley (1894–1963), der insbesondere durch sein Werk «Brave New World» berühmt geworden ist. Julian Huxley war Biologe, Verhaltensforscher, Oscar-Preisträger, Philosoph und Evolutionstheoretiker.
  5. 5 Lödl, Fraktales Design. Verlag Merzinger-Pleban, Pressbaum, 2009, S. 159ff.
  6. 6 Vgl. Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. C.H. Beck Verlag, 2017.
  7. 7 Vgl. 1. Johannes 5,11-13, Lutherbibel, 2017.
  8. 8 Vgl. Tötungsrate nach Ländern, Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%B6tungsrate_nach_L%C3%A4ndern, (alle Links wurden am 23. November 2018 zuletzt aufgerufen).
  9. 9 Vgl. Weltbevölkerung, https://countrymeters.info/de/World..
  10. 10 Keyfitz, Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Nathan_Keyfitz.
  11. 11 Vgl. How many people have ever lived? Keyfitz´s calculation updated (done June 18, 1999), http://www.math.hawaii.edu/~ramsey/People.html.
  12. 12 Kaneda/Haub, How Many People Have Ever Lived On Earth, https://www.prb.org/howmanypeoplehaveeverlivedonearth.
  13. 13 Wörtlich heißt es in Juvenal, Satire 10, 356: […] orandum est ut sit mens sana in corpore sano. «Beten sollte man darum, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sei.»
  14. 14 Die älteste Frau Jeanne Calment aus Frankreich wurde 122 Jahre und 164 Tage alt. Der älteste Mann Jiroemon Kumura, ein Japaner, erreichte ein Lebensalter von 116 Jahren und 54 Tagen. Wikipedia. Liste der ältesten Menschen, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_%C3%A4ltesten_Menschen.
  15. 15 Vgl. Laser-Spektrometer. Haut-Scanner erkennt mit Hilfe einer KI Hautkrebs ohne Gewebeprobe. 17.6.2018. https://www.forschung-und-wissen.de/nachrichten/medizin/haut-scanner-erkennt-mit-hilfe-einer-ki-hautkrebs-ohne-gewebeprobe-13372562.
  16. 16 Vgl. Digitalisierung in der Medizin. Wie Wearables helfen können, länger zu leben. https://www.7jahrelaenger.de/wie-wearables-helfen-koennen-laenger-zu-leben/.
  17. 17 Vgl. Kardiamobile. https://www.alivecor.com.
  18. 18 Vgl. Muse. https://choosemuse.com.
  19. 19 Filella/et al., Emerging biomarkers in the diagnosis of prostate cancer, Pharmacogenomics and Personalized Medicine, 2018; 11: 83-94. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5961643/
  20. 20 Topol, The Wireless Future of Medicine. Oktober 2009, TED. Youtube. https://www.ted.com/talks/eric_topol_the_wireless_future_of_medicine#t-72900.
  21. 21 Vgl. Web Site: www.23andme.com.
  22. 22 Vgl. Schulz: Zukunftsmedizin. Wie das Silicon Valley Krankheiten besiegen und unser Leben verlängern will. Deutsche Verlags-Anstalt, 2. Auflage, 2018.
  23. 23 Vgl. Österreich: Bionisches Auge erstmals implantiert. Der Standard, 1.7.2015, https://derstandard.at/2000018380815/Oesterreich-Bionisches-Auge-erstmals-implantiert, 1.7.2015.
  24. 24 Vgl. Medtronic. Herzschrittmacher. https://www.medtronic.com/de-de/patienten/produkte-therapien/pacemaker/micra-kleiner-herzschrittmacher-elektroden.html.
  25. 25 Vgl. 30 Jahre Kunstherz: Patient bewahrt Kunstherz im Schrank auf. 9.3.2016. Zeitung: Augsburger Allgemeine, Internet: https://www.augsburger-allgemeine.de/wissenschaft/30-Jahre-Kunstherz-Patient-bewahrt-Herz-im-Schrank-auf-id37163622.html.
  26. 26 Vgl. Living A More Active Life with the Heartmate 3 LVAD for the treatment of advanced heart failure. PDF- Werbebroschüre der Fa. Abbott, vormals Thoratec für das Produkt HeartMate 3, https://www.heartmate.com/SJH/media/Emerge_SJH/PDF/HM3_Patient-Education-Brochure_Zinc-Final.pdf.
  27. 27 Vgl. Deutsches Herzzentrum Berlin. Mechanische Kreislaufunterstützung. https://www.dhzb.de/de/abteilungen/herz_thorax_und_gefaesschirurgie/unsere_leistungen/mechanische_kreislaufunterstuetzung/.
  28. 28 Vgl. Auf dem Weg zu Organen aus dem Labor. 25.8.2017 9:00 Uhr. Zeitung: Der Standard, Wien, https://derstandard.at/2000062993420/Auf-dem-Weg-zu-Organen-aus-dem-Labor.
  29. 29 Vgl. Sinha, The Organoid Architect. In: Science Magazine. 25.8.2017, Vol. 357, Issue 6353, pp. 746-749. http://science.sciencemag.org/content/357/6353/746.
  30. 30 Vgl. Clark, Natural Born Cyborgs. https://www.edge.org/conversation/natural-born-cyborgs.
  31. 31 Vgl. Lem, Gibt es Sie, Mr. Johns? In: Lem, Stanislaw: Nacht und Schimmel, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1957, 1976, S. 283-291. Das Hörspiel wurde am 1.3.1996 auch in der Zeitschrift Der Spiegel abgedruckt und ist im Internet verfügbar. http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-8889577.html. Ähnlich auch sein Hörspiel: «Schichttorte». In: Lem, Stansilaw: Mehr phantastische Erzählungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1989, S. 39-57.
  32. 32 Vgl. Neural Organoids. Homepage, www.stemcell.com /organoid-research/neural-organoids/overview.html https://www.stemcell.com/technical-resources/area-of-interest/organoid-research/neural-organoids/overview.html.
  33. 33 Dick, Ubik. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1977, S. 9f.
  34. 34 Leib-Seele-Problem, geht auf die Antike zurück, Platon beschreibt einen Dualismus, siehe auch den Dialog Philebos (ungefähr 360 v. Chr.); René Descartes postuliert einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele in «Médidations sur la philosophie première» (1647)
  35. 35 Vgl. Singularitarianism. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/wiki/Singularitarianism.
  36. 36 Vgl. Vinge, The Technological Singularity. Essay, 1993. Deutsch in: Das Science Fiction Jahr 2004.
  37. 37 Vgl. Minsky, Marvin: The Society of Mind. Touchstone Book, Simon and Schuster, New York, 1988.
  38. 38 Vgl. Broderick, The Spike: How Our Lives are being Transformed by Rapidly Advancing Technology. Tor Books, 2002.
  39. 39 Vgl. Kurzweil, Raymond: The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology. Viking Penguin Group, New York, 2005.
  40. 40 Vgl. Bostrom, Superintelligenz: Szenarien einer kommenden Revolution. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2014.
  41. 41 Vgl. Kaku, The Future of the Mind: The Scientific Quest to Understand, Enhance and Empower the Mind. Doubleday Books, New York, 2014.
  42. 42 Moravec, Mind Children. The Future of Robot and Human Intelligence, Harvard University Press, Cambridge, 1988, 108ff.
  43. 43 Yang/et. al., Selection of Effective EEG Channels in Brain Computer Interfaces based onInconsistencies of Classifiers. Conf Proc IEEE Eng Med Biol Soc. doi:10.1109/EMBC.2014.6943680. 2014;2014:672-5
  44. 44 Vgl. Hoffman, New Brain Computer Interface Technology, 29.8.2017, https://youtu.be/CgFzmE2fGXA.
  45. 45 Vgl. Laboratory of Miguel Nicolelis, http://www.nicolelislab.net/.
  46. 46 Sleeve ist ein Körper oder Klon, den man beinahe wie Kleidung wechseln kann, in den das Ich-Bewusstsein geladen wird; Stacks oder auch Cortical Stacks sind Chips, die in den Kopf nach dem ersten Lebensjahr eingebaut werden, auf denen das Ich-Bewusstsein gespeichert wird, DHF (Digital Human Freight) ist das Ich-Bewusstsein, welches auf einen Stack hinaufgeladen werden kann; Dipper sind Neurohacker und verkaufen oft auch DHF Codes; Meths sind sehr alte DHFs (Methusalems), die sehr oft auf Sleeves upgeloaded wurden; Multi-Sleeving bedeutet, wenn das Ich-Bewusstsein auf mehrere Körper hinaufgeladen wird; Reaper ist eine Droge, um Emotionen zu unterdrücken, wird als Überdosis benutzt, um den realen Tod zu erleben; Satelliten-Cloud ist Speicher für die Backups der DHFs; ein Spin-up ist das kurzfristige Einsetzen eines Stacks in einen Sleeve, beispielsweise für eine Befragung; Synth oder synthetische Sleeves sind Roboterandroiden aus Silikon.
  47. 47 Vgl. Beuth, Muse schaut ins Gehirn. Zeit Online. 13.10.2014, https://www.zeit.de/digital/mobil/2014-10/muse-headband-eeg-hirnstrommessung-meditation-test.
  48. 48 Vgl. Elektroenzephalografie EEG. Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Elektroenzephalografie.
  49. 49 Vgl. Intrator, Natan: Tune Your Brain With Wearables, Not Drugs. TEDxWhiteCity, 18.11.2015, Youtube, https://www.youtube.com/watch?v=m8pMbiyWPxc.
  50. 50 Vgl. Quantified Self. Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Quantified_Self.