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Online-Monitoring der Transformation von Gemeinschaftsrecht

  • Author: Alexander Konzelmann
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Rechtsinformation & Juristische Suchtechnologien
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2019
  • Citation: Alexander Konzelmann, Online-Monitoring der Transformation von Gemeinschaftsrecht, in: Jusletter IT 21. February 2019
Während ein Mitgliedstaat die EU verlassen will, wird die Vertragstreue der anderen nicht nur an (netto-)Beitragszahlungen gemessen, sondern auch an der effektiven Umsetzung von EU-Recht. Formalisierte Anpassungspflichten beruhen auf EU-Richtlinien. Aber auch das Primärrecht, unmittelbar geltende Verordnungen und EuGH-Entscheidungen mit Fanalwirkung erzeugen Anpassungsdruck. Der Beitrag fragt nach objektiven Methoden, den Umsetzungswillen vergleichbar zu machen. Dazu weist er anhand konkreter Beispiele auf online-Dokumentationen von öffentlichen Stellen zur Umsetzung von EU-Recht in nationale Vorschriften hin. Untersucht wird zum einen die Auffindbarkeit und Transparenz dieser Monitoring-Seiten. Ein weiterer Aspekt ist die wachsende Bedeutung der Präsentation transformationsbedürftiger EU-Rechtsakte als «Gegenstände» im Internet.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Rechercheansätze und amtliche Beobachtungsangebote
  • 1.1. N-Lex
  • 1.2. Register der Beschlüsse über Vertragsverletzungsverfahren
  • 1.3. Binnenmarktanzeiger der Europäischen Kommission
  • 1.4. Jahresberichte über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts
  • 1.5. Eur-Lex: Amtliches Monitoring durch das Amt für amtliche Veröffentlichungen
  • 1.6. Monitoring des deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft
  • 2. Formen des Wirksamwerdens von EU-Vorschriften
  • 2.1. Formell zu dokumentierende Transformation von Richtlinien (und Rahmenbeschlüssen)
  • 2.2. Transformationen im Zuge der Überlagerung nationaler Vorschriften durch Verordnungsrecht
  • 2.3. Stufenweise Durchsetzung mit Instrumenten im Vertragsverletzungsverfahren
  • 2.4. Publikation von Umsetzungsmängeln als politisches Druckmittel
  • 3. Unterschiedliche Transparenzgrade und deren vermutliche Motive
  • 4. Reziproke Beziehung zwischen Transparenz (3) und Durchsetzungskraft (2)
  • 5. Relevanz der Untersuchung für das «Internet of Things»
  • 6. Ausblick auf ein «Internet of Legal Things»
  • 6.1. Sachgebietszuordnung im amtlichen Fundstellennachweis?
  • 6.2. ELI?
  • 6.3. Dokument-ID des Amtes für amtliche Veröffentlichungen

1.

Rechercheansätze und amtliche Beobachtungsangebote ^

[1]

Nicht nur auf Unionsebene, auch in Nachbarstaaten und bei Unternehmen und Bürgern besteht ein Informationsinteresse hinsichtlich der Transformation von EU-Recht in die nationalen Rechtsordnungen sowie an Umsetzungsdefiziten. Dafür gibt es verschiedene durch die EU zentralisierte Angebote. In diesen wurde – zu Vergleichszwecken – gezielt nach jüngeren Beispielen gesucht für Richtlinien mit und ohne Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Für ersteres dient die Rüge unvollständiger Umsetzung der Berufsqualifikationsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EG in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2013/55/EU und der Verpackungsrichtlinie für Gemische 2014/27/EU, für letzteres die Transformation der Waffenbesitzrichtlinie 91/477/EWG in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2017/853/EU.

[2]

Außerdem wurde die amtliche Dokumentation des Vertragsverletzungsverfahrens wegen Ausländerdiskriminierung durch die geplante Autobahnmaut für Personenkraftwagen nachvollzogen und ermittelt, ob die Nacharbeiten am nationalen Rechtssystem aufgrund der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) sowie aufgrund der Anpassung des Schengener Grenzkodex’ an das geplante Einreise-/Ausreisesystem gemäß den Verordnungen 2016/399, 2017/2225 und 2017/2226 Niederschlag auf Monitoring-Seiten gefunden haben.

1.1.

N-Lex ^

[3]

Das Informationsangebot «N-Lex» (nicht zu verwechseln mit NATLEX der International Labour Organization ILO) kann als amtliches Monitoring mit nationaler redaktioneller Verantwortung bezeichnet werden. Wenn man beispielsweise auf der Seite http://eur-lex.europa.eu/n-lex/index_de die deutsche Flagge anklickt und in der Suchmaske im Feld «Text enthält:» «Altgeräte» sowie im Feld «in Verbindung mit:» «Richtlinie» eingibt, erhält man Treffer aus dem deutschen Elektro- und Elektronikgerätegesetz vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1739, geändert BGBl. I 2017 S. 1966), welches z.B. in § 8 ausdrücklich Transformationspflichten nach der Richtlinie 2012/19/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über Elektro- und Elektronik-Altgeräte (ABl. L 197 vom 24. Juli 2012, S. 38) anspricht. Dieses Angebot ermöglicht also eine Recherche via Volltextsuche, wenn man bereits weiß, wonach man ungefähr sucht. Für eine eher journalistische Recherche fehlt es hingegen an Transparenz. Das Angebot ist für das deutsche Recht inhaltlich lediglich eine Weiterleitung auf die Seite «gesetze-im-internet.de» von der Juris AG, der eine allgemeine Suchseite vorgeschaltet wurde. Auch für andere nationale Rechtsordnungen geht es bei N-Lex hinter dem ersten Suchformular auf Internetangeboten weiter, die nicht von der EU selbst betrieben werden. Zum Beispiel ergibt eine Suche nach «Drohnen» für Österreich RIS-Treffer in der Außenhandelsverordnung und für Deutschland Juris-Treffer in der Außenwirtschaftsverordnung. Für eine Nachprüfung, ob Deutschland die Berufsanerkennungsrichtlinie in der Fassung von 2013 vollständig umgesetzt hat, eignet sich dieses Suchformular nicht. Immerhin zeigt die Recherche aber, dass die Änderungsrichtlinie von 2013 in aktuellen Einzelvorschriften der Gewerbeordnung und in Regeln über Rechtsdienstleistungen gemeinsam mit der Basis-Richtlinie aus 2005 ausdrücklich zitiert wird. Zweifel an der Europarechtskonformität der Vorschriften über die Pkw-Autobahnmaut zeigen die aufrufbaren deutschen Vorschriften nur indirekt dadurch, dass der Beginn der Abgabenerhebung nach § 16 des Infrastrukturabgabengesetzes1 noch offen ist. Allerdings hat der wissenschaftliche Dienst des Bundestages 2017 ein Gutachten2 erstellt, welches entsprechende Vorbehalte deutlich äußert (Zusammenfassung auf S. 51 des Gutachtens). Zur Waffenbesitzrichtlinie 91/477/EWG in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2017/853/EU findet sich in N-Lex gar kein Anhaltspunkt.

[4]

Bei unmittelbar geltendem Europarecht erscheint es vordergründig unnötig, nationale Umsetzungsmaßnahmen zu beobachten. Der Schengener Grenzkodex beispielsweise3 wird im deutschen Recht vorausgesetzt, was z.B. durch § 15 des Aufenthaltsgesetzes illustriert wird, welcher unter anderem auf das Fehlen der Voraussetzungen für einen Grenzübertritt nach Artikel 5 Grenzkodex abstellt. Allerdings hat man am Beispiel der DSGVO gesehen, dass dies nicht selbstverständlich ist: Einem ersten Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/6794 wird Anfang 2019 ein zweites solches Anpassungsgesetz mit über 100 Seiten an Änderungen in der nationalen Rechtsordnung folgen.5 – Solche Umsetzungsgesetze erkennt man im Bereich N-Lex überhaupt nicht, denn sie werden «stillschweigend» in die Stammvorschriften eingearbeitet und das Änderungsgesetz selbst mit seiner BGBl.-Fundstelle taucht in der Datenbasis gar nicht auf, welche von der N-Lex-Recherche durchsucht wird. – Nachdem die Verhältnismäßigkeit der umfassenden Datenerfassung und des Datenabrufs nach dem Entry-Exit-System der VO (EU) 2017/2226 rechtspolitisch umstritten ist, könnte es durchaus auch von Interesse sein, die hierzu notwendigen Umsetzungsmaßnahmen in den nationalen Rechtsordnungen zu beobachten, allerdings erscheint die N-Lex-Recherche hierfür ebenfalls ungeeignet.

1.2.

Register der Beschlüsse über Vertragsverletzungsverfahren ^

[5]

Ein amtliches Monitoring der Europäischen Kommission kann man zum Beispiel auffinden, indem man eine Google-Suche nach «List of infringement proceedings» durchführt. Diese findet unter anderem den Treffer «http://ec.europa.eu/atwork/applying-eu-law/infringements-proceedings/infringement_decisions/?lang_code=de». In EU-Amtsdeutsch heißt diese online-Datenbasis «Register der Beschlüsse über Vertragsverletzungsverfahren». Auf der gefundenen Seite steht aber nicht diese Bezeichnung, sondern, im Sinne einer Pseudo-Breadcrumb-Navigation: «Die Europäische Kommission bei der Arbeit, Europäische Kommission > Anwendung des EU-Rechts > Vertragsverletzungen > Entscheidungen in Verletzungsverfahren». Diese Seite selbst ist eine übersichtliche Suchmaske. Mit einer Voreinstellung «Deutschland / 2016 bis 2018 / offene» erscheinen 46 Treffer, ohne Einschränkung auf offene ergeben sich im selben Zeitraum 125. Ein Download für Excel ist möglich. Die Tabelle ordnet den monierten Verstößen jeweils pro Verfahrensschritt eine Zeile zu, sodass sich inklusive der Verfahrenseinstellungen 284 Zeilen ansammeln.

[6]

Die bloße Nicht-Anpassung der nationalen Rechtsordnungen an unmittelbar geltendes Verordnungsrecht ist aufgrund des Anwendungsvorrangs des Europarechts nicht direkt relevant für diese Listen. Wenn aber Vertragsverletzungen auf einer Verletzung von EU-Verordnungsrecht beruhen, kommt es vor, dass auch Verordnungen Erwähnung finden, so z.B. in den Vertragsverletzungsverfahren Nr. 20152179 (Verordnung (EG) 765/2008) oder 20124071 (Verordnung (EG) 1907/2006). Ansonsten wird der Inhalt dieser Datenbank wesentlich von Rügen der Nicht-Umsetzung von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen bestimmt. Soweit deren Umsetzung stattfindet, solange die Umsetzungsfrist nicht abgelaufen ist und solange keine Rügen vorliegen, findet demnach kein Monitoring im positiven Sinne statt, es wird nur gelistet, wenn etwas nicht umgesetzt wird oder wenn ein anderer Mitgliedstaat oder die Kommission der Ansicht ist, dass eine Rüge erforderlich ist.

[7]

Infolgedessen finden sich auf dieser Seite Listeneinträge zu allen Verfahrensschritten gegen Deutschland hinsichtlich der erwähnten Umsetzungsdefizite bei der Verpackungsrichtlinie für Gemische (Nr. 20150267) und der Berufsqualifikationsanerkennungsrichtlinie (Nr. 20160176) sowie zu den Gleichheitsverstößen bei der Gesetzgebung zur Pkw-Autobahnmaut (Nr. 20152122). Die anderen angesprochenen Konstellationen werden (noch) nicht dokumentiert.

1.3.

Binnenmarktanzeiger der Europäischen Kommission ^

[8]

Eine aktuelle Pressemitteilung der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland6 verweist auf ihren «Binnenmarktanzeiger». Dieser heißt «Single Market Scoreboard» und ist derzeit nur in englischer Sprache zu finden unter der Adresse http://ec.europa.eu/internal_market/scoreboard/. Unter dem Gliederungspunkt «http://ec.europa.eu/internal_market/scoreboard/performance_by_member_state/germany/index_ en.htm#maincontentSec1» der Ausgabe 07/2018 findet sich als einer von vielen bewerteten Punkten die Umsetzung von Unionsrecht «Transposition of Law». Hier findet man lediglich statistische Angaben, beispielsweise zur Anzahl nichtumgesetzter Richtlinien, Dauer der Umsetzung von Gerichtsentscheidungen, Entwicklung von Vertragsverletzungsverfahren und die Abstände zum Durchschnitt aller EU-Staaten. Konkrete Links zu einzelnen nichtumgesetzten Rechtsakten enthält diese Seite aber nicht.

1.4.

Jahresberichte über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts ^

[9]

Auch bei diesen Jahresberichten handelt es sich um amtliches Monitoring der Europäischen Kommission. Eine deutsche Version des jüngsten Jahresberichts «COM(2018) 540» soll der Link https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/report-2017-annual-report-monitoring-application-eu-law_de.pdf enthalten, er enthält aber (Stand 31. Dezember 2018) nur ein Deckblatt. Die englische Version7 ist vollständig. Sie enthält allgemeine Erläuterungen der Politik der Kommission hinsichtlich der Umsetzung von EU-Recht. Dazwischen findet man Links zu Pressemitteilungen in den neuen Vertragsverletzungsverfahren, z.B. die Mitteilung, dass Deutschland wegen fixer Tarife für Architekten und Ingenieure wegen Verletzung der Dienstleistungsrichtlinie (2006/123/EG) verklagt worden sei.8

1.5.

Eur-Lex: Amtliches Monitoring durch das Amt für amtliche Veröffentlichungen ^

[10]

Am Beispiel der Richtlinie zur Anpassung von Richtlinien an die Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen lässt sich zeigen, dass bei der Eur-Lex-Seite durchaus von einer Art amtlichem Monitoring durch geschickte Verlinkungsmechanismen gesprochen werden kann. Als Muster erwähnt sei hier die URL https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/NIM/?uri=CELEX:32014L0027&qid=1543421190662.

[11]

Die Richtlinie 2014/27/EU wurde unter Verletzung der Umsetzungsfrist bis 1. Juni 2015 erst durch eine Verordnung vom 15. November 2016, publiziert am 18. November 20169, umgesetzt. Dies kann nachgelesen werden, wenn man zunächst auf den Link «Nationale Umsetzung» klickt und dann in der Liste «Nationale Umsetzungsmaßnahmen nach dem Mitgliedsstaat» das Pluszeichen bei «Deutschland» aufschlägt. Die dort verlinkte Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie 2014/27/EU und zur Änderung von Arbeitsschutzverordnungen enthält die entsprechende Umsetzungsfußnote und Änderungen der Gefahrstoffverordnung, der Betriebssicherheitsverordnung, der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge sowie der Baustellenverordnung. Sie macht auch deren Verspätung transparent.

1.6.

Monitoring des deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft ^

[12]

Die regelmäßige amtliche Information des deutschen Bundestages und der Europa-Staatssekretäre erfolgte gemäß einem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages10 aufgrund einer beim Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi) geführten Datenbank durch dieses Ministerium im Publikationsorgan «Schlaglichter der Wirtschaft». Bis 2015 verwies diese Publikation quartalsweise zuverlässig auf den oben genannten Binnenmarktanzeiger der Europäischen Kommission und übersetzte zusammenfassend die Deutschland betreffenden Abschnitte. Aktuell findet sich diese Art von transparenter Wiedergabe nicht mehr in den «Schlaglichtern der Wirtschaft». Die Homepage des BMWi verweist nur noch ganz allgemein gegen Ende eines langen Artikels über den EU-Binnenmarkt auf das Monitoring der EU unter «Single Market Scoreboard Online» und verlinkt die URL http://ec.europa.eu/internal_market/scoreboard/.11

2.

Formen des Wirksamwerdens von EU-Vorschriften ^

2.1.

Formell zu dokumentierende Transformation von Richtlinien (und Rahmenbeschlüssen) ^

[13]

Das innerstaatliche Wirksamwerden von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen hängt im Normalfall von formellen legislativen Umsetzungsakten ab.12 Beispiele seien die oben unter «1.» genannten Richtlinien 2005/36/EG, 2013/55/EU zur Anerkennung von Berufsqualifikationen, 2014/27/EU zur Verpackung von Gemischen und 91/477/EWG, 2017/853/EU zum Waffenbesitz. – Dass der Bundesregierung bewusst ist, dass Transformationsmaßnahmen aufgrund der letztgenannten Änderungsrichtlinie zur EU-Feuerwaffenrichtlinie erforderlich sind, zeigt ihre Stellungnahme auf Seite 15 der Bundestags-Drucksache 19/548.13

2.2.

Transformationen im Zuge der Überlagerung nationaler Vorschriften durch Verordnungsrecht ^

[14]

Als aktuelle Beispiele dienen die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und die eIDAS-Verordnung.

2.3.

Stufenweise Durchsetzung mit Instrumenten im Vertragsverletzungsverfahren ^

[15]

Beispiele für solche Verfahrensabläufe können in den – parallel zum Verletzungsverfahren laufenden – Verhandlungen Deutschlands mit der Kommission über die Pkw-Autobahnmaut14 sowie im laufenden Vertragsverletzungsverfahren zur Anerkennung von Berufsqualifikationen15 gefunden werden. Die Rechtswirklichkeit wird hier entsprechend den Verfahrensfortschritten den Vorgaben des EU-Rechts angepasst.

2.4.

Publikation von Umsetzungsmängeln als politisches Druckmittel ^

[16]

Wenn die Kommission der Ansicht ist, dass öffentliche Diskussionen der Verwirklichung des Binnenmarktes nützlich sein könnten, kann sie auch informell mit Pressemitteilungen arbeiten. Als Beispiel dient das Memo http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-16-3125_de.htm für eine noch relativ allgemeine Information und für eine dezidierte Stellungnahme in Sachen Fernstraßenmaut die Mitteilung unter http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-3130_de.htm.

3.

Unterschiedliche Transparenzgrade und deren vermutliche Motive ^

[17]

Es bietet sich an, Vermutungen und Beispiele zur Interessenlage unterschiedlicher Informationsurheber aufzustellen: Ein grundsätzlich überwiegendes Integrationsinteresse kann man Europapolitikern und Richtern am EuGH unterstellen, ein stärkeres Interesse des Schutzes nationaler Wirtschaftsinteressen den nationalen Politikern und Beamten. Es ist daher nicht auszuschließen, dass manche Politiker bei laufenden Vertragsverletzungsverfahren innenpolitisch entweder betont stumm bleiben oder umgekehrt plakativ zeigen wollen, dass sie auf europäischer Ebene die nationale Flagge hochhalten. Ebenfalls kann es vorkommen, dass die Kommission aufgrund angeblicher europäischer «Zwänge» nach ihrer Auffassung keine Alternativen zu einem bestimmten Umsetzungsakt sieht. Die jeweiligen Pressestellen unterscheiden zudem auch nach dem vermuteten professionellen Informationsbedarf ihrer Zielgruppen, je nachdem, ob sie Erklärungen für Wissenschaftler, für Politiker, für beratende Berufsträger oder für Journalisten abfassen. So könnten die unter «1.» festgestellten Lücken und Zusammenfassungen zustande kommen.

[18]

Jede der untersuchten Quellen ist vermutlich aus unterschiedlichen Interessenlagen heraus geschaffen worden und hat demnach aus Sicht eines mit wissenschaftlicher Recherche befassten Juristen ihre spezifischen Schwächen. Aber im Zusammenspiel ergibt sich mehr Transparenz, als den politischen Instanzen vielleicht lieb ist. Daher sind alle Quellen zu Umsetzungsmängeln von EU-Recht kombinatorisch auszuwerten und hermeneutisch zu interpretieren.

4.

Reziproke Beziehung zwischen Transparenz (3) und Durchsetzungskraft (2) ^

[19]

Da Verordnungsrecht unmittelbar wirkt, kann es anderslautendes innerstaatliches Recht überlagern; eine Anpassung des nationalen Rechts ist dann «nur» deklaratorisch. Dennoch bleibt die Rechtslage in der Zwischenphase für den Rechtsunterworfenen verwirrend. Bei Richtlinien sind mit der Umsetzungspflicht auch ein Zitiergebot und eine Meldepflicht für die Umsetzungsakte verknüpft. Die Anpassung der nationalen Rechtsordnungen ist im Fall der lediglich mittelbar wirkenden Richtlinien also leichter zu beobachten.

 

  Transparenz der Umsetzung Wirkung auf das nationale Recht
EU-Richtlinie ++ +
EU-Verordnung O ++

 

5.

Relevanz der Untersuchung für das «Internet of Things» ^

[20]

Die Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Legislativorgane können – und sollten – als eigenständige «Dinge» betrachtet werden, weil sie nämlich als wahrnehmbare «Rechtsobjekte» Raum fordern, und zwar nicht nur in der EU-Rechtsordnung, sondern auch in den nationalen Rechtsordnungen. Und sie sind auch «Dinge im Internet», weil sie sich online zuerst und am deutlichsten manifestieren. Ein markantes Beispiel aus jüngerer Zeit ist die DSGVO, die sich bis in private Lebensbereiche hinein wahrnehmbar gemacht hat, aufgrund ihrer puren Existenz als Rechtsvorschrift und insbesondere aufgrund ihrer ständigen Präsenz im Internet. Online-Nachrichten, -Beratungsangebote, -Diskussionsforen etc. haben der DSGVO zu einer Ubiquität verholfen, die ihrer Durchsetzung sicher förderlicher ist als jedes abstrakte Vertragsverletzungsverfahren.

6.

Ausblick auf ein «Internet of Legal Things» ^

[21]

Aus diesem Blickwinkel heraus erscheint es wünschenswert, dass Vorschriften einen eigenen Stamm-ID (vergleichbar einer DOI-Kennung) erhalten, auf welchen sich dann die nationalen Umsetzungsvorschriften, abhängige Rechtsakte, Diskussionsforen und Beratungsangebote in einer eindeutigen Weise beziehen können, z.B. als ID-Ref-Metadatum. Solange sich sowohl die Vorschriften als auch die Zusatzangebote im Internet auffinden lassen, bietet sich die Möglichkeit, ein «Internet of Legal Things» zu weben, in dem die EU-Vorschriften als Kristallisationspunkte dienen und im Idealfall sogar einen Zuwachs an «effet utile» verzeichnen könnten. Untersuchungen zu Transformationsdefiziten können so erheblich vereinfacht und teilweise automatisiert werden.

6.1.

Sachgebietszuordnung im amtlichen Fundstellennachweis? ^

[22]

Einen Ansatz für einen persistenten und eindeutigen ID der EU-Vorschriften bietet die Sachgebietszuordnung im amtlichen Fundstellennachweis nach Gliederungsziffern. Allerdings mangelt es hierbei noch an der Eindeutigkeit, weil z.B. die DSGVO zwei Sachgebieten zugeordnet ist: Der Code im Fundstellennachweis für die DSGVO lautet zum einen: 15.20.20.00 und beschreibt den Pfad «Umwelt, Verbraucher und Gesundheitsschutz / Verbraucher / Unterrichtung, Aufklärung und Vertretung der Verbraucher». Zum anderen lautet er aber auch 19.40.00.00 und zeigt auf die Stichwortfolge «Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts / Aktionsprogramme».

6.2.

ELI? ^

[23]

Einen weiteren Einstieg schlägt der European Legislation Identifier «ELI» vor. Zum Beispiel lautet der ELI für die DSGVO: http://data.europa.eu/eli/reg/2016/679/oj. Dieser knüpft allerdings an der ersten Fundstelle an und bietet somit keinen eindeutigen Ansatzpunkt, um künftige Konsolidierungen einer Stammvorschrift aufzufangen. Außerdem ist er freiwillig und nur eine Initiative einiger Staaten, nicht der EU als solcher.16

6.3.

Dokument-ID des Amtes für amtliche Veröffentlichungen ^

[24]

Als nützlichster Anknüpfungspunkt sollte daher derzeit der für jede Vorschrift systematisch vergebene Dokument-ID des Amtes für amtliche Veröffentlichungen herangezogen werden, der die Textart, das Jahr, die Normqualität und die aufsteigende Nummer enthält und bei der DSGVO lautet: «32016R0679». Dieser ID ermöglicht insbesondere im online-Angebot von Eur-Lex das Auffinden vieler Suchtreffer und Links. Er sollte als Metadatum allen europäischen und nationalen davon abhängigen Vorschriften zugeschrieben werden und könnte mithilfe einer Art «ID-Ref» oder «rel»-Attribut dargestellt werden.

  1. 1 BGBl. I 2015 S. 904.
  2. 2 Vereinbarkeit des Infrastrukturabgabengesetzes und des Zweiten Verkehrssteueränderungsgesetzes in der Fassung der von der Bundesregierung beschlossenen Änderungsgesetze mit dem Unionsrecht (Aktenzeichen: PE 6 – 3000 – 5/17, Gutachten vom 6. Februar 2017, https://www.bundestag.de/blob/493516/ab77f6cf73cf5d38bc57a0193bf808c0/pe-6-005-17-pdf-data.pdf).
  3. 3 Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex).
  4. 4 BGBl. I 2017 S. 2097.
  5. 5 http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP19/2390/239070.html.
  6. 6 https://ec.europa.eu/germany/news/20180712-einhaltung-des-eu-rechts-2017_de.
  7. 7 https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/report-2017-annual-report-monitoring-application-eu-law.pdf.
  8. 8 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-3646_EN.htm.
  9. 9 BGBl. I S. 2549.
  10. 10 PE 6 – 3000 – 78/15 vom 1. Juli 2015, Download unter https://www.bundestag.de/blob/417390/8d9af26a272e817131151cbca8af055c/pe-6-078-15-pdf-data.pdf.
  11. 11 «EU-Binnenmarkt und wirtschaftspolitische Koordinierung», https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Europa/eu-binnenmarkt.html.
  12. 12 Ausnahmen stellen seltene, als «self-executing» ausformulierte Textabschnitte der Richtlinien nach Fristablauf dar (EuGH «Francovich»).
  13. 13 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/005/1900548.pdf.
  14. 14 Pressemitteilungen der Kommission http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-4221_en.htm und http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-3130_de.htm.
  15. 15 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-4773_de.htm.
  16. 16 https://eur-lex.europa.eu/eli-register/about.html.