1.
Einleitung ^
«Document automation already operates more reliably and efficiently than modestly experienced lawyers and administrators.»1
Robert Susskind, 2017
Heute dürften wohl vielerorts Microsoft Word, eine E-Mail- und Case-Management-Applikation sowie Onlinedatenbanken von Urteilen, Erlassen und Fachzeitschriften in der juristischen Arbeit primär Anwendung finden. Zudem verwenden viele Anwälte und Notare auch heute noch ihre eigenen «Vorlagen» für Dokumente, die mühselig von Hand mittels Copy-and-Paste in einem Textverarbeitungsprogramm ausgefüllt werden müssen.2
Entsprechend kommt das einleitende Zitat von Susskind schon fast wie eine Kampfansage daher. Eine Software-Anwendung soll also das Kernstück der anwaltlichen Tätigkeit – das Erstellen von Dokumenten – besser beherrschen als ein Jurist selber. Das weckt die Befürchtung, dass der Stand des Anwalts früher oder später zwangsläufig obsolet werden könnte. Schliesslich existiert die Technologie hinter der Dokumentenautomatisierung bereits seit den frühen 1980er Jahren.3
Vorliegende Arbeit widmet sich daher der Frage, ob diese Befürchtung gerechtfertigt ist und die Dokumentenautomatisierung eine Gefahr für den Stand des Anwalts darstellt, oder womöglich vielmehr eine Chance bietet.
Dazu wird zunächst die Funktionsweise von automatisierter Dokumentenerstellung in den Grundzügen dargestellt. Weiter wird ein Blick auf die Anbieter solcher Anwendungen im Schweizer Markt geworfen und die Eigenheiten von vier Anwendungen, welche in der Schweiz entwickelt wurden, näher aufgezeigt. In einem zweiten Schritt werden die Chancen und Vorteile sowie die Problemfelder dargelegt, welche sich durch die Dokumentenautomatisierung für den Stand des Anwalts ergeben. In einem dritten und damit letzten Schritt wird die Zukunftsträchtigkeit der Dokumentenautomatisierung dargelegt und somit die einleitende Frage beantwortet.
2.
Dokumentenautomatisierung in der Theorie ^
In diesem Kapitel soll der Begriff der Dokumentenautomatisierung kurz dargestellt, einen Einblick in die Funktionsweise von solchen Anwendungen gegeben und mögliche Unterscheidungskriterien der Applikationen aufgezeigt werden.
2.1.
Begriff und Funktionsweise ^
Der Name indiziert es schon: Bei der Dokumentenautomatisierung handelt es sich um die softwaregestützte Generierung individualisierter Dokumente auf der Grundlage dynamischer Dokumentenvorlagen. Verbreitet ist auch die Bezeichnung Document Assembly. Grundlegende Funktionsweise hinter solchen Anwendungen ist, dass zunächst für einen immer wieder auftretenden Grundsachverhalt eine dynamische Vorlage erstellt wird – etwa für eine AG-Gründung oder eine Geheimhaltungsvereinbarung. Diese ist mit einem am Grundsachverhalt orientierten Fragebogen verknüpft, welcher die für die Individualisierung des Dokuments erforderlichen Angaben, etwa Parteinamen oder Adressen, «erfragt» und die Wahl zwischen verschiedenen Text-Bausteinen bietet. Immer wieder verwendete Daten müssen dabei nur einmal eingegeben werden. In einem zweiten Schritt wird durch Ausfüllen des Fragebogens das individualisierte Dokument bzw. ein Set an Dokumenten (wie im Falle der AG-Gründung) für den Einzelfall automatisch generiert.4
Beim Erstellen einer solchen dynamischen Dokumentenvorlage muss diese in «Bausteine» zerlegt und für all diese Regelungsgegenstände ein Textfeld oder die möglichen Text- bzw. Klauselalternativen festgelegt werden. Je kleinteiliger die Zerlegung in einzelne Regelungsgegenstände, desto komplexere Dokumente können erstellt werden. Dabei kommt es bei der Ausgabe eines automatisierten Dokuments nie zu einer echten Subsumtion. Vielmehr muss sich der Programmierer des Sachverhalts genau bewusst sein und eine rechtliche Beurteilung im Vorhinein vornehmen, um festlegen zu können, wie das automatisierte Dokument aussehen muss.5 Dabei stehen demnach konsequent die einzelnen Dokumentbausteinen im Fokus.6 Eine solche Anwendung kann auch in der Form eines «Generators» für Konsumenten ausgestaltet werden, womit die Möglichkeit zur eigenhändigen Erstellung solcher Dokumentvorlagen entfällt.7 Gemäss der Kategorisierung nach Goodenough, welche sich am Verhältnis von LegalTech zum Juristen orientiert, befinden sich solche Anwendungen zur automatisierten Dokumentenerstellung im Bereich von Legal Tech 2.0, da sie den Juristen vereinzelt ersetzen und damit disruptiv wirken.8
2.2.
Kategorisierungskriterien der Angebote ^
Um im Kapitel 3 einzelne Anbieter im Schweizer Markt genauer analysieren zu können, wird in vorliegendem Kapitel auf mögliche Kategorisierungskriterien eingegangen.9
2.2.1.
Zielpublikum ^
Bereits aus den Schilderungen zur Funktionsweise in Kapitel 2.1 geht hervor, dass Dokumentenautomatisierung auf dem Markt in verschiedenen Angebotsformen vorkommt – etwa in Form eines «Dokumentengenerators» für Privatpersonen. Unternehmen bzw. deren Rechtsabteilungen, Kanzleien sowie die Justiz und die Verwaltung können ebenfalls von der Dokumentenautomatisierung profitieren.10
2.2.2.
Art des Anbieters ^
Die Kanzlei ist nicht nur Zielgruppe, sondern auch mögliche Anbieterin von Applikationen zur Dokumentenautomatisierung. Nebst (LegalTech-)Unternehmen, etwa in Form von Start-Ups oder bereits etablierten Organisationen, können auch juristische Verlage und Versicherer in diesem Markt tätig werden. Denkbar ist auch, dass die Verwaltung und die Gerichte von staatlicher Seite aus ein solches Angebot aufziehen. Gemäss Mickel lassen sich die Anbieter zudem in zwei Bewegungen bzw. Arten einteilen: Zum einen gibt es jene Anbieter, die mit ihrer Anwendung ein sehr kleines, vordefiniertes Anwendungs- bzw. Rechtsgebiet abdecken möchten und sich auf den «Service» der Dokumentenautomatisierung, also etwa einen Vertragsgenerator, fokussieren. Dies dient insbesondere der Demokratisierung und Vereinfachung von Rechtsdienstleistungen. Zum anderen gibt es laut Mickel eine zweite Gruppe von Anbietern, die sich mehr auf die Digitalisierung des ganzen Prozesses fokussieren. Zum Beispiel indem die eingegebenen Daten weiterverwendet werden und dem Nutzer die Möglichkeit gelassen wird, die Dokumentenautomatisierung von Grund auf nach den eigenen Bedürfnissen zu individualisieren.
2.2.3.
SaaS oder On Premises ^
Software-as-a-Service (SaaS) bezeichnet eine Technologie, in welcher der Kunde direkt vom Provider eine Software zur «Miete» bezieht, sodass keine Installation notwendig ist. Entsprechend greifen alle Kunden über das Web auf dieselbe SaaS-Applikation zu. Bei On-Premise-Betriebsarten betreibt der Nutzer eine eigene «Instanz» auf eigenen Servern und kauft sich typischerweise eine Softwarelizenz.11
2.2.4.
Preismodelle ^
Während bei On-Premise-Applikationen zumeist ein einmaliger Kaufpreis bezahlt wird, bieten sich bei SaaS-Modellen neue Preisgestaltungsmöglichkeiten. So kann bspw. ein monatlicher Fixpreis verlangt werden. Weiter können z.B. «Pakete» geschnürt werden, sodass der Nutzer nur bestimmte Dokumente oder Funktionen auswählt und schlussendlich auch nur für jene zahlt. Der Preis kann auch nutzenabhängig zu Stande kommen, indem pro erstelltes Dokument abgerechnet wird. Denkbar ist auch eine einmalige Lizenz- bzw. Einrichtungsgebühr, kombiniert mit einer Gebühr für die laufende Aktualisierung der Applikation, wenn sich rechtliche Änderungen ergeben. Marketingtechnisch scheint auch ein «Freemium»-Modell oder ein sog. Free-Trial-Modell denkbar.12
3.
Das Angebot auf dem Schweizer Markt ^
Ein Blick auf die Liste des Standford CodeX Techindex zeigt, dass Dokumentenautomatisierung, inbesondere in Amerika weitverbreitet ist.13 Das Mapping der Swiss Legal Tech Association umfasst indessen zehn Schweizer Anbieter.14 Da es häufig zu Fluktuationen kommt, ist diese Zahl wohl mit Vorsicht zu geniessen. Grund für die noch bescheidene Anzahl an Anbietern aus der Schweiz dürfte wohl die Mehrsprachigkeit sowie der kleine, durch die Rechtsordnungen von Bund und Kantonen eingegrenzte Rechtsmarkt sein.15 Gemäss Mickel werden immer mehr Unternehmen und Kanzleien von der Welle der Digitalisierung erfasst und erkennen den Nutzen von Dokumentenautomatisierung – der potentielle Markt und das latente Bedürfnis der Nutzer ist enorm gross. Während die Technologie schon lange bekannt und ausgereift ist, passt sich der reale Markt nun allmählich diesen Gegebenheiten an.16 Nachfolgend werden vier Anbieter von Dokumentenautomatisierung aus der Schweiz näher dargestellt, welche sich untereinander durch ihre Eigenheiten differenzieren. Es sei anzumerken, dass diese Darstellung keinesfalls abschliessend ist.17
3.1.
DocEngine ^
DocEngine ist eine SaaS-Applikation der Weblaw AG aus Bern, welche auch On-Premises installiert werden kann. Sie richtet sich insbesondere an Kanzleien, Rechtsabteilungen von Unternehmen oder die Verwaltung.18 Die Grundfunktionsweise von DocEngine basiert zum einen auf «Geschäftsvorfällen», in denen die «Dokumentvorlagen» mit zugehörigen Fragebogen, bestehend aus Bausteinen, abgelegt sind. Einige dieser Bausteine sind rein textbasiert und beschreiben etwa eine fixe Vertragsklausel, während andere mit Variablen versehen sind, sodass sie sich abhängig von der Eingabe ändern. Der Nutzer erstellt diese beiden Dokumente mit den Bausteinen in Word oder Excel und lädt sie einmalig auf DocEngine hoch. Weiter gibt es in der Anwendung das Register «Kunden». Dabei können die Geschäftsvorfälle direkt auf die Kunden angewandt werden, deren Daten bestenfalls schon hinterlegt sind oder andernfalls per Ausfüllen des Fragebogens hinterlegt werden. Das auszugebende Dokument wird dabei simultan angezeigt. Wiederkehrende Daten, wie z.B. der Name einer Gesellschaft werden automatisch in die betreffenden Felder eingesetzt.19
Mögliche zusätzliche Features sind z.B. der Bezug von bereits erstellten juristischen Inhalten, die Übersetzung bzw. bilinguale Anzeige von Dokumenten, mögliche Schnittstellen zu anderen Programmen, die Einbettung der DocEngine-Anwendung auf einer Webseite, die bi-direktionale kollaborative Zusammenarbeit an einem Dokument durch mehrere Benutzer, z.B. zwischen Verwaltung und Bürger, die Nachverfolgung aller Änderungen oder das Erstellen von Workflows, wie etwa ein automatischer Import der eingegebenen Daten.20
Das Preismodell ist dabei zweiteilig gestaltet. Ein «Basisvertrag» mit allen Basisfunktionen der Applikation kostet 95 Franken pro Monat und User, mit einer Mindestlaufzeit von drei Monaten. Ab zehn Usern besteht die Möglichkeit der Erstellung einer personalisierten Businesslösung mit DocEngine.
3.2.
MLL Docs ^
Ein grosses Angebot an automatisierbaren Dokumentvorlagen, basierend auf entsprechenden Fragebogen, bietet die Schweizer Grosskanzlei Meyerlustenberger Lachenal (MLL). Die webbasierte Applikation richtet sich insbesondere an Unternehmen hinsichtlich einer Vielzahl von gesellschaftsrechtlichen Belangen. Während einige Dokumente kostenlos angeboten werden, z.B. ein Aktienzertifikat für Namenaktien, können bspw. alle nötigen Dokumente für eine Mutter-Tochter-Fusion eines Unternehmens zu einem Fixpreis von 500 Franken erstellt werden. Nach Kauf einer solchen Vorlage können während 90 Tagen beliebig viele Dokumente erstellt werden.21 Mit der Applikation soll es Unternehmen ermöglicht werden, die nötigen Dokumente z.B. für eine konzerninterne Konsolidierung zu erstellen und diese ohne Hilfe externer Berater zu implementieren. Dadurch tritt laut MLL eine andere Art von Know-how des Anwalts in den Vordergrund, weshalb sich dieser vielmehr auf den «Blue-Print» eines solchen Sachverhalts fokussieren und so den Unternehmen besser zur Seite stehen kann.22 Die Vorlagen werden der Öffentlichkeit über die Webseite von MLL23 als auch über die Seller’s-Plattform von «PartnerVine»24, ein LegalTech-Unternehmen, zugänglich gemacht.25 Nebst einer Erweiterung der angebotenen Dokumente, soll es in Zukunft auch möglich sein, das Angebot an automatisierten Dokumenten als «custom-made-solution», z.B. an Verbände und Unternehmen, weiterzugeben, welche diese wiederum ihren Mitgliedern bzw. internen Abteilungen zur Verfügung stellen können.26
3.3.
LegalGo ^
LegalGo ist eine Web-Applikation einer Kleinkanzlei aus St. Gallen, welche seit 2017 auf dem Markt ist. Sie richtet sich an Privatpersonen und Unternehmen. Zum einen bietet das Basis-Angebot die Möglichkeit, automatisierte Dokumente mittels «Generator» zu erstellen. Dabei werden etwa Bereiche des Gesellschafts- oder des Familienrechts umfasst. So kann z.B. ein Aktionärsbindungsvertrag zum Fixpreis von 199 Franken erstellt werden. Gewisse Dokumente, etwa ein arbeitsrechtliches Kündigungsschreiben, werden gratis angeboten. Gemäss der Webseite sind so bis dato27 2’216 Dokumente erstellt worden. Zudem können verschiedene Zusatzangebote gebucht werden: Etwa die Beurkundung durch einen Notar, den zusätzlichen Erhalt des Dokuments als Word-Datei sowie die anwaltliche Überprüfung und Korrektur des Rechtsdokuments.28 Beim Premium-Angebot werden Anwaltsdienstleistungen, wie die Erstellung eines Ehe- und Erbvertrags, zum vordefinierten Fixpreis angeboten.29
3.4.
DocIQ ^
Die Contract Vault GmbH aus dem Crypto-Valley Zug ging mit ihrer SaaS-Applikation «DocIQ» im September 2020 online. Die Anwendung richtet sich insbesondere an Kanzleien und Unternehmen. In der Applikation können sog. «SmartTemplates» eigenhändig erstellt oder aus bestehenden Dokumenten importiert werden. Auch alte, statische Dokumente können mittels Natural Language Processing konvertiert und automatisiert werden. Es muss dabei keine Markup- oder Programmiersprache erlernt werden, da die Erstellung des SmartTemplates rein visuell in der Applikation vorgenommen wird. Diese können etwa mit einfachen Variablen, Entscheidungszweigen, Berechnungen oder bedingter Logik erstellt werden.30
Weiter ist in DocIQ auch die Möglichkeit eingebunden, Dokumente rechtsverbindlich, mittels eines Blockchain-Hash, elektronisch zu signieren und kollaborativ am Dokument zu arbeiten. Gemäss Gordon Mickel, CEO von DocIQ, soll nicht bloss die Erstellung eines Dokuments digitalisiert und automatisiert werden, sondern auch jegliche Prozesse rundherum. So können etwa sog. Workflows erstellt werden, die z.B. darin bestehen, dass ein Beschwerdeschreiben als PDF automatisch in die Anwendung eingelesen und nach Schlüsselwörtern durchsucht wird. Anhand dieser fügt die Anwendung dann bestimmte Bausteine in ein SmartTemplate ein, wobei schlussendlich nur noch wenige Angaben gemacht werden müssen, bis das Antwortschreiben fertiggestellt ist. Darüber hinaus ist es möglich, alle in den Dokumenten enthaltenen Daten, welche maschinenlesbar generiert werden, zu analysieren, wie z.B. die Vertragsdauer.31
Durch die Maschinenlesbarkeit der Daten können gemäss Mickel jegliche Programme, z.B. auch künstliche Intelligenz, mit DocIQ über Schnittstellen verbunden werden. Ziel von DocIQ ist es, im Endeffekt das gesamte Contract Lifecycle Management zu ermöglichen. Bald soll zudem der DocIQ-Marktplatz online gehen, über den der Nutzer seine eigens erstellten Vorlagen gegen Entgelt anbieten kann. Dieser Marktplatz soll auch auf der unternehmenseigenen Webseite eingebettet werden können.32 Preislich bewegt sich eine Lizenz für einen Autor derweil zum «Launching-Price» zwischen 50 und 100 Franken pro Monat. Zudem ist, falls dies Grosskunden wünschen, auch eine On-Premises-Installation möglich.33
Zielpublikum | Art des Anbieters | SaaS/On-Premises | Preismodell | |
DocEngine | Kanzleien, Unternehmen | Juristischer Verlag | beides | Zweiteilig (Einzelvertrag/Businesslösung) |
MLL Docs | Unternehmen | Grosskanzlei | SaaS | Fixpreis pro Dokument |
DocIQ | Kanzleien, Unternehmen | LegalTech-Unternehmen | beides | Abo-Varianten |
LegalGo | Privatpersonen | Kleine Kanzlei | SaaS | teils kostenlos, teils Fixpreise |
Abbildung 1: Tabelle aller dargestellten Anbieter (eigene Darstellung).
4.1.
Chancen ^
In vorliegendem Kapitel wird auf die Chancen eingegangen, welche die Dokumentenautomatisierung insbesondere für Kanzleien bzw. Anwälte bietet.
4.1.1.
Marktreife ^
Artificial Intelligence und Blockchain sind derzeit beliebte Buzzwords in der LegalTech-Szene. Ein Blick auf den Hype Cycle for Legal und Compliance von Gartner zeigt aber, dass wohl noch einige Jahre vergehen werden, bis diese das «Plateau der Produktivitiät» erreicht haben und damit ihr volles Potential entfalten. Das sog. Contract Lifecycle Management, welches die (automatische) Erstellung eines Dokuments bzw. eines Vertrages, sowie dessen Archivierung, Verwaltung, Anpassung, Weiterentwicklung und Beendigung beinhaltet, soll laut Garnter hingegen schon in zwei bis fünf Jahren produktiv eingesetzt werden können.
Abbildung 2: Der Garnter Hype Cycle (Gartner, 2020, abgerufen unter https://www.gartner.com/en/documents/3987707/hype-cycle-for-legal-and-compliance-technologies-2020).
Die praktische Relevanz bzw. Marktreife von LegalTech in der Gegenwart zeigt sich daher insbesondere bei der automatisierten Dokumentenerstellung – sind doch Dokumente das wohl häufigste Endprodukt juristischer Arbeit.34 Dies bestätigt auch Mickel: «Wir Programmierer haben manchmal eine Faszination für das Utopische – gerade was die Möglichkeiten von Blockchain und KI anbelangt. Doch im Endeffekt muss man realistisch sein. Document Automation ist als Teilbereich von LegalTech technologisch gesehen am ausgereiftesten und dessen grossflächige Verwendung bei Unternehmen und Kanzleien sehr realistisch».
4.1.2.
Effizienzgewinn und Zeitersparnis ^
Es liegt auf der Hand, dass die Verwendung von Document Automation in Kanzleien einen sehr grossen Effizienzgewinn bringen kann, da verschiedene Dokumente für gleichartige Problemstellungen mit wesentlich weniger Aufwand erstellt werden können. Der Anwalt kann sich auf jene Teile des Dokuments, bei denen es wirklich auf die individuelle Bearbeitung ankommt, sowie auf seine Kernaufgabe, die Rechtsberatung, fokussieren. Je nachdem, wie die jeweilige Anwendung aufgebaut ist, ist es auch möglich, für die Erstellung von Dokumenten, etwa für eine einfache Firmengründung, nicht-juristische Mitarbeiter einzusetzen und so arbeitsteilig vorzugehen.35 Wird eine massgeschneiderte In-House Software oder eine bestehende Anwendung von einem B2B-Unternehmen verwendet, kann dies insbesondere zu Beginn kostenintensiv sein und einen Implementierungsaufwand mit sich bringen. Mittel- und langfristig kann allerdings Arbeit eingespart werden, welche sonst als teure Arbeitsstunden des Anwalts verrechnet würden. Dies führt zwangsläufig dazu, dass auch die laufenden Kosten sinken.36 Eine In-House-Software erscheint allerdings bislang nur für grosse Kanzleien mit grossen Fallzahlen rentabel.37 Die Steigerung der Kosten- und Zeiteffizienz geht dabei zwangsläufig mit einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit einher.38
4.1.3.
Gesteigerte Qualität ^
Viele Kanzleien haben ihr Know-How in simplen «Vorlagen» oder in Form von alten Dokumentenversionen in einem Textverarbeitungsprogramm gespeichert. Diese müssen dann kleinteilig angepasst werden, wobei Copy-and-Paste und die Suchen-und-Ersetzen-Funktion ihre Tücken haben. So muss zum Beispiel genau geprüft werden, ob die Vorlage zum vorliegenden Sachverhalt passt, ob die Version auf dem neusten rechtlichen Stand ist, ob überall die korrekte Anrede verwendet wurde oder sich keine Fehler durch Änderung von Singular zu Plural eingeschlichen haben. Dadurch, dass «Standard-Eingaben» wie der Name bei einem automatisierten Dokument meist nur einmal eingegeben werden müssen, ergeben sich viele Fehlerquellen erst gar nicht. Das hat zur Folge, dass die Qualität und Einheitlichkeit der Dokumente gesteigert wird und zusätzlich der Kontrollaufwand eingespart wird, was wiederum der Effizienz zuträglich ist.39
4.1.4.
Neue Möglichkeiten und neue Businessmodelle ^
Bereits 1996 sagte der britische Jurist Richard Susskind voraus, dass Anwälte ihr Wissen über die Erstellung rechtlicher Dokumente in «Pakete» packen werden und diese durch Document Automation eine vermarktbare Form von Informationsservice für den Hausgebrauch und Unternehmen wird.40 Damit war Susskind seiner Zeit um einiges voraus. Bislang sind heute – wenn auch wenige – Kanzleien in der Schweiz Anbieterinnen von Applikationen zur Dokumentenautomatisierung, wie beispielsweise die Kanzlei MLL.41
Durch Dokumentenautomatisierung und dessen Fortentwicklung ergeben sich gänzlich neue Businessmodelle für Kanzleien, wobei einige davon nachfolgend in aller Kürze erläutert werden.
Der Einblick in den Schweizer Markt hat gezeigt, dass in einigen Fällen bereits mehr geboten wird, als die blosse automatische Erstellung eines Dokuments. So können z.B. mehrere Personen gleichzeitig an einem Dokument arbeiten oder das Dokument kann mit einer elektronischen Signatur versehen werden.42 Zudem machen es sich einige Anbieter43 zu Nutze, dass die Sachverhaltsinformationen aus Unmengen an Rohdaten bestehen. Diese können etwa als Datensatz gespeichert und wiederum über sog. Schnittstellen in andere Anwendungen, etwa ein Programm für Kundenbeziehungsmanagement, implementiert werden.
Bereits heute ist es möglich, diese Daten auch zu analysieren und zu filtern, wodurch die Möglichkeit eines Contract Lifecycle Management, wie in Kapitel 4.1.1 gezeigt, eröffnet wird. Ändert sich etwa die Rechtsprechung hinsichtlich einer Vertragsklausel, müssen nicht mehr alle Vertragsportfolios einzeln durchsucht werden. Dadurch können Kanzleien ihr Know-How in «Bibliotheken» bündeln und den Überblick behalten, welche Verträge mit welchen Klauseln und welchen Templates erstellt wurden und ob diese aktuell gehalten wurden. Damit verbessert sich auch die Qualität der Beratung des Mandanten. Weiter wäre denkbar, dass jene Verträge, die bald auslaufen und einer Neuerung bedürfen, herausgefiltert werden und aufgrund dessen proaktiv auf den Mandanten zugegangen wird. Risiken können dadurch besser kontrolliert werden. Aber auch tiefergehende Vertragsanalysen in Form eines Reportings, etwa für eine Due Dilligence, sind denkbar. Besonders bei einer grossen Anzahl an Verträgen kann hier viel Aufwand eingespart werden.44 Das Contract Lifecycle Management scheint – ganz im Einklang mit der Prognose von Garnter in Kapitel 4.1.1 – der nächste grosse technologische Schritt zu sein, der sich etablieren wird. Es liegt auf der Hand, dass dies in Zukunft auch als Businessmodell für eine Kanzlei genutzt werden kann. So kann eine Kanzlei z.B. Pakete bzw. Bundles zu einem Fixpreis anbieten, welche nicht nur die Aufsetzung des Vertrages, sondern auch dessen gesamtes Management, also bis zu dessen Beendigung, beinhalten.
Indem sie für bestimmte Rechtsbereiche eine eigene Applikation entwickeln, können Kanzleien dem Kosten- und Wettbewerbsdruck entgegenwirken, da dadurch das Erstellen von Dokumenten – was bislang junge, aber teure Anwälte übernahmen – massiv vergünstigt wird.45 Zudem können sie ihre Wertschöpfungsbasis erweitern, indem sie eine solche Anwendung anderen Kanzleien oder Mandanten anbieten. Vorteil ist, dass sich solche (Online-)Angebote – unter Anwendung unterschiedlicher Preismodelle – beliebig skalieren lassen.46 Wenn sich Kanzleien von ihrem Stundenabrechnungsmodell lösen, können sie mit Zugangsgebühren zu automatisierten Dokumenten im Schlaf Geld verdienen.47 Denkbar ist allerdings auch, dass die Automatisierung von Dokumenten gänzlich outgesourct bzw. eine bereits bestehende Anwendung verwendet wird.48
Möglich wäre weiter die Verbindung eines Angebots zur Dokumentenautomatisierung für Konsumenten mit einem persönlichen Beratungsangebot zu einem Fixpreis. LegalGo bedient sich, wie in Kapitel 3.3 gezeigt, dieses Businessmodells. Aus Marketingsicht erscheint dies m.E. sinnvoll, denn durch die kostenlose Registrierung zur Nutzung der Anwendung können zum einen Daten von potentiellen Kunden gesammelt werden, und zum anderen bleiben bei der Anwendung der Vorlagen wohl häufig Fragen offen, mit welchen sich der Nutzer potentiell auch an die Kanzlei wendet.
Während sich Grosskanzleien durch die Erstellung einer hauseigenen Applikation im Markt differenzieren können, fehlen einer kleinen Kanzlei dazu i.d.R. die Ressourcen. Zuweilen kann es daher nötig sein, dass sie sich vom Allgemeinpraktiker zum Spezialisten wandelt und sich so eine «neue» Nische sucht, wo die Konkurrenz kleiner ist. Dabei kann sie selbst von den Möglichkeiten bestehender Anwendungen profitieren, um einen kosteneffizienteren Service bieten zu können.49
Letztlich sind auch sog. Marktplatz-Plattformen, welche neue Businessmöglichkeiten eröffnen, von Bedeutung. Dabei ist z.B. an die Idee des «Marketplace» von DocIQ50 bzw an die Plattform «PartnerVine»51 zu denken, bei dem z.B. Kanzleien ihre erstellten automatisierten Dokumentvorlagen vermarkten können.52 Ausgehend von dieser bestehenden Möglichkeit wäre m.E. ein Businessmodell denkbar, bei dem eine Plattform als «Marketplace» komplett von der Möglichkeit entkoppelt wird, eigene Dokumentenvorlagen zu erstellen und sich z.B. an Privatkonsumenten mit privatrechtlichen Anliegen richtet. Das Angebot würde allein darin bestehen, dass diverse Kanzleien ihre smarten Templates auf einer Marktplatz-Seite zur Verfügung stellen, der Konsument davon gegen Entgelt eines auswählt und dieses mit der angebotenen Applikation der Webseite auch gleich automatisiert. Wiederum besteht die Möglichkeit, dass sich der Nutzer bei Fragen potentiell auch an die jeweilige Kanzlei wendet und so zum Mandanten wird.
4.2.
Problemfelder ^
Nachfolgend werden mögliche Problemfelder bei der Document Automation kurz aufgezeigt, wobei anzumerken ist, dass eine ausführliche Darstellung der Problematiken den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.
4.2.1.
Rechtsdienstleistung wird zur Commodity ^
Durch kostenlose bis preiswerte Angebote für Konsumenten, wie jene der vorhin vorgestellten Plattform «LegalGo», aber auch z.B. durch Plattformen wie «Approoved»53, «Vertragshilfe.ch»54 und vielen weiteren, ist die automatisierte Erstellung von Dokumenten – eine ursprüngliche Kernaufgabe von Anwälten – in den Köpfen von Konsumenten zu einer standardisierten Ware herangereift.55 Das vorherrschende Bedürfnis von Klienten lautet nun: Mehr und besserer Service für weniger Geld.56
Dabei sinken, nach anfänglich hohen Fixkosten für die Erstellung einer solchen Applikation, die Kosten für jede weitere Einheit des Produkts, wobei die Grenzkosten gegen null tendieren und das Produkt entsprechend günstig angeboten werden kann. Das führt dazu, dass die Zahlungsbereitschaft der Kunden für Rechtsdienstleistungen ebenfalls sinkt. Der Preis für die professionelle Erstellung eines Dokuments durch einen Anwalt wird sich, sofern es dafür genügend Anbieter gibt, dem Preis für das automatisierte Dokument anpassen und somit sinken. Der Wettbewerbsdruck steigt zwangsläufig. Folglich werden diejenigen Kanzleien, welche sich den Gegebenheiten nicht anpassen, aus dem Markt gedrängt.57 Nicht zuletzt kann eine automatisierte Dokumentenerstellung in Sachen Qualität, Einheitlichkeit und Schnelligkeit die Arbeit eines Anwalts unter Umständen durchaus übertreffen.58
4.2.2.
Frage des Datenschutzes ^
Die Frage des Datenschutzes stellt sich insbesondere bei der Nutzung von SaaS-Anwendungen durch die Kanzleien, da die gesamte Datenverarbeitung und Speicherung auf der Cloud-Infrastruktur stattfindet, und nicht wie bei On-Premise-Anwendungen lokal auf Servern der Kanzlei gespeichert wird. Die gesamte Vertraulichkeit der Daten liegt daher in den Händen des Cloud-Providers. Die Softwareapplikation muss dabei zunächst auf die unverschlüsselten Dateien zugreifen können und hat somit auch Zugang zu den vom Berufsgeheimnis nach Art. 321 StGB geschützten Informationen – diese sind daher für den Cloud-Provider im Klartext sichtbar. Die Speicherung der Daten auf der Cloud erfolgt dann allerdings unter Verschlüsselung und wird gegen Einsicht durch Dritte geschützt.59 Nach h.L. und Praxis wird der Cloud-Provider als Hilfsperson der Kanzlei qualifiziert und stellt somit nicht einen unberechtigten Dritten im Sinne von Art. 321 StGB dar.60
Dennoch besteht eine gewisse Schwierigkeit für die Kanzleien: Die Auswahl des Cloud-Providers muss zwingend unter Anwendung einer gewissen Sorgfalt erfolgen und die Wahrung des Berufsgeheimnisses vertraglich abgesichert werden. So wird sichergestellt, dass die Daten vom Cloud-Provider nur zur Vertragserfüllung verwendet werden. Die Einhaltung dieser Vereinbarung muss durch die Kanzlei in zumutbarer Weise überwacht werden.61
4.2.3.
Haftung ^
Bei der Haftung sind vier Konstellationen zu betrachten: So kann eine Kanzlei die Dokumentenautomatisierungs-Applikation selbst entwickeln, mit juristischen Inhalten füllen und diese selbst nutzen, oder diese Aussenstehenden zur Nutzung anbieten. Weiter kann sie eine bestehende Applikation eines Drittanbieters selbst nutzen und sich dabei bereits bestehender juristischer Inhalte bedienen oder solche letztlich innerhalb der Applikation selbst entwickeln und nutzen. Dabei stellt sich bei allen vier Konstellationen dieselbe Frage: Wer haftet, wenn die den Dokumenten zugrundeliegenden Vorlagen veraltet sind und nicht mehr den rechtlichen Anforderungen entsprechen oder sonstige Mängel aufweisen?
Grundsätzlich unterliegt das Rechtsverhältnis zwischen Anwalt und Klienten dem Auftragsrecht. Unabhängig davon, ob eine Kanzlei zur Auftragserfüllung eine Software nutzt, deren vorgegebene juristischen Inhalte sich als mangelhaft erweisen, ob sie die Inhalte innerhalb der Applikation selbst produziert oder letztlich gänzlich eine eigene Software mit eigenen Inhalten verwendet, kommen klar auftragsrechtliche Ansprüche in Frage. Denn Ausgangspunkt bildet die anwaltliche Sorgfaltspflicht nach Art. 398 Abs. 2 OR, welche die Pflicht des Beauftragten zur getreuen und sorgfältigen Ausführung des ihm übertragenen Geschäftes verankert.62
Gemäss Bundesgericht handelt es sich dabei um die objektiv beurteilte Sorgfalt, welche ein gewissenhafter Beauftragter in der gleichen Lage bei der Besorgung der ihm übertragenen Geschäfte anwendet. Daher stellt die Verwendung einer solchen Dokumentenautomatisierungssoftware mit mangelhaftem juristischem Inhalt immer eine Verletzung dieser Sorgfaltspflicht dar. Denn zur anwaltlichen Sorgfaltspflicht gehört auch, dass ein Übernahmeverschulden, etwa durch mangelhafte Templates eines Anbieters, vermieden wird.63
Kommt der Mandant durch Verwendung einer mangelhaften Vorlage bzw. Applikation zu Schaden, ist er so zu stellen, wie wenn die Vertragsverletzung nicht erfolgt und der Auftrag gehörig erfüllt worden wäre. Indessen wäre weiter zu prüfen, ob sich die Kanzlei im Rahmen von Haftungsbeschränkungen in einer Weise gegen solche Vorfälle absichern kann.64
Verwendet die Kanzlei eine Anwendung eines Software-Anbieters, ist an Schadensersatz bzw. an einen Rückgriff auf diesen zu denken. Aufgrund der Eigenverantwortung und der meist vorliegenden Haftungsbeschränkungen in den AGBs des Lizenzvertrages bzw. des Kaufvertrages dürfte sich ein solcher allerdings als schwerlich durchsetzbar herausstellen. Umso wichtiger ist für Kanzleien beim Bezug juristischer Inhalte von Dritten sicherzustellen, dass diese auch dem aktuellen State of the Art entsprechen.65
Bietet eine Kanzlei hingegen eine Anwendung zur Dokumentenautomatisierung selbst an, hängt die Haftung davon ab, wie das Rechtsverhältnis zwischen dem Nutzer und der Kanzlei zu beurteilen ist. Dabei dürfte es sich, je nachdem welcher Lehre gefolgt wird, um einen Kauf- oder Lizenzvertrag handeln. Beim Kaufvertrag kommen dabei die üblichen Mängelrechte und Schadensersatzansprüche zur Anwendung. Wird ein Nutzungsrecht einer solchen Anwendung für eine bestimmte Dauer gegen ein Entgelt eingeräumt, dürften in der Regel die Voraussetzungen des Lizenzvertrags erfüllt sein. Da besondere Gesetzesbestimmungen fehlen, unterliegt der Lizenzvertrag zunächst den Vertragsbestimmungen der Parteien, inklusive der AGB, sowie den allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechts. Entsprechend ist es also von grosser Wichtigkeit, dass eine Kanzlei bei der Lizenzierung eigener Inhalte ein grosses Augenmerk auf die Ausgestaltung der AGBs legt, um die Haftung zu beschränken, falls dem Konsumenten aus der Verwendung der Applikation Verluste bzw. Schäden entstehen.66
5.
Fazit – Gefahr oder Chance für den Stand des Anwalts? ^
Eines geht aus der bisherigen Darstellung hervor: Dokumentenautomatisierung ist nicht ein Buzzword, dessen Umsetzung in der Realität in weiter Ferne liegt. Im Gegenteil, Dokumentenautomatisierung ist marktreife Technologie – und der Markt bzw. die Konsumenten sind bereit dafür. Mit dem Contract Lifecycle Management, welches allmählich produktiv eingesetzt werden kann, befindet sich Dokumentenautomatisierung bereits in einer technischen Fortentwicklung.
Selbst die Justiz und die Verwaltung springen derweil auf den Zug der Dokumetenautomatisierung auf. So etwa mit dem Projekt «Justitia 4.0», wobei bis Ende 2026 schweizweit eine eJustizakte umgesetzt wird, in welcher alle aktenrelevanten Schriftstücke zu einem Fall in digitaler Form bearbeitet werden.67 Die Covid-19-Krise hat zuweilen die Bestrebungen vorangetrieben: Die Beantragung von Kurzarbeitsentschädigung erfolgt bspw. in den Kantonen Zürich und Aargau mittels Dokumentenautomatisierung.68 Dass ein Umdenken eingesetzt hat, zeigen auch erste Pilotprojekte von Handelsregisterämtern hinsichtlich der Verlagerung des Gründungsprozesses eines Unternehmens in einen digitalen, medienbruchfreien Workflow – u. a. mittels automatisierter Erstellung von Dokumenten.69
Wie in Kapitel 4.2.1 gezeigt wurde, besteht das Bedürfnis der Mandanten nach einem preiswerten, schnellen Service, wobei der Kostendruck auf Kanzleien durch LegalTech-Unternehmen und innovativere Konkurrenten weiter gesteigert wird. Dadurch verändert sich der Stand des Anwalts unaufhaltsam – was aber nicht zwingend negativ sein muss. Denn ob Dokumentenautomatisierung im Endeffekt eine Chance oder eine Gefahr für den Stand des Anwalts ist, bestimmt sich letztlich danach, wie Kanzleien mit dieser Zeit des Umschwungs umgehen. Gemäss Mickel soll Dokumentenautomatisierung aber nicht zum Ziel haben, Anwälte obsolet zu machen, sondern ihnen vielmehr einen Value-Add und Effizienzgewinn bieten. Für ihn ist aber durchaus denkbar, dass sich Anwälte in Zukunft von ihrem traditionellen Berufsbild lösen und allenfalls auch Vermittler bzw. Consultants für solche intelligente Lösungen, wie Dokumentenautomatisierung, werden.70
Mit den gebotenen Chancen, insbesondere mit der Implementierung neuer Businessmodelle, welche erst durch Dokumentenautomatisierung ermöglicht wurden, wird Anwälten ein Werkzeug in die Hand gegeben, welches sie zu ihren Gunsten nutzen können. Allerdings bestehen gerade in Sachen Haftung und Datenschutz, wie in Kapitel 4.2.2 und 4.2.3 dargelegt, einige Hürden, auf welche besonderes Augenmerk gelegt werden muss.
Denn letztlich gilt wie so oft: «A fool with a tool remains a fool». Während der juristische Verstand nach wie vor benötigt wird, gesellt sich zu den nötigen Kernkompetenzen eines jeden Juristen auch die Fähigkeit, digitale Produkte grundlegend zu verstehen, anzuwenden und bestenfalls entwickeln zu können.71 Nur so kann die Dokumentenautomatisierung bzw. LegalTech im Allgemeinen als Chance für den Stand des Anwalts auch gewinnbringend genutzt werden.
Raphaela Roth, Studentin der Rechtswissenschaften an der Universität St. Gallen (HSG).
Interview vom 26. November 2020 mit Gordon Mickel, CEO der Contract Vault GmbH aus Zug und Programmierer von «DocIQ» ^
Wenn Sie an den Markt mit Schweizer Anbietern von Document Automation denken – welches «Reifestadium» hat dieser Ihrer Meinung nach?
Derzeit werden immer mehr Unternehmen und Kanzleien von der Digitalisierungsbewegung erfasst und erkennen den Nutzen von Dokumentenautomatisierung. Der potentielle Markt ist riesig, weil extrem viele Unternehmen und Kanzleien tagtäglich mit Unmengen an Dokumenten arbeiten. Es besteht also ein latentes Bedürfnis danach. Noch steht die Nutzung von Dokumentenautomatisierung in der Schweiz aber eher erst am Anfang.
Wie ausgereift ist Ihrer Meinung nach die simple Dokumentenautomatisierung, rein technologisch gesehen?
Im Anbietermarkt sind grundsätzlich zwei Bewegungen zu unterscheiden. Zum einen gibt es (LegalTech)-Unternehmen, die sich einzig einem sehr kleinen Anwendungsgebiet widmen und darin einen Service für Konsumenten bieten wollen. Man könnte vielleicht sagen, dass sich solche Unternehmen der «low hanging fruits» bedienen. Beispielsweise mit den Dokumentengeneratoren durch ein Formular, von denen es immer mehr gibt. Sie haben zur Folge, dass einfache Rechtsdienstleistungen demokratisiert und vereinfacht werden. Allerdings werden die eingegebenen Daten nicht weiterverwendet, was m.E. per se keinen Digitalisierungsprozess darstellt. Diese Anwendungen sind technologisch bereits sehr ausgereift und lassen sich auch leicht programmieren – entsprechend viele Anbieter gibt es im Markt auch.
Zum anderen gibt es Unternehmen, wie wir von DocIQ, welche den ganzen Prozess digitalisieren wollen. Solche Applikationen, die der User rein visuell – ohne eine Programmiersprache – nutzen kann, sind in der Entwicklung schon schwieriger. Aber auch hier gibt es immer mehr Anbieter, die sich dem widmen. Insbesondere in Zusammenhang mit Blockchain und KI sind die Möglichkeiten sehr gross. Das beginnt schon beim Format, wie die Daten abgelegt sind. Durch die Maschinenlesbarkeit der Daten können alle möglichen Programme diese verwenden. Das sog. Contract Life Cycle Management als Weiterentwicklung der Dokumentenautomatisierung ist ein Bedürfnis, welches im Markt auch Fuss fassen wird. Zu denken ist z.B. an ein Grossunternehmen, welches die Laufzeit von Tausenden von Immobilienverträgen managen möchte.
Aber auch ganze Work-Flows sollen automatisiert werden, die z.B. darin bestehen, dass ein Beschwerdeschreiben als PDF automatisch in die Anwendung eingelesen und nach Schlüsselwörtern gesucht wird. Anhand dieser fügt die Anwendung dann bestimmte Bausteine in ein SmartTemplate ein, wobei schlussendlich nur noch wenige Angaben gemacht werden müssen, bis das Antwortschreiben fertiggestellt ist.
Wo sehen Sie Chancen und Risiken durch Document Automation für den Stand des Anwalts?
Unser Ziel ist es nicht, mit der Dokumentenautomatisierung einen Anwalt obsolet zu machen. Unseres Erachtens bietet Dokumentenautomatisierung einen riesigen Value-Add für Kanzleien, weil Prozesse massiv effizienter und einfacher gestaltet werden können. Zudem bieten sich gänzlich neue Businessmodelle – die Kanzlei kann sich fragen: «Was kann ich meinen Kunden zusätzlich noch anbieten?». Dabei ist auch denkbar, dass Kanzleien mehr zu Consultants bzw. Vermittler für LegalTech werden, beispielsweise wenn Unternehmen ihre Kanzlei fragen, wie sie ihre Strategie zur Dokumentenautomatisierung umsetzen können. Aber auch für kleine Kanzleien bietet Dokumentenautomatisierung Vorteile: etwa im On-Boarding von neuen Klienten, da zur Anmeldung eines Mandanten z.B. nur noch ein intelligentes Formular ausgefüllt werden muss. Fest steht, dass diese Entwicklung ohnehin passiert. Die Kanzleien werden mit dieser Entwicklung mithalten müssen, weil die Klienten dies früher oder später erwarten.
- 1 Susskind, Tomorrow’s Lawyers, S. 90f.
- 2 Vgl. Hanke, S. 208; Halbleib, Rz. 1131f.
- 3 Susskind, Tomorrow’s Lawyers, S. 29.
- 4 Wagner, S. 49; Northoff/Gresbrand, Rz. 469; Susskind, Tomorrow’s Lawyers, S. 29.; vgl. für eine genaue Darstellung der technischen Funktionsweise Halbleib, Rz. 1138–1149.
- 5 Wagner, S. 49; vgl. ausführlich zum Ganzen auch Breidenbach, S. 39–43.
- 6 Breidenbach, S. 42.
- 7 Wagner, S. 49.
- 8 Wagner, S. 53.
- 9 Diese Kategorisierung ist an die Folien von Franz Kummer anlässlich des LegalTech Blockkurses vom 5. November 2020 angelehnt.
- 10 Vgl. Kummer/Pfäffli, S. 146–149; Hanke, S. 209.
- 11 Benlian/Hess/Buxman, S. 156.
- 12 Mitmansgruber/Koch, S. 507f.; vgl. zum Ganzen eingehend Benlian/Hess/Buxman, S. 156–158.
- 13 http://techindex.law.stanford.edu/companies?category=3.
- 14 https://www.swisslegaltech.ch/mapping/.
- 15 Kummer/Pfäffli, S. 142, 146.
- 16 Mickel, S. Interview im Anhang der vorliegenden Arbeit.
- 17 Viele Angebote auf dem Markt richten sich z.B. mit bereits bestehenden juristischen Inhalten direkt an Privatkonsumenten und Unternehmen, z.B. «Vertragshilfe.ch», «netnotar.ch», «approoved.ch».
- 18 https://www.docengine.ch/; Hermes, Proof of Concept.
- 19 https://www.docengine.ch/; Kummer, Brownbag.
- 20 https://www.docengine.ch/Produkte.html; https://www.docengine.ch/pl/news/interaktive_formulare_bund.html; vgl. auch https://www.idparc.ch/fr/news/152-demoviedeo-kurzarbeitsentschaedigung-covid19.
- 21 https://mll-legal.com/mll-docs/.
- 22 Tagesanzeiger, S. 15.
- 23 https://mll-legal.com/mll-docs/.
- 24 https://www.partnervine.com/all-products/?p=1.
- 25 Tagesanzeiger, S. 15.
- 26 Tagesanzeiger, S. 15.
- 27 Letzte Überprüfung am 20. November 2020.
- 28 https://www.legalgo.ch/so-funktionieren-vertraege.
- 29 https://www.legalgo.ch/so-funktionieren-fixpreise.
- 30 Mickel, S. Anhang der vorliegenden Arbeit.
- 31 https://www.dociq.io/; Mickel, S. Anhang der vorliegenden Arbeit.
- 32 https://www.dociq.io/; Mickel, S. Anhang der vorliegenden Arbeit.
- 33 Mickel, S. Anhang der vorliegenden Arbeit.
- 34 Northoff/Gresbrand, Rz. 468; Halbleib, Rz. 1131.
- 35 Halbleib, Rz. 1133, 1135f; vgl. auch Kummer/Pfäffli, S. 132.
- 36 Brtka/Keller/Levien, Rz. 775.
- 37 Breidenblach, S. 45.
- 38 Kummer/Pfäffli, S. 132.
- 39 Halbleib, Rz. 1132f.; vgl. auch Kummer/Pfäffli, S. 132.
- 40 Susskind, Future of Law, S. 165.
- 41 Vgl. dafür Kapitel 3.2.
- 42 Vgl. dafür die Anbieter DocEngine und DocIQ in Kapitel.
- 43 Vgl. etwa die Anbieter in Kapitel 3.1 und 3.4.
- 44 Halbleib, Rz. 1152; vgl. auch Wend/Gebhardt, S. 133–136.
- 45 BCG, S. 9f.
- 46 Bues, Rz. 86.
- 47 Susskind, 2013, S. 30.
- 48 BCG, S.10.
- 49 BCG, S. 12f.
- 50 Vgl. Kapitel 3.4.
- 51 Vgl. Kapitel 3.2.
- 52 Breidenblach, S. 45.
- 53 https://www.approovd.com/de-ch/.
- 54 https://www.vertragshilfe.ch/.
- 55 Vgl. Caba/Timo, S. 18.
- 56 BCG, S. 8.
- 57 Susskind, Future of Professions, S. 263f.
- 58 Vgl. Susskind, Future of Professions, S. 265f.
- 59 Schwarzenegger/Thouvenin/Stiller/George, S. 26.
- 60 Schwarzenegger/Thouvenin/Stiller/George, S. 29, 32.
- 61 Schwarzenegger/Thouvenin/Stiller/George, S. 29, 32.
- 62 Tschümperlin/Sutter, S. 151f.
- 63 Tschümperlin/Sutter, S. 151f.
- 64 Tschümperlin/Sutter, S. 154f.
- 65 Tschümperlin/Sutter, S. 155f.
- 66 Tschümperlin/Sutter, S. 153; vgl. für die mögliche Ausgestaltung solcher AGBs: https://staging.mll-legal.com/allgemeine-geschaeftsbedingungen/.
- 67 https://www.justitia40.ch/de/projektuebersicht/.
- 68 Vgl. für eine mögliche Umsetzung davon das Demovideo von DocGenie zur Anmeldung für die Kurzarbeitsentschädigung https://www.idparc.ch/fr/news/152-demoviedeo-kurzarbeitsentschaedigung-covid19; https://www.zh.ch/de/gesundheit/coronavirus/unterstuetzung-und-finanzhilfen/kurzarbeitsentschaedigung-einfach-erklaert/kurzarbeit-corona-abrechnung.html; https://www.job-room.ch/kae/covid19.
- 69 Hess, Effizienter Gründungsprozess durch Digitalisierung & Blockchain.
- 70 Mickel, S. Interview im Anhang der vorliegenden Arbeit.
- 71 Breidenbach, S. 45.