1.
Das Hauptthema der IRI§23 ^
Im Call for Papers für die IRI§23 wird als Hauptthema der Tagung angegeben: Rechtsinformatik als juristische Methodenwissenschaft1.
Der erste Impuls beim Lesen dieses Hauptthemas ist der Gedanke, dass wieder diskutiert werden soll, ob die Informationsrechtsdogmatik eine Teildisziplin der Rechtsinformatik ist oder ob es sich dabei doch um Rechtsdogmatik und nicht Informatik handelt.
Mit Freude kann nach dem Studium des gesamten Call for Papers festgestellt werden, dass dieser erste Impuls vorschnell war und anscheinend grundlegendere Fragen zu Methoden und Zukunft der Rechtsinformatik (RI) gestellt werden sollen. Die Rechtsinformatik soll eine juristische Methodenwissenschaft werden und so entscheidende Beiträge zur Weiterentwicklung der Rechtswissenschaft und deren Methoden leisten.
Das Hauptthema der IRI§23 besteht aus zwei mehr oder weniger eindeutig bestimmten Begriffen, nämlich Rechtsinformatik und juristische Methodenwissenschaft. In einem ersten Schritt sollen diese untersucht werden.
1.1.
Rechtsinformatik ... ^
Eine Auflistung der unterschiedlichen Definitionen der Wissenschaftsdisziplin Rechtsinformatik (RI), die in der Literatur zu finden sind, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Die Inhalte und Methoden der RI sind jedenfalls Gegenstand permanenter Diskussion. Herberger2 fasste die verschiedenen Standpunkte auf der IRI§ 2005 wie folgt zusammen:
- RI = Informationsrecht
- RI = Informationsrecht im engeren Sinn + RI im engeren Sinn
- RI = Anwendung von Informatik-Instrumenten im Recht
Die unterschiedlichen Standpunkte haben natürlich Auswirkungen auf die Methoden, die in der RI angewendet werden. Wird die Informationsrechtsdogmatik nicht als Teil der RI angesehen, dann ist die RI ein Teilgebiet der Informatik. In der RI werden daher vorrangig auch die Methoden der Informatik angewendet. Dabei muss natürlich berücksichtigt werden, dass eine Disziplin wie die Informatik nicht auf eine einzelne Methode reduziert werden kann. Historisch ist der Begriff der Strukturwissenschaft3 von besonderer Bedeutung, deckt aber natürlich die inzwischen riesige Bandbreite der in der Informatik behandelten Themen (z.B. soziale Implikationen des Einsatzes von Informationstechnik, ...) und der dabei entwickelten bzw. angewendeten Methoden nicht mehr vollständig ab. Er verdeutlicht aber das methodische Selbstverständnis.
Wird unter RI Informatik und Informationsrechtsdogmatik verstanden, dann wird „die Beschränkung auf eine einheitliche (mathematisch-strukturelle) Methode aufgegeben“4. Dieses Gemenge wurde als Integrationsdisziplin (gleich dazu unten 2 Wissenschaftskategorien) bezeichnet. Aufgabe einer solchen Disziplin wäre „ein dauerhafter inhaltlicher Austausch“5 zwischen den Teildisziplinen.
Da die Aufgabe einer so verstandenen Integrationsdisziplin letztlich nur die Förderung der Kommunikation zwischen etablierten Wissenschaftsdisziplinen und nicht die eigenständige wissenschaftliche Arbeit ist, wird die so definierte RI regelmäßig in Frage gestellt. Wenn eine regelmäßig abgehaltene Konferenz wie die IRI§ für die Erfüllung des Zwecks eines dauerhaften inhaltlichen Austausches ausreicht, dann wird auch keine eigenständige Disziplin Rechtsinformatik benötigt. Folgerichtig kann die Disziplin auch problemlos für tot6 erklärt werden. Die Frage „Was ist Rechtsinformatik?“7 wird daher auch permanent gestellt und diskutiert8.
Aber auch wenn man die Rechtsinformatik nicht mit der Informationsrechtsdogmatik vermengt, ist der konkrete Forschungsgegenstand der RI zu definieren. Dabei ist zu beachten, dass eine Reduktion auf einzelne Teilbereiche der Informatik nicht sinnvoll ist. So stellt Hoeren zur Rechtsinformatik fest (im Call for Papers wird darauf Bezug genommen): „das Fach selbst ist tot. Trotz mehrfacher Versuche, diese wichtige Fragestellung neu zu beleben, tauchen Themen wie juristische Expertensysteme in der rechtswissenschaftlichen Forschung kaum noch auf“9.
Auch wenn diese Aussage vor allem wegen der Todeserklärung Beachtung erfahren hat, so sind zwei andere Aspekte wichtiger: Zum Einen ist dies eine inhaltliche Reduktion von RI auf juristische Expertensysteme. Erfreulich ist in diesem Zusammenhang der Call for Papers, in dem auf die große Bandbreite der RI-Forschungsgebiete exemplarisch hingewiesen wird. Es werden dort neben Themen, bei denen inhaltliche Verbindungen zu juristischen Expertensystemen angenommen werden können (z.B. Rechtslogik), auch andere Bereiche genannt: „juristische Informationswiedergewinnung (legal information retrieval). Textkorpusanalyse (legal discovery), Dokumentenautomatisation (document automation and delivery)“.
Dies zeigt, dass eine Reduktion der RI auf juristische Expertensysteme nicht der wissenschaftlichen Praxis entspricht. Und, dass eine besonders starke Konzentration auf ein Teilgebiet eines Fachbereichs dazu führen kann, dass die lebendigen Entwicklungen in anderen Teilbereichen nicht wahrgenommen werden.
Zum Zweiten ist in diesem Zitat bemerkenswert, dass mit fehlender Beachtung/Resonanz/Publikation in der rechtswissenschaftlichen Forschung argumentiert wird. Wenn die RI eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin ist, dann sind auch vorrangig die Publikationen in diesem Bereich zu untersuchen.
Es kann in diesem Zusammenhang ein Zitat von Kaufmann10 („Die Rechtsphilosophie ist ein Zweig der Philosophie, nicht ein Zweig der Rechtswissenschaft.“) abgewandelt werden: Die Rechtsinformatik ist ein Zweig der Informatik, nicht ein Zweig der Rechtswissenschaft.
Dies leitet auch gleich über zum zweiten Begriff des Hauptthemas der IRI§23, der „juristischen Methodenwissenschaft“.
1.2.
... als juristische Methodenwissenschaft ^
Die Wahl der wissenschaftlichen Methode bestimmt auch den Inhalt der Wissenschaftsdisziplin. Damit ist für die RI die Einordnung als Strukturwissenschaft und/oder Integrationswissenschaft und/oder als Rechtswissenschaft und/oder jetzt im Hauptthema der IRI§23 als juristische Methodenwissenschaft von zentraler Bedeutung, da mit solchen Einordnungen auch methodische Schwerpunkte verbunden sind.
Wenn die RI eine juristische Methodenwissenschaft ist oder sein soll, dann stellt sich die Frage, was darunter zu verstehen ist. Ist es
- eine Wissenschaft, die die juristische Methoden anwendet, oder
- eine Wissenschaft, deren Gegenstand die juristischen Methoden sind, also eine Art Metawissenschaft zur Rechtswissenschaft.
Im ersten Fall bedeutet dies, dass RI nur eine andere Bezeichnung für Informationsrechtsdogmatik ist, im zweiten Fall wird sich die Frage der Abgrenzung zur Rechtstheorie und vielleicht auch Rechtsphilosophie11 stellen.
Im Folgenden wird von der zweiten Variante ausgegangen.
Was kann also die Bezeichnung als juristische Methodenwissenschaft für eine Teildisziplin der Informatik bedeuten und ist diese mit anderen Wissenschaftskategorien wie Strukturwissenschaft kompatibel?
2.
Wissenschaftskategorien ^
Wissenschaftsdisziplinen können unterschiedlichen Kategorien12 zugeordnet werden, wobei eine Disziplin auch gleichzeitig mehreren Kategorien angehören kann. An dieser Stelle sind keine ausführlichen allgemeinen wissenschaftstheoretischen Ausführungen zu den unterschiedlichen Kategorien möglich. In Bezug auf die (Rechts)Informatik sind aber folgende Kategorien von Bedeutung:
- Strukturwissenschaft
- Formalwissenschaft
- Realwissenschaft
- Metawissenschaft
- Ingenieurwissenschaft
- Integrationswissenschaft
- Handlungswissenschaft
- Querschnittswissenschaft
Grundsätzlich gilt, dass die Definitionen der und die Abgrenzungen zwischen den einzelnen Kategorien fließend sind und immer nur Teilaspekte der konkreten Praxis einer Wissenschaftsdisziplin beschreiben.
2.1.
RI als Strukturwissenschaft ^
Gemeinsam ist Strukturwissenschaften das Ziel der „Erforschung von Strukturen, unabhängig von der dabei verwendeten Sprache“ (vgl. FN 3). Diese Unabhängigkeit von der verwendeten Sprache ist bei einem untersuchten System wie den Rechtswissenschaften, in denen Texte und damit Sprache eine überragende Rolle spielen, eine besondere Herausforderung.
Strukturwissenschaften behandeln „transdisziplinäre Fragestellungen: Sie versuchen, die allgemeinen Strukturprinzipien von Systemen zu bestimmen.“13 Sie sind daher Querschnittswissenschaften.
Definiert man RI wie oben als Anwendung von Informatik-Instrumenten im Recht, dann ist ihr Gegenstand nicht nur die Analyse von Systemen, sondern auch im Sinne einer praktischen Informatik14 die wissenschaftliche Unterstützung und Begleitung der Umsetzung der so gewonnenen Erkenntnisse bei der Entwicklung von Informationssystemen.
Die Bandbreite der untersuchten Systeme reicht von Text- über Dokumentstrukturen bis hin zu Entscheidungsabläufen und natürlich auch Organisationsstrukturen. Letztlich kann in jedem Lehrbuch der Rechtsinformatik schon an Hand der Kapitelüberschriften die Themenvielfalt in dieser Disziplin erkannt werden.
Wesentlich für das Verständnis von Strukturwissenschaften ist, dass die in den Formalwissenschaften wie z.B. Mathematik entwickelten formalen Methoden auf alle Erkenntnisobjekte mit geringen Anpassungen angewendet werden können. Ein Netzwerk von Begriffen kann daher in unterschiedlichen Fachbereichen – z.B. Medizin, technische Anwendungsbereiche oder eben auch Recht – durch denselben theoretischen Ansatz, in diesem Beispiel könnte das die Graphentheorie sein, beschrieben werden. Bei der konkreten Umsetzung können aber Anpassungen notwendig sein, da es notwendig sein kann, bei juristischen Begriffsnetzwerken die Verweise auf Rechtsnormen als besondere Art von Netzwerkknoten zu definieren. Im medizinischen Anwendungen wird dieser Knotentyp eine geringere Bedeutung haben.
In den in der Anfangsphase der RI geschriebenen Lehrbüchern, z.B. jenes von Reisinger15, wird die Einordnung als Strukturwissenschaft und die große Bedeutung formalwissenschaftlicher Methoden betont. Es wird aber auch ausgeführt, dass mit der Anwendung dieser Methoden auch immer Systemanalyse und Modellbildung verbunden sind.
Für Modelle die in Formal- und Strukturwissenschaften verwendet werden, gilt, dass sie Abbildungen und meistens auch Vereinfachungen sind. Eine „Modellbeziehung ist nicht eindeutig, d.h. für dasselbe Originalsystem können verschiedene Modelle gebildet werden und nützlich sein“16. Für Modell gilt daher, „all models are approximations. Essentially, all models are wrong, but some are useful. However, the approximate nature of the model must always be borne in mind.“17
In der Praxis, geht das Bewusstsein, dass in der RI mit Modellen, also mit Abbildungen und nützlichen Näherungen, und nicht mit dem Originalsystem gearbeitet wird, häufig verloren. Insbesondere der Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) scheint für eine derartige Gleichsetzung sehr anfällig.
Der Modellbildung geht immer die Systemanalyse voran. Reisinger nennt in diesem Zusammenhang „als typisch systemwissenschaftlich“18 die Black-Box-Methode.
Als Black-Box wird ein System vor der Analyse bezeichnet. Struktur und Verhalten sind unbekannt. In zwei Phasen wird über die Analyse das Modell gebildet.
In der ersten Phase der Analyse werden Beobachtungsvariable (Input-/Outputvariable) definiert und in historischen oder neuen Beobachtungsdaten Korrelationen und Verhaltensregelmäßigkeiten festgestelllt.
Daraus werden in einer zweiten Phase Hypothesen, Theorien über das Black-Box-System entwickelt und dann auch Modelle konstruiert, die das System erklären sollen.
„Charakteristisch für die Black-Box-Methode ist darüber hinaus, daß sie immer wieder auf das betrachtete System angewendet werden soll“19. Es geht um die iterative Verbesserung des Modells und der damit verbundenen Verbesserung des Verständnisses des Systems.
Wichtig ist bei dieser Vorgangsweise, dass über eine Außensicht das Verhalten des Systems beschrieben wird und man die Modelle bis hin zu einer ausreichenden Genauigkeit verfeinert. Ein System erklären heißt, sein Verhalten nachzubilden und nicht darüber nachzudenken, was es – in einem philosophischen Sinn – ist.
Wenn man nicht auf Details einzelner formaler Methoden in der Informatik eingeht, was in diesem Zusammenhang nicht möglich ist, dann beschreibt dieses Zusammenspiel von Systemanalyse über die Außensicht und Daten, sowie Modellbildung die Methoden der bzw. die weit verbreitete methodische Grundhaltung in der Informatik auch heute noch. So können auch die iterativen Phasen der Black-Box-Methode problemlos mit der abstrakten Struktur des Trainings von machine learning-Systemen in Verbindung gebracht werden. Es geht um die Nachbildung von in Daten abgebildetem Verhalten, Wissen, ... „Machine learning is concerned with fitting models to data using various algorithms.“20
Diese methodische Grundhaltung trug sehr stark zur Effizienz und auch zum Erfolg der Informatik bei. Wenn hier teilweise sehr alte Literatur zitiert wird, dann auch, um den methodischen Gegensatz der klassischen Methoden der Informatik zur im Hauptthema postulierten neuen Methode der RI deutlich zu machen.
Wie sehr die Black-Box-Methode und die Idee, über eine Außensicht ein System zu definieren, die Methode der Informatik beeinflusst, erkennt man, wenn man an der funktionalen Intelligenz-Definition von Turing. Der Artikel21, in dem er den Turing-Test (The Imitation Game) als Ersatz für eine Definition von Intelligenz vorschlägt, beginnt so:
„I propose to consider the question, ‚Can machines think?‘ This should begin with definitions of the meaning of the terms ‚machine‘ and ‚think.‘ The definitions might be framed so as to reflect so far as possible the normal use of the words, but this attitude is dangerous. If the meaning of the words ‚machine‘ and ‚think‘ are to be found by examining how they are commonly used it is difficult to escape the conclusion that the meaning and the answer to the question, ‚Can machines think?‘ is to be sought in a statistical survey such as a Gallup poll. But this is absurd. Instead of attempting such a definition I shall replace the question by another, which is closely related to it and is expressed in relatively unambiguous words.“
Deutlich erkennbar ist die Weigerung, ja das grundsätzliche Infragestellen der Sinnhaftigkeit der Diskussion der Bedeutung von Begriffen. Statt einer inhaltlichen Diskussion wird ein Test, in dem ein Objekt, dessen Intelligenz getestet werden soll, mit einem als intelligent definiertem Dritten – einem Menschen – verglichen wird. Kann dieses Objekt jenen erfolgreich imitieren, dann ist es intelligent.
In diesem Fall ist der Begriff Intelligenz bzw. das Objekt, das auf Intelligenz hin untersucht wird, ein Black-Box-System. In der Außensicht wird eine Korrelation zwischen dem Untersuchungsgegenstand und dem als intelligent vorausgesetzten Menschen hergestellt.
Diese Argumentation von Turing und seine Weigerung, sich mit typischen Begriffsinhalten auseinanderzusetzen, ist aus Sicht der RI bemerkenswert, da dies ein typischer Inhalt juristischer Argumentation ist. In vielen Entscheidungen Sätze zu finden wie:
„Nach dem bautechnischen Sprachgebrauch (vgl. etwa Dietmar Grütze, Bau-Lexikon, S 137) liegt eine Instandsetzung vor, wenn ...“ 22
oder
„In diesem Sinne wird auch in Bauwörterbüchern (so in Frommhold/Gareiß, Bauwörterbuch 2 (1978) 1; Grütze, Bau-Lexikon (2007) 8, und Wormuth/Schneider, Baulexikon 3 (2016) 1) unter einem Abbruch …“ 23
Verbunden mit der Modellbildung ist auch eine Vereinfachung, denn „all models are approximations“. Häufig werden diese Vereinfachungen auch in Hinblick auf die zur Verfügung stehenden formalen Methoden vorgenommen. Diese Vorgangsweise ist effizient und sinnvoll, so lange man das Modell nicht mit der Wirklichkeit gleichsetzt.
2.2.
RI als Realwissenschaft ^
Der Forschungsgegenstand von Realwissenschaften sind reale Sachverhalte iSv beobachtbaren Phänomenen. „Real existierend“ wird in diesem Zusammenhang als Abgrenzungsmerkmal zu Formalwissenschaften wie Mathematik, die abstrakte Konzepte zum Gegenstand haben, verwendet. Dieses Abgrenzungsmerkmal ist natürlich stark vereinfacht und die Grenze zwischen Real- und Formalwissenschaften ist fließend. Insbesondere in der Informatik und damit auch in der RI ist dies der Fall, wenn abstrakte (= formalwissenschaftliche) Konzepte in konkreten Anwendungen umgesetzt werden.
2.3.
Integrationswissenschaft ^
Mit Integrationswissenschaft24 bezeichnet man Wissenschaftsdisziplinen, die sich aus mehreren Teilbereichen zusammensetzen und die Methoden und Forschungsinhalte anderer Disziplinen als „Hilfswissenschaften“ für ihren Gegenstand integrieren.
Die RI ist insoweit Integrationswissenschaft, als sie z.B. die Rechtswissenschaft als Hilfswissenschaft nutzt, um Informationen über den Forschungsgegenstand Recht(ssystem) zu erhalten.
2.4.
Ingenieurs- und Handlungswissenschaft ^
Vielfach werden unter Wissenschaft nur beobachtende, aber nicht gestaltende Tätigkeiten verstanden. Ein Beispiel dafür ist die für Strukturwissenschaften zentrale Black-Box-Methode.
Es gibt aber auch Disziplinen, für die häufig im Zusammenhang mit Technik eine praktische Anwendung und Umsetzung von Wissen von zentraler Bedeutung ist. Verbunden damit ist ein gestaltender Eingriff in den Forschungsgegenstand oder zumindest die Bereitstellung von Wissen, um diese Eingriffe zu unterstützen bzw. zu begleiten.
Häufig werden diese Wissenschaften unter dem Begriff Ingenieurswissenschaften oder – inzwischen nicht mehr üblich – angewandte Wissenschaften zusammengefasst. Da diese Wissenschaften Handlungen anleiten und beeinflussen sollen, wird auch von Handlungswissenschaften gesprochen.
Der Begriff der Handlungswissenschaften ist aber nicht nur auf die technischen Wissenschaften beschränkt. So beschreibt Neumann auch eine umstrittene Interpretation der Rechtswissenschaften als Handlungswissenschaften, denn in einzelnen Funktionen „zielt die rechtswissenschaftliche Tätigkeit auf die Beeinflussung gesellschaftlichen Handelns; Rechtswissenschaft ist insofern Handlungswissenschaft“25.
Für die Informatik liegt diese Einordnung nahe, da ja mit der Entwicklung und dem Einsatz von Informationssystemen immer auch Veränderungen der Realität verbunden sind.
So wird auch in der Wirtschaftsinformatik zwischen einem verhaltensorientierten und einem gestaltungsorientierten Ansatz unterschieden26. Während der verhaltensorientierte Ansatz sich auf die Formulierung von Theorien über Zusammenhänge und deren empirische Überprüfung beschränkt, ist ein Ziel eines gestaltungsorientierten Ansatzes die Erarbeitung konkreter Lösungen, die einen Nutzen stiften. „Die Ergebnisse dieses Ansatzes sind Artefakte (das heisst Konzepte, Modelle, Methoden und Systeme – Instanziierungen), welche erstellt und evaluiert werden.“27
Für die Rechtsinformatik gilt das gleiche. Auch in dieser Disziplin kann ein gestaltungsorientierter Ansatz verbunden mit dem Anspruch, Nutzen zu stiften, verfolgt werden.
3.
Und juristische Methodenwissenschaft? ^
Bei den beschriebenen Wissenschaftskategorien fehlt die Methodenwissenschaft, die das eigentliche Thema dieser Arbeit ist. Dies deshalb, da es sich dabei anscheinend um keine gebräuchliche Wissenschaftskategorie handelt. Oben wurden die juristische Methodenwissenschaft als Wissenschaft, deren Gegenstand die juristischen Methoden sind, also eine Art Metawissenschaft zur Rechtswissenschaft, definiert. Der Call for Papers für die IRI§23 ist zur Aufgabe der Rechtsinformatik zu lesen: „Die Rechtsinformatik lebt und das Potential zur Verbesserung der juristischen Methodik ist enorm, aber ungenutzt.“
Es kann daraus geschlossen werden, dass hier ein gestaltungsorientierter Ansatz vertreten wird, der bewusst die Methoden der Informatik einsetzt, um im Rechtssystem Nutzern zu stiften. Mit diesem Ansatz wird die rein beobachtende, strukturwissenschaftliche Methode erweitert.
Gleichzeitig stellen sich dann natürlich neue Fragen für das Selbstverständnis der RI und das Verhältnis zu den Rechtswissenschaften.
Genauso wie im Augenblick die Rechtswissenschaften Hilfswissenschaften für die RI sind, ist dann in Zukunft die RI eine Hilfswissenschaft für die Rechtswissenschaften. Denn letztlich können nur die Rechtswissenschaften entscheiden, was Nutzen für sie bedeutet und welche technischen und methodischen Hilfestellungen genutzt werden sollen.
4.
Literatur ^
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- 1 https://iris-conferences.eu/iris23_22-25feb23 (aufgerufen 15.11.2022).
- 2 Herberger, Maximilian, Rechtsinformatik: Anmerkungen zum Verständnis von Fach und Forschungsgebiet.
- 3 Reisinger, Leo, Strukturwissenschaftliche Grundlagen der Rechtsinformatik, S. 21: „Der Terminus ‚Strukturwissenschaften‘ ist Oberbegriff zu ‚Formalwissenschaften‘ und ‚Querschnittswissenschaften‘; Ziel dieser Disziplinen ist die Erforschung von Strukturen, unabhängig von der dabei verwendeten Sprache.“
- 4 Hoeren, Thomas/Bohne, Michael, Rechtsinformatik – Von der mathematischen Strukturtheorie zur Integrationsdisziplin, S. 34.
- 5 Ebenda.
- 6 Vgl. Hoeren, Thomas, Von Judge Judy zum Beck-Blog: Die Rechtswissenschaft der Berliner Republik im medialen Wandel, S. 226.
- 7 So zuletzt im IRI§22 Zoom Conference Space der Roundtable „Was ist Rechtsinformatik?“ am 20.01.2022 (https://iris-conferences.eu/was-ist-rechtsinformatik-do-20-01-22 [aufgerufen am 30.10.2022]).
- 8 So z.B. Kilian, Wolfgang, Idee und Wirklichkeit der Rechtsinformatik in Deutschland; Peters, Falk, Rechtsinformatik – Plädoyer für eine der digitalen Welt angemessene Rechtskultur.
- 9 Hoeren, Thomas, Von Judge Judy zum Beck-Blog: Die Rechtswissenschaft der Berliner Republik im medialen Wandel, S. 226.
- 10 Kaufmann, Arthur, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik, 9. Auflage, S. 1.
- 11 Dass sich die RI die Anerkennung als eigenständige Disziplin erarbeiten musste zeigt die 5. Auflage von Kaufmann, Arthur, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik, 5. Auflage, S. 12 FN 22. Dort wird festgestellt: „Problematisch ist, ob man auch noch die Rechtsinformatik (elektronische Datenverarbeitung im Recht) zur Rechtsphilosophie zählen kann; sie hat sich in jüngster Zeit sehr stark verselbständigt.“ (Hervorhebung im Original.) In späteren Auflagen ist diese Anmerkung nicht mehr zu finden.
- 12 Einen oberflächlichen und leider auch nicht vollständigen Überblick über die Vielfalt der möglichen Einordnungen kann man aber auf Wikipedia in der Übersichtseite zum Thema „Wissenschaftskategorie“ finden: https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Wissenschaftskategorie (aufgerufen 15.11.2022).
- 13 Reisinger, Leo, Strukturwissenschaftliche Grundlagen der Rechtsinformatik, S. 21.
- 14 Auch bei Reisinger, Leo, Strukturwissenschaftliche Grundlagen der Rechtsinformatik, S. 19, ist die klassische Unterscheidung in theoretische, technische und praktische Informatik zu finden.
- 15 Reisinger, Leo, Rechtsinformatik.
- 16 Reisinger, Leo, Rechtsinformatik, S. 70.
- 17 Box, George E. P./Draper, Norman R., Empirical model-building and response surfaces, S. 424.
- 18 Reisinger, Leo, Rechtsinformatik, S. 64.
- 19 Reisinger, Leo, Rechtsinformatik, S. 64.
- 20 Murphy, Kevin P., Probabilistic Machine Learning, S. 19.
- 21 Turing, Alan M., Computing Machinery and Intelligence.
- 22 VwGH Ra 2021/06/0232, ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021060232.L00.
- 23 VwGH Ro 2018/05/0007, ECLI:AT:VWGH:2019:RO2018050007.J00.
- 24 Vgl. das Kapitel Verwaltungslehre als Integrationswissenschaft in Wimmer, Norbert, Dynamische Verwaltungslehre, S. 65.
- 25 Neumann, Ulf, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, S. 361.
- 26 Mommsen, Dona/Portmann, Edy, Gestaltungs- und praxisorientierte Promotionsarbeiten im Spannungsfeld zwischen Anwendung und Forschung, S. 14ff. Siehe auch Portmann, Edy/Risch Daniel, Was ist „Wirtschaftsinformatik in Action“?.
- 27 Ebenda.