I.
Ausgangsüberlegungen ^
Das Hauptthema der IRIS 2023 lautet: „Rechtsinformatik als juristische Methodenwissenschaft“1. Diese Thematik ist erkennbar offen für eine Vielzahl von Fragestellungen. Dies beweist bereits ein kurzer Überblick über die Beiträge in der Festschrift für Erich Schweighofer, International Trends in Legal Informatics aus dem Jahre 2020.2
Als ein Kerngeschäft der Rechtsinformatik wird hier in Anlehnung an Herberger3 die IT-basierte Optimierung rechtlicher Handlungsfelder zugrunde gelegt. Nicht näher vertieft werden dabei Abgrenzungsfragen zum Begriff des „Legal Tech“ bzw. „Legal Technology“.4 Dieses Begriffspaar spielt insbesondere im Zusammenhang mit der Umgestaltung des Rechtsdienstleistungsmarktes eine besondere Rolle. Nach Ansicht von Steinrötter/Warmuth ist die Legal-Tech-Bewegung sehr deutlich von der Praxis geprägt, während die Rechtsinformatik sich vorrangig auch mit rechtstheoretischen Implikationen befasste und insbesondere im universitären Bereich betrieben wurde.5 Die Auffassung der Autoren, das Fach Rechtsinformatik selbst gelte inzwischen als tot (dortige Rn. 6), wird jedoch – wie der vorliegende Beitrag zeigt – nicht geteilt.
Aus dem hier gewählten Ansatz – Rechtsinformatik als IT-basierte Optimierung rechtlicher Handlungsfelder – ergeben sich eine Vielzahl von Ausgangsüberlegungen für die hier skizzierte Fragestellung. Einige Aspekte dazu sollen im Folgenden etwas näher erörtert werden, und zwar vorrangig aus der spezifischen Perspektive der Gerichte.6
Zwar gehört auch die Anwaltschaft zum Kernbestand einer rechtsstaatlichen Verfahrenskonzeption. Dies beweisen bereits die Bestimmungen über den Anwaltszwang gemäß § 78 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO). Gemäß § 78 Abs. 1 S. 1 ZPO müssen sich Parteien vor den Landgerichten und Oberlandesgerichten durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen. Gleiches gilt gemäß § 78 Abs. 1 S. 3 ZPO auch für Verfahren vor dem Bundesgerichtshof.
Die Zentrierung der Überlegungen zunächst auf eine Ebene – hier die Ebene der Gerichte – erscheint jedoch aus inhaltlichen Gründen sachgerecht. So gibt es z.B. ein verfassungsrechtlich abgesichertes Recht auf den gesetzlichen Richter.7 Diese Vorgabe kann erkennbar zu Grundsatzfragen beim Einsatz von Technik auf der gerichtlichen Entscheidungsebene führen.8 Vergleichbare Vorgaben für die Anwaltschaft bestehen insoweit nicht.
Wichtig für die Differenzierung „Gericht/Anwaltschaft“ sind insbesondere auch die faktischen Ausgangsbedingungen der jeweiligen Berufsbilder. So muss die Anwaltschaft als selbstständiger Rechtsdienstleister schon aus Konkurrenzgründen deutlich kostenbewusster arbeiten, als dies normalerweise bei Gerichten der Fall ist. Kostenminimierung durch Einsatz von künstlicher Intelligenz im weitesten Sinn ist daher gerade für die Anwaltschaft ein aktuelles Thema. Diese Fragen werden in einem neueren Beitrag von Kau9 näher erörtert. Bezeichnend ist dabei auch der Untertitel „Existenzbedrohung oder willkommene Entlastung?“, der sich jedenfalls mit Blick auf das Stichwort Existenzbedrohung für die Gerichte so nicht stellt. Ausweislich Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Zudem besteht organisatorisch ein weiterer nicht unwesentlicher Unterschied zwischen Gericht und Anwaltschaft. Die Anwaltschaft entscheidet selbst darüber, was genau an Technik angeschafft werden soll. Das ist bei den einzelnen richterlichen Spruchkörpern jedenfalls nicht immer der Fall.
Die in der Überschrift skizzierte Fragestellung ist erkennbar offen für eine Vielzahl von Gesichtspunkten. Einige Aspekte dazu sollen im Folgenden etwas näher erörtert werden.
(1) So kann von einem optimierten rechtlichen Handlungsfeld nur dort gesprochen werden, wo das Recht nach dem Einsatz von Technik auch unter rechtlichen Zielvorstellungen besser dasteht als vorher.
Dies kann z.B. dann bejaht werden, wenn durch den Einsatz von Technik das Recht schneller abgewickelt werden kann. Es gilt der allgemeine Gedanke: Nur schnelles Recht ist typischerweise auch gutes Recht, jedenfalls dann, wenn die inhaltliche Qualität auch weiterhin gewährleistet ist.
(2) Unter dem Aspekt „Beschleunigung des Verfahrens“ erscheint ein weiterer Gesichtspunkt erwähnenswert: Es wird erwartet, dass sich Gerichte bei den Entscheidungen auch mit einschlägiger Literatur und insbesondere auch mit obergerichtlicher Rechtsprechung befassen. Insofern kann festgestellt werden, dass zwischenzeitlich das früher übliche persönliche Aufsuchen von Bibliotheken nicht mehr nötig ist. Es gibt inzwischen digital zugängliche Datenbanken wie z.B. juris, die mit regelmäßig aktualisierten Nachweisen – wenn auch gegen Entgelt – werben.
(3) Andererseits zeigen sich auch ohne tiefergehende Analyse insoweit bereits Nebenwirkungen der umfassenden digitalen Erreichbarkeit von juristischen Quellen. Während früher die in der Standardliteratur zitierten Nachweise ausreichten, wird jetzt die Berücksichtigung neuester Entwicklungen in Literatur und Rechtsprechung erwartet.
(4) Zudem kann der allgemeine Einsatz von Technik bei Erstellung von juristischen Schriftsätzen auch zu Problemen auf der Gerichtsebene führen, die ohne Technikeinsatz so nicht entstanden wären. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der sogenannte Dieselskandal in Deutschland, bei dem es um die von dem Hersteller ausgehende Manipulation an zahlreichen PKW geht. 11 Im November 2020 waren ca. 51.000 Klagen gegen VW und Audi anhängig, weitere 9.000 gegen Daimler und 1.100 gegen BMW. Tausende von neuen Klagen sind durch spezialisierte Anwaltskanzleien und Prozessfinanzierer bereits angekündigt. Insoweit wird zwischenzeitlich bereits von einer „Klageindustrie“ gesprochen. Das hat u.a. dazu geführt, dass sich Gerichte oftmals durch Hunderte von Schriftsatzseiten arbeiten müssen, die von den Prozessbevollmächtigten auf der Grundlage unterschiedlicher Entscheidungen zusammengestellt wurden (Copy-und-paste). Dabei war nicht nur der Umfang der Schriftsätze ein Problem für die Justiz. Teilweise fehlte auch der Bezug zum zu entscheidenden Einzelfall. Der Deutsche Richterbund hat deshalb im Oktober 2021 eine Arbeitsgemeinschaft „Massenverfahren“ gegründet. Mit Datum vom 13.5.2022 hat die Arbeitsgemeinschaft konkrete Vorschläge zur Bewältigung von Massenverfahren durch die Justiz vorgestellt. Dazu gehören z.B. die Beschränkung des Instanzenzuges in Massenverfahren auf eine Tatsacheninstanz sowie Vorgaben für den strukturierten Parteivortrag, um selbst die Vorteile technischer Unterstützung auf Gerichtsseite nutzen zu können. 12 Für den vorliegenden Zusammenhang – Einsatz von Technik zur Beschleunigung von Verfahren – bleibt der Aspekt, dass Technik im Einzelfall auch dysfunktionale Entwicklungen und zusätzlichen von der Sache her unnötigen Arbeitsaufwand bei Gericht hervorrufen kann.
III.
Anmerkungen zu den Kernbedingungen des Rechts ^
Im Rahmen der Digitalisierung der Justiz müssen auch weiterhin die tragenden Grundpfeiler des Rechts erhalten bleiben.
(1) Zu den Kernbedingungen gehören die Erklärbarkeit und Erklärung richterlicher Entscheidungen. Dies ergibt sich formal insbesondere aus den absoluten Revisionsgründen des § 547 ZPO. Danach ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht mit Gründen versehen ist (§ 547 Nr. 6 ZPO). Eine fehlende Begründung hätte auch Auswirkungen auf das Öffentlichkeitsprinzip, das ausweislich § 547 Nr. 5 ZPO ebenfalls als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist. Die Öffnung der Justiz für die Öffentlichkeit ist ein zentrales Prinzip des Verfahrensrechts. Es steht in einem Funktionszusammenhang mit den Maximen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit und dient insbesondere dem Vertrauen der Allgemeinheit in die dritte Gewalt. 13 Ohne nachvollziehbare Begründung einer Entscheidung verliert auch das Öffentlichkeitsprinzip seine zentrale gesellschaftliche Funktion.
(2) Auf der Grundlage des Ansatzes, dass das Recht verständlich vermittelt werden muss, ergeben sich weitere inhaltliche Folgerungen. So muss bei der Digitalisierung allgemein die Frage gestellt werden, ob ein entsprechender Einsatz von Technik mit den rechtlichen Grundlagen insgesamt vereinbar ist. Insoweit zeigt sich eine durchaus komplexe Ausgangslage. Zum einen ist zunächst das nationale Recht zu beachten, zum anderen kommt insbesondere den rechtlichen Vorgaben auf europäischer Ebene (vgl. dazu näher Kapitel V des vorliegenden Beitrags) eine wachsende Bedeutung zu.
Im bundesdeutschen Recht sind vorrangig die einschlägigen prozessualen Normen zu berücksichtigen. Diese müssen aber ihrerseits wiederum mit Blick auf das Grundgesetz ausgelegt werden. So muss ausweislich Art. 103 Abs. 1 GG das Prinzip des rechtlichen Gehörs gewahrt werden. Gleiches gilt gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG für das Recht auf den gesetzlichen Richter. Dass damit im Ansatz an sich eine natürliche Person mit bestimmten Ausbildungsvoraussetzungen gemeint ist, ergibt sich aus § 5 Abs. 1 des Deutschen Richtergesetzes (DRiG).
(3) In diesem Zusammenhang wird bereits ein weiterer Aspekt deutlich. Es wird zu Recht diagnostiziert, dass auch das Verfassungsrecht selbst sich in der Digitalisierung neu bewähren muss. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, IT-Grundrecht, Antidiskriminierung und staatliche Schutzpflichten bilden hierbei das inhaltliche Fundament. 14 Diese Grundsätze müssen auch bei der Neugestaltung von Prozessordnungen ihre Leitfunktion behalten.
Daraus ergeben sich weitere ins Gewicht fallende methodische und inhaltliche Herausforderungen. Wenn die inhaltlichen Achsen selbst erst neu konkretisiert werden müssen, kann nicht erwartet werden, dass die notwendige Überprüfung bzw. ggfs. notwendige Umgestaltung des Prozessrechts mit Blick auf neue Digitalisierungsstrategien reibungslos umgesetzt werden kann.
Bereits die bisher skizzierten Überlegungen machen deutlich, dass deshalb auch die Justiz ein Interesse daran haben sollte, im Rahmen der Digitalisierung nicht nur auf gesetzliche Vorgaben zu warten. Daher kann auch nicht überraschen, dass von der Richterschaft selbst entsprechende Stellungnahmen mit konkreten Vorschlägen erarbeitet wurden.
So wurde im Mai 2022 ein Grundlagenpapier mit dem Titel „Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz“ vorgestellt. Darin sind als zentrale Gliederungspunkte ausgewiesen:
A) Begriffsbestimmung sowie technische Möglichkeiten, Grenzen und Entwicklungspotentiale
B) Rechtliche und ethische Anforderungen sowie Grenzen des Einsatzes künstlicher Intelligenz
C) Mögliche Einsatzgebiete von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz
D) Gesamtbewertung und Handlungsempfehlungen
Bereits die bloße Aufzählung verdeutlicht jedenfalls ansatzweise den Umfang und die Richtung der Gesichtspunkte, die beim hier gewählten Thema – Anforderungen des Rechts an die Rechtsinformatik – Bedeutung erlangen können. Auch in den Einzelaussagen ist das Grundlagenpapier durchaus konkret. So geht es in den hier im Vordergrund stehenden rechtlichen Aspekten davon aus, dass unter dem Gesichtspunkt des Art. 92 GG – danach ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut – und Art. 103 GG eine Vollautomatisierung ausscheidet.16 Die deutsche ZPO kennt jedoch bereits im Mahnverfahren (§§ 688 ff. ZPO) die Möglichkeit einer maschinellen Bearbeitung. In § 689 Abs. 1 S. 2 ZPO ist sogar ausdrücklich festgehalten, dass eine maschinelle Bearbeitung zulässig ist. Dieses Verfahren kann auch ohne Weiteres zu einem rechtskräftigen Titel führen, wenn der Antragsgegner nicht rechtzeitig Widerspruch erhoben hat (§ 699 Abs. 1 S. 1 ZPO). Dies bedeutet im Ergebnis, dass auch rechtskräftige Titel im Zivilprozess ohne Einschaltung eines Richters geschaffen werden können. Richtig ist zwar, dass die Einzelperson nicht nur Objekt des Verfahrens sein darf. Sie muss auch Rechtssubjekt bleiben und daher Einfluss auf das Verfahrensergebnis haben.17 Gemäß § 307 ZPO ist jedoch auch der freie Wille einer Partei zu berücksichtigen. Erkennt eine Partei den gegen sie geltend gemachten Anspruch ganz oder zum Teil an, so ist sie dem Anerkenntnis gemäß zu verurteilen. Aus § 307 ZPO ergibt sich damit eine gewisse Verfahrensautonomie der Parteien.
Im Übrigen schränkt auch das Grundlagenpapier im Zusammenhang mit dem automatisierten gerichtlichen Mahnverfahren seine relativ starr wirkende Ausgangsthese selbst wiederum ein. Auf S. 41 des Grundlagenpapiers wird zwar ausgeführt, dass der Kernbereich der richterlichen und rechtsprechenden Tätigkeit, der regelmäßig durch wertende Entscheidungen gekennzeichnet ist, durch algorithmische Systeme nicht ersetzt werden kann.
Dann folgt jedoch der Hinweis: Dies schließt eine Entscheidung des Gesetzgebers nicht aus, Randbereiche aus dem Aufgabenbereich von Richterinnen und Richtern auszunehmen. Das automatisierte gerichtliche Mahnverfahren, das es bereits seit 1982 gibt, ist ein Beispiel für einen solchen Bereich.
1.
Allgemeine Ausgangsüberlegungen ^
Daneben muss bei der Frage, welches Recht in Zeiten der Digitalisierung berücksichtigt werden muss, vermehrt auch die europäische Ebene im Blick behalten werden.
Angesichts der Komplexität der damit verbundenen Aspekte beschränken sich die Anmerkungen hier auf einige allgemeine Ausgangsüberlegungen. So wächst bei der Umsetzung der Digitalisierung erkennbar auch die Bedeutung von Datenschutz und IT-Sicherheit. Bei derartigen Fragen spielt z.B. die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) eine zentrale Rolle.
2.
Anmerkungen zum Konzept einer europäischen KI-Verordnung ^
Verstärkt ins Rampenlicht rückt insbesondere der Entwurf der Europäischen Kommission für ein KI-Gesetz, jetziger Stand 21.4.2021, der auch auf bundesdeutscher Ebene bereits intensiv diskutiert wird.18 Allein der Umfang der zuvor skizzierten Literaturnachweise lässt die grundsätzliche Bedeutung erahnen, die dem Kommissionsentwurf auch für das hier gewählte Thema auf bundesdeutscher Ebene zukommen kann.
Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich zunächst – nur – um einen Entwurf handelt, mit dem sich das Europäische Parlament und der Europäische Rat noch näher befassen werden.19 Art. 85 Abs. 2 dieses Entwurfes sieht zudem eine Übergangszeit von 24 Monaten nach Inkrafttreten vor. Vor dem Jahr 2025 kann daher mit einer Geltung der KI-Verordnung nicht gerechnet werden. Die folgenden Überlegungen beschränken sich deshalb auf einige Aspekte, die auch für den hier gewählten Ausgangspunkt praktische Bedeutung erlangen können. So soll Europa „das globale Zentrum für vertrauenswürdige künstliche Intelligenz (KI)“20 werden. Dabei soll die KI-Verordnung auch Rechtssicherheit schaffen, um Investitionen im Bereich der KI zu erleichtern. Zentral für das hier gewählte Thema ist insbesondere der Hinweis auf Art. 13 – Transparency. Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass viele KI-Systeme derzeit noch nicht in der Lage sind, Entscheidungen nachvollziehbar zu begründen.21 Insoweit wird auf das Forschungsfeld der Explainable AI (XAI) hingewiesen. Dies ist ein Aspekt, der für die hier skizzierten rechtlichen Ausgangspunkte – Notwendigkeit der Erklärung rechtlicher Entscheidungen – erkennbar eine zentrale Rolle spielen kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Einsatz von KI-Systemen in der Rechtspflege z.B. bei Anwendung der Rechtsvorschriften auf konkrete Sachverhalte (Annex III, Nr. 8) als Hochrisiko-KI-System eingestuft wird.
1.
Methodische und inhaltliche Gesichtspunkte ^
Bei dieser Thematik kann an die Anmerkungen zu den Kernbedingungen des Rechts (Kapitel III des vorliegenden Beitrags) angeknüpft werden. Ein wesentliches Ergebnis der Analyse war, dass die zentralen inhaltlichen Achsen – z.B. die Vorgaben des Grundgesetzes – in Zeiten der Digitalisierung zunächst erst selbst neu konkretisiert bzw. entwickelt werden müssen. Wichtig ist im Kontext des vorliegenden Beitrags deshalb auch der allgemeine konzeptionelle Hintergrund des auf europäischer Ebene geplanten Rechtsrahmens. So hat die damalige Kommissionspräsidentin bereits im Juli 2019 angekündigt, Rechtsvorschriften mit einem koordinierten europäischen Konzept für die menschlichen und ethischen Aspekte vorzuschlagen.22 Mit den Vorgaben „Berücksichtigung der menschlichen und ethischen Aspekte beim Einsatz von KI“ werden Ausgangsgesichtspunkte genannt, die in Zeiten des digitalen Umbruchs methodisch und inhaltlich jedenfalls hilfreich sein können.
Dies soll im Folgenden etwas näher verdeutlicht werden, und zwar mit Blick auf drei aktuell diskutierte Themenbereiche:
(1) Fragen der Richterethik in Deutschland
(2) Erleichterung von Klagen von KI-Opfern durch die EU
(3) Fallstudie: Digitale Klagewege
Zu (1): Anmerkungen zu Fragen der Richterethik in Deutschland
Der Deutsche Richterbund hat im Jahre 2018 ein Thesenpapier zum Thema „Richterethik in Deutschland“ vorgestellt.23 Dabei wurde u.a. – zu Recht – der Aspekt betont, dass richterliche Tätigkeit weitgehend externer Kontrolle entzogen ist.24 Richter sind jedoch auch in besonderer Weise Repräsentanten des Rechtsstaats.25 Insoweit haben sie auch eine Verantwortung dafür, dass das notwendige Vertrauen der Zivilgesellschaft in der Rechtspraxis erhalten und gestärkt wird.26 Im Zusammenhang mit dem hier betonten Aspekt der Menschlichkeit wird angemerkt, dass der Richter mit großer Macht ausgestattet ist.27 Er hat es mit Menschen zu tun, die zudem von seinen Entscheidungen maßgeblich beeinflusst werden können.28 Unter dem Aspekt Transparenz wird betont, dass Richter öfters auch das Informationsbedürfnis von Medien und Öffentlichkeit am Ausgang eines Verfahrens berücksichtigen müssen. Sie dürfen dies jedoch nicht zur Selbstdarstellung nutzen.29
Zu (2): Anmerkungen zur Erleichterung von Klagen von KI-Opfern durch die EU
In der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 22.9.202230 bzw. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 23.9.202231 finden sich die Schlagzeilen: „EU will Opfer künstlicher Intelligenz besser schützen“ (SZ) bzw. „EU will Klagen von KI-Opfern erleichtern“ (FAZ). Es könnte die Frage gestellt werden, warum diese Aspekte im Zusammenhang mit dem hier betonten menschenzentrierten Ansatz in der Justiz erwähnt werden. Die Antwort ergibt sich mit Blick auf den allgemein zunehmenden Einsatz von künstlicher Intelligenz in allen gesellschaftlichen Bereichen. Als Bezugspunkt wird in der Süddeutschen Zeitung der Fall genannt, dass die Software einer Bank einen Kunden fälschlicherweise für nicht kreditwürdig erklärt hat, nachdem der Mitarbeiter das Programm falsch bedient hat. Um einen Fehler der Bank nachweisen zu können, muss der Kunde aber typischerweise auch die notwendigen Informationen über den technischen Ablauf in der Bank selbst haben. Daher gibt es auf europäischer Ebene Bestrebungen, generell die Beweislast umzukehren.32 Im zuvor genannten Fall müsste dann die Bank nachweisen, dass ihre KI fehlerfrei gearbeitet hat, um sich von der Haftung zu befreien. Zudem will die Europäische Kommission Anbieter verpflichten, offenzulegen, wie ihre KI genau funktioniert. Dies sind Probleme, die allgemein mit dem Einsatz von KI im gesellschaftlichen Leben verbunden sind. Damit ist es auch ein Problemfeld, das bei dem spezifischen Einsatz von KI in der Justiz mitbedacht werden muss.
Zu (3): Anmerkungen zur Fallstudie: Digitale Klagewege33
Bei dieser Fallstudie aus November 2021 handelt es sich um eine Kooperation des Tech4Germany Fellowship 2021 mit dem BMJV34. Von Interesse ist die Studie deshalb, weil darin allgemeine Aspekte bei der Digitalisierung des Rechts sichtbar werden. So geht die Studie davon aus, dass die Bürger sich durch das Rechtssystem grundsätzlich gut geschützt fühlen. Wegen der Komplexität des Systems verzichten jedoch viele darauf, kleinere Ansprüche durchzusetzen. In diesem Zusammenhang wird unter Hinweis auf die Quelle Roland Rechtsreport 2020, Seite 24 darauf hingewiesen, dass typischerweise erst ab einem Betrag von 1.840 Euro eine Klage vor Gericht in Erwägung gezogen wird.35 Im Roland Rechtsreport 202036 wird u.a. die Einstellung der Bevölkerung zum deutschen Justizsystem und zur außergerichtlichen Konfliktlösung abgefragt. Im Ergebnis wird dort ein relativ hohes Maß an Vertrauen in die Gerichte (65 Prozent) festgestellt.37
Gleichzeitig wird aber auch in der Fallstudie „Digitale Klagewege“ betont, dass private Rechtsdienstleister einen Bedarf für leicht zugängliche, digitale Rechtszugänge gezeigt haben.38 Diese Rechtsdienstleister nehmen den Bürgern den Aufwand eines Rechtsstreits ab und behalten im Erfolgsfall einen Teil der geltend gemachten Entschädigung. Ausweislich der Studie hat allein der Anbieter Flightright nach eigenen Angaben bereits 350 Millionen Euro an Entschädigungen nach der EU-Fluggastrechteverordnung geltend gemacht.
Nach unserer Auffassung ist das Recht typischerweise eine wichtige Waffe des sozial Schwächeren. Deshalb sollte sich auch der Staat die Frage stellen, wie er einen niedrigschwelligen Zugang zur Justiz schaffen kann. Leichter und effektiver Zugang zum Recht ist an sich eine elementare Aufgabe eines modernen Staates.
VII.
Zusammenfassung und Ausblick ^
Der Beitrag orientiert sich im Ausgangspunkt am Hauptthema der IRIS 2023: Rechtsinformatik als juristische Methodenwissenschaft. Als Kern der Rechtsinformatik wird dabei in Anlehnung an Herberger die IT-basierte Optimierung rechtlicher Handlungsfelder zugrunde gelegt.
Vor diesem Hintergrund wird die Frage erörtert, was dies inhaltlich und methodisch insbesondere für die Ziviljustiz bedeuten kann.
Bei dieser Zentrierung auf die gerichtliche Ebene werden spezifische Fragen mit Blick auf die Anwaltschaft nicht näher erörtert. Dies erscheint sachgerecht, da die zu beachtenden rechtlichen Grundlagen insoweit unterschiedlich sein können. So darf ausweislich Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Dies ist ein Gesichtspunkt, der im Rahmen der Digitalisierungsdiskussion durchaus Bedeutung erlangen kann. Vergleichbare Vorgaben gibt es für die Anwaltschaft in dieser Form nicht.
Berücksichtigt wurde auch, dass das allgemeine Thema „Recht und Technik“ bereits seit Jahren zum Kern der IRIS gehört. Dennoch erscheint eine erneute Bestandsaufnahme mit Blick auf die Justiz sinnvoll. So zeigt die hier vorgelegte Analyse, dass auch die Richterschaft selbst sich verstärkt in Grundlagenpapieren zu Fragen der zunehmenden Digitalisierung äußert. Dies gilt z.B. für das Grundlagenpapier „Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz“39. Dies kann an sich nicht überraschen. Denn ein Ergebnis der Überlegungen war, dass auch das Recht im Rahmen der Digitalisierung seine inhaltlichen Achsen neu konkretisieren muss. Zudem war zu berücksichtigen, dass auf europäischer Ebene – insbesondere mit Blick auf den Entwurf einer europäischen KI-Verordnung – neue Vorgaben zu erwarten sind, die das nationale Recht nachhaltig beeinflussen können.
Bestätigt hat sich der Grundgedanke, dass gerade bei einem vermehrten Einsatz von technischen Möglichkeiten im Recht das Konzept eines menschenzentrierten Ansatzes und damit auch ethische Gesichtspunkte40 einen hohen Stellenwert haben müssen. Menschlichkeit bedeutet dabei nicht nur, den Menschen zu verstehen.
Zentral muss auch das Bemühen sein, von ihm verstanden zu werden.41 Dies geht nur über den Einsatz der natürlichen Sprache. Insoweit muss auch die „Informatikkomponente“ im Rahmen der Rechtsinformatik sensibilisiert werden. Auf längere Sicht werden digitale Konzepte benötigt, die nicht nur ein rechtliches Analyseergebnis verkünden, sondern gleichzeitig auch flächendeckend eine nachvollziehbare Begründung dafür anbieten.
- 1 https://iris-conferences.eu/iris23_22-25feb23, zuletzt eingesehen am 27.10.2022.
- 2 Herausgegeben von Hötzendorfer/Tschohl/Kummer, Bern 2020.
- 3 Vgl. dazu näher Herberger, „Künstliche Intelligenz“ und Recht – ein Orientierungsversuch, NJW 2018, 2825 ff.
- 4 Stamenov, Rechtsinformatik und Legal Tech, Tagungsbericht, MMR-aktuell 2020, 433995.
- 5 Vgl. dazu und zum Folgenden Steinrötter/Warmuth, Handbuch Multimedia-Recht, Werkstand 58. EL, März 2022, Rn. 5–7.
- 6 Die Überlegungen orientieren sich dabei inhaltlich am bundesdeutschen Zivilprozess.
- 7 Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (im Folgenden als GG abgekürzt).
- 8 Grundlagenpapier zur 74. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs vom 23.–25. Mai 2022 in Rostock, abrufbar unter https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nuernberg/einsatz_von_ki_und_algorithmischen_systemen_in_der_justiz.pdf, zuletzt eingesehen am 27.10.2022 – bezüglich der näheren Einzelheiten wird auf Kapitel IV des vorliegenden Beitrags verwiesen.
- 9 Vgl. Kau, Der Aufstieg von Artificial Intelligence (AI) und seine Auswirkungen auf die Rechtsanwaltschaft, CR 2021, 498 ff.
- 10 Vgl. Fn. 3.
- 11 Vgl. dazu und zum Folgenden näher Jacob, Dieselskandal und Hilfsspruchkörper – die Justiz zwischen Kollaps und Verfassungsverstoß, NJW 2021, 2708 ff.
- 12 Abschlusspapier der AG Massenverfahren „Initiativstellungnahme des Deutschen Richterbundes zur besseren Bewältigung von Massenverfahren in der Justiz“, Nr. 1/22, Mai 2022, abrufbar unter https://www.drb.de/fileadmin/DRB/pdf/Stellungnahmen/2022/DRB_220513_Stn_Nr_1_Massenverfahren.pdf, S. 3, 4, zuletzt eingesehen am 27.10.2022.
- 13 Pabst, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2022, § 169 GVG (Gerichtsverfassungsgesetz), Rn. 1, 2.
- 14 Vgl. dazu näher Härtel, Digitalisierung im Lichte des Verfassungsrechts – Algorithmen, Predictive Policing, autonomes Fahren, LKV 2019, 49 ff.
- 15 Grundlagenpapier (Fn. 8).
- 16 Vgl. dazu Grundlagenpapier (Fn. 8), S. 13 unter c).
- 17 Vgl. dazu Grundlagenpapier (Fn. 8), S. 14.
- 18 Vgl. dazu näher Sesing/Tschech, AGG und KI-VO-Entwurf beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz – Einschätzung aus der Perspektive des (Anti-)Diskriminierungsrechts, MMR 2022, 24 ff.; Bomhard/Merkle, Europäische KI-Verordnung – Der aktuelle Kommissionsentwurf und praktische Auswirkungen, RDi 2021, 276 ff.; Ebers u.a., Der Entwurf für eine EU-KI-Verordnung: Richtige Richtung mit Optimierungsbedarf – Eine kritische Bewertung durch Mitglieder der Robotics & AI Law Society (RAILS), RDi 2021, 528 ff.; Ebers, Standardisierung Künstlicher Intelligenz und KI-Verordnungsvorschlag, RDi 2021, 588 ff.
- 19 Dazu und zum Folgenden Bomhard/Merkle (Fn. 18), RDi 2021, 283.
- 20 Vgl. dazu und zum Folgenden Bomhard/Merkle (Fn. 18), RDi 2021, 276/277.
- 21 Bomhard/Merkle (Fn. 18), RDi 2021, 280.
- 22 Dazu näher Unger, Grundfragen eines neuen europäischen Rechtsrahmens für KI, ZRP 2020, 234.
- 23 Thesenpapier „Richterethik in Deutschland“, herausgegeben vom Deutschen Richterbund, Berlin 2018, abrufbar unter https://www.drb.de/fileadmin/DRB/pdf/Ethik/1901_DRB-Broschuere_Richterethik_in_Deutschland.pdf, zuletzt eingesehen am 27.10.2022.
- 24 Richterethik in Deutschland (Fn. 23), S. 7.
- 25 Richterethik in Deutschland (Fn. 23), S. 9.
- 26 Richterethik in Deutschland (Fn. 23), S. 11.
- 27 Richterethik in Deutschland (Fn. 23), S. 15.
- 28 Richterethik in Deutschland (Fn. 23), S. 15.
- 29 Richterethik in Deutschland (Fn. 23), S. 21.
- 30 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ai-ki-haftung-schadenersatz-liability-eu-richtlinie-1.5662209, zuletzt eingesehen am 27.10.2022.
- 31 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eu-will-klagen-von-ki-opfern-erleichtern-18335724.html, zuletzt eingesehen am 27.10.2022.
- 32 Zu diesem Konzept einer Richtlinie über KI-Haftung näher Europäische Kommission, Fragen und Antworten: Richtlinie über KI-Haftung, 28. September 2022, Brüssel, abrufbar unter https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/QANDA_22_5793, zuletzt eingesehen am 27.10.2022.
- 33 Die Fallstudie ist abrufbar unter https://tech.4germany.org/wp-content/uploads/2021/11/Fallstudie-Digitale-Klagewege-Tech4Germany-2021.pdf, zuletzt eingesehen am 27.10.2022.
- 34 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz.
- 35 Fallstudie (Fn. 33), S. 2, Fn. 1.
- 36 Abrufbar unter https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/IfD/sonstige_pdfs/ROLAND_Rechtsreport_2020.pdf, zuletzt eingesehen am 27.10.2022.
- 37 ROLAND Rechtsreport (Fn. 36), S. 7.
- 38 Vgl. dazu und zum Folgenden Fallstudie (Fn. 33), S. 2.
- 39 Vgl. dazu näher Kapitel IV des vorliegenden Beitrags.
- 40 Vgl. dazu näher auch Winkelmann, Entscheidungsfindung durch künstliche Intelligenz in der Justiz, LTZ 2022, 163 ff. (168).
- 41 Vgl. dazu Richterethik in Deutschland (Fn. 23), S. 15.