Jusletter IT

Von Legal Design Thinking bis Virtual Reality

Aktuelle Trends der Rechtsvisualisierung

  • Authors: Bettina Mielke / Christian Wolff
  • Category of articles: Rechtsvisualisierung & Legal Design
  • Field of law: Rechtsvisualisierung & Legal Design
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2024
  • DOI: 10.38023/25066e96-996f-4e85-a8ba-d34410f6a0c9
  • Citation: Bettina Mielke / Christian Wolff, Von Legal Design Thinking bis Virtual Reality, in: Jusletter IT 28 March 2024
Mehrere aktuelle Trends, die derzeit auf ihren Einsatz im Rechtswesen hin diskutiert werden, haben eine starke visuelle Ausrichtung. Zu nennen sind hier Legal Design Thinking, generative Künstliche Intelligenz (KI) und Virtual Reality (VR). Nachfolgend stellen wir diese Bereiche sowie ihre künftigen Anwendungsmöglichkeiten im Rechtswesen vor.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einführung
  • 2. Legal Design Thinking
  • 3. Generative KI
  • 4. Virtual Reality
  • 5. Fazit und Ausblick

1.

Einführung ^

[1]

Seit vielen Jahren ist Rechtsvisualisierung im weitesten Sinn ein Thema der Rechtsinformatik und beispielsweise auf dem Salzburger Rechtsinformatik-Symposion IRIS praktisch von Anfang an vertreten.1 Auch das Vorliegen einer ersten systematischen Literaturanalyse zum Legal Design,2 in der Rechtsvisualisierung sowohl als Forschungsthema sui generis als auch als wesentliche Methode z. B. im Kontext partizipatorischer Herangehensweisen an rechtliche Gestaltungprobleme diskutiert wird, deutet daraufhin, dass das Thema mittlerweile Teil des rechtsinformatischen Forschungskanons geworden ist. Erfreulich ist dabei, dass in dieser Studie mehrere prominente Autorinnen des IRIS die Auswertung (mit-)prägen, Colette Brunschwig und Helena Haapio. Vor dem Hintergrund der rasanten technischen Entwicklung in den Bereichen Künstliche Intelligenz (deep learning, large language models) einerseits und visual computing andererseits (virtual / augmented reality, Metaverse) stellen wir aktuelle Entwicklungen im Rechtswesen vor, die diese Trends diskutieren bzw. aufgreifen. Neben den zwei technologischen Schwerpunkten diskutieren wir zudem das oben bereits angesprochene methodische Feld des Legal Design Thinking und die Rolle der Visualisierung in diesem Bereich.

[2]

Die Auswahl der drei Schwerpunkte erfolgte einerseits auf der Basis einer langjährigen Auseinandersetzung mit den Themen Informations- und Rechtsvisualisierung, mit Virtual Reality als einer der Schlüsseltechnologien der Digitalisierung allgemein und im Rechtswesen sowie einer intensiven Auseinandersetzung mit Innovationsmethoden wie (Legal) Design Thinking in Forschung und Lehre. Zur besseren Einordnung der Themenfelder haben wir Trefferzahlen in zwei einschlägigen fachübergreifenden bibliographischen Datenbanken ermittelt, Clarivate Web of Science und Google Scholar. Unsere drei recht spezifischen Themen kontextualisieren wir dabei jeweils durch Oberbegriffe (design thinking, virtual reality) sowie allgemeine Themen der Rechtswissenschaft (z. B. litigation).

Suchbegriff3 Google Scholar Web of Science
constitutional law 623.000 3.811
civil law 933.000 1.411
litigation 1.560.000 17.491
design thinking 223.000 1.832
legal design 10.600 69
legal design thinking 170 -
image generation AI 47.000 101
(legal or law) image generation AI 3.150 2
(ALL=(AI) AND ALL=(„image generation“) and ALL=(legal OR law))
virtual reality 1.820.000 35.789
(legal or Law) virtual reality 122.000 502
ALL=(„virtual reality“) AND ALL=
(legal OR law)

Tabelle 1: Trefferzahlen zu den drei Themenfeldern, auch im Vergleich mit allgemeinen Konzepten des Rechtswesens

[3]

Die Zahlen zeigen erhebliche Unterschiede zwischen den drei Themenfeldern: Während die Auseinandersetzung mit Virtual Reality bereits eine lange Tradition aufweist und entsprechend viel Literatur nachweisbar ist, finden sich zu Legal Design bzw. Legal Design Thinking in Google Scholar um eine bzw. zwei Größenordnungen weniger Fundstellen; das noch ganz junge Thema der Bildgenerierung ist noch deutlich weniger stark nachgewiesen, zudem betreffen die meisten Artikel rechtliche Fragen der Bildgenerierung (insbesondere urheberrechtliche Fragen) und nicht die Möglichkeiten, mit Werkzeugen der KI-gestützten Bildgenerierung Rechtsvisualisierungen zu erzeugen.4 Zur Kontextualisierung wurden auch Recherchen mit den juristischen Konzepten constitutional law, civil law und litigation in die Tabelle aufgenommen.

2.

Legal Design Thinking ^

[4]

Beim Design Thinking und der Anwendung dieser Methoden auf den Rechtsbereich, dem Legal Design Thinking, handelt es sich um eine Innovationsmethode, die im juristischen Kontext nicht nur hinsichtlich der Entwicklung von Legal Tech-Tools, sondern beispielsweise auch bei der Gestaltung von Rechtsdienstleitungen oder Rechtstexten eingesetzt werden kann. Die Hinwendung zur Nutzerzentrierung und daraus abgeleitete Innovationsmethoden wie Design Thinking5 einerseits, die stärkere Rolle von Visualisierungen andererseits werden auf das Rechtswesen übertragen und eröffnen neue Gestaltungsperspektiven („Denken für die Nutzer“6).

[5]

Design Thinking steht auf mehreren Säulen. Neben der Nutzerzentriertheit sind die multidisziplinäre Herangehensweise sowie die schnelle Schaffung von anschaulichen Ergebnissen besonders wichtig. Dabei liegt auf der Hand, dass visuelle Komponenten eine große Rolle spielen. So können durch den „Einsatz von Designtechniken wie der visuellen Kommunikation“ juristische Informationen und Prozesse für juristische Laien leichter verständlich gemacht werden.7

[6]

Bekannte Anwendungsbeispiele sind die Gestaltung von Arbeitsverträgen oder Datenschutzerklärungen.8 Gerade letztere werden als viel zu lang und umständlich angesehen.9 Insoweit könnte der Einsatz von sog. Privacy Icons helfen, also Piktogramme, die oftmals die v. a. auf Juristen zugeschnittenen Texte in Datenschutzerklärungen veranschaulichen und damit zu mehr Transparenz führen können.10 Durch Icons kann für die Lesenden schneller zu erkennen sein, wo welche Informationen zu finden sind, und damit die Navigation im Text erleichtert werden. Auch wird angenommen, dass Bilder schneller und einfacher vom menschlichen Gehirn wahrgenommen werden und daher Texte, die Bilder enthalten, im Gegensatz zu Dokumenten, die keine Visualisierungen nutzen, eher gelesen werden. Dies kann die Bereitschaft erhöhen, sich mit einer Datenschutzerklärung auseinanderzusetzen. Als Voraussetzung für die Entfaltung der Wirkung von Privacy Icons wird ein häufiger und einheitlicher Einsatz angesehen, um ein gemeinsames Verständnis über deren Aussagekraft auszubilden.11

[7]

Denkbar ist zudem, die Methode des Legal Design zur besseren Verständlichkeit bei Gerichtsentscheidungen einzusetzen.12 Dabei kann erwogen werden, durch visuelle Hilfsmittel wie Symbole, Zeitleisten, Diagramme, Farbschemata oder typografische Mittel wie Schriftgröße, Verwendung von Leerraum oder Hervorhebungstechniken zu einer erhöhten Benutzerfreundlichkeit beizutragen.13 Grundsätzlich soll die Entscheidung möglichst nicht verändert werden, sondern lediglich durch Bullet-Points, Einfärben oder Fettdrucken von Satzteilen das Wichtige/Entscheidende hervorgehoben werden.14

[8]

Man kann damit festhalten, dass Legal Design als Methode eine stark visuelle Komponente hat, um schneller zum besseren Verständnis der damit gestalteten Produkte zu kommen, und gleichzeitig Visualisierungen als Gestaltungselemente einen hohen Stellenwert haben. Wesentlich ist, dass die juristisch-fachliche Perspektive mit der der Gestaltungswissenschaft und ihren stark visuell geprägten Entwicklungsmethoden zusammengebracht wird. Visuell geprägt sind dabei die Methoden des (Legal) Design Thinking sowie ggf. deren Ergebnisse. Projekte können allerdings auch Themen wie z. B. Prozessoptimierung und juristische Workflows zum Gegenstand haben, bei denen das eigentliche Gestaltungsergebnis nicht visueller Natur ist.15

3.

Generative KI ^

[9]

Nicht nur auf der Basis von Text werden große KI-Modelle trainiert. Auch Bildgeneratoren wie DALL-E 316, Midjourney17 oder Stable Diffusion18 bzw. deren Integration in Standardsoftware wie Adobe Photoshop19 und andere Kreativprogramme kommen für einen Einsatz im Rechtswesen in Betracht, die Integration von Bildgeneratoren in KI-Chatbots wie ChatGPT (PLUS) ist kürzlich hinzugekommen.20 Grundsätzlich sind diese Systeme in der Lage, beliebigen Text zu visualisieren, wobei ähnlich wie bei den Sprachmodellen i. e. S. über die Ausgestaltung der Prompts der Darstellungsprozess gesteuert werden kann. Offensichtlich bietet sich hier ein neues und entwicklungsfähiges Anwendungsfeld für Rechtsvisualisierung, sei es, dass zur medialen Illustration Bildmaterial als „schmückendes Beiwerk“ z. B. für eine Präsentation benötigt wird, sei es, dass die Visualisierung gezielt zur Verbesserung von Lernprozessen bzw. der Wissensvermittlung entwickelt wird. Bisher existieren nur wenige praktische Studien zur Nutzung generativer KI für die Visualisierung im Rechtswesen. Die wenigen Aufsätze, die man z. B. im Web of Science findet, adressieren eher rechtliche Probleme.21 Ähnlich wie bereits von ChatGPT bekannt, ist die Gestaltung der Prompts für die Bildgenerierung entscheidend (prompt engineering). Zwar kann man praktisch beliebige Texte visualisieren lassen, ohne präzise Anweisungen zur gestalterischen Vorgehensweise werden aber kaum relevante Ergebnisse zu erreichen sein. Neben dem Einsatz zur Veranschaulichung von Rechtstexten hinaus sind weitere Anwendungsgebiete denkbar. In der Anhörung der Sachverständigen im Landtag in Nordrhein-Westfalen zum Einsatz von ChatGPT im Justizbereich wurde neben vielen anderen Einsatzszenarien22 die Möglichkeit genannt, Sachverhalte zu visualisieren23 oder Dokumentinhalte tabellarisch aufzuarbeiten24.

[10]

Auf der Basis der Integration des Bildgenerators DALL-E3 in ChatGPT folgt eine Exploration zu den Möglichkeiten der KI-Bildgenerierung im Rechtswesen. Dabei haben wir unterschiedliche Fragestellungen entwickelt und Prompts in mehreren Schritten inhaltlich und strukturell weiterentwickelt:25

Prompt (mit Variationen) Output ChatGPT 4 / Dall-E Bildbeispiel
Stelle die Prüfsystematik für Ansprüche aus unerlaubter Handlung nach § 823 Abs. 1 BGB in einem Schaubild dar.
Variationen: Deutsche Beschriftungen angefordert, einfache visuelle Gestaltung
Beschreibender Text, Ausgabe relevanter Prüfungspunkte als Text, Erzeugung eines Schaubilds, Schrift unleserlich, sowohl im Englischen als auch im Deutschen, Bild kaum interpretierbar.
Zu dem nachfolgenden Unfallbericht soll eine Skizze erstellt werden, die das Unfallgeschehen visuell und gut nachvollziehbar darstellt:
„Am Freitagnachmittag, den 14. Februar 2020, ereignete sich an der Bushaltestelle vor der Neustädter Goethe-Gesamtschule gegen 15.30 Uhr ein Autounfall, [...]“
Variationen: Bewegungsverläufe einzeichnen; Position der Unfallbeteiligten kennzeichnen
Bild mit Kurzkommentar, jeweils visuell ansprechende Szene, die die Elemente des Unfallberichts enthält (Schule, Schulbus, Radfahrerin, Auto etc.), zur Visualisierung des Geschehen tragen die Bilder praktisch nichts bei; US-amerikanisch geprägte Bildsprache („gelber Schulbus“), Beschriftungen nicht lesbar, Bild insgesamt kaum interpretierbar.
Stelle in einer Informationsgraphik dar, wie sich das Forschungs- und Anwendungsfeld Legal Tech (Legal Technology) systematisieren lässt.
Variationen: Vorgabe der Systematik nach Oliver Goodenough, Ausgabesprache Deutsch
Jeweils kurzer Beschreibungstext unter affirmativer Wiederholung der Anweisungen aus dem Prompt. Für unterschiedliche Prompts sehr unterschiedlicher gestalterischer Aufbau der Schaubilder. Z. T. erkennbares „Bemühen“, das Stufenmodell von Goodenough (Legal Tech 1.0 – Legal Tech 2.0 – Legal Tech 3.0) visuell erfahrbar zu machen, allerdings mit kontraintuitivem Ergebnis, vgl. dazu das Bild rechts, in dem Stufe 3.0 das Fundament bildet, zwei weitere Stufen darauf aufbauen (ohne Version) und oben Version 1.0 erkennbar ist.

Tabelle 2: Prompts mit Variationen zur Erzeugung von Visualisierungen und jeweils ein Beispielbild

[11]

Das „geheime“ Vokabular von Bildgeneratoren wie DALL-E 3 ist bereits in ersten Studien untersucht worden.26 In den Beispielbildern ist eine grundsätzliche „Nähe“ der erzeugten Zeichenketten zur präferierten Ausgabesprache (Englisch) bzw. zur per Prompt angeforderten Sprache (Deutsch) erkennbar, eine systematische „Übersetzung“ ist aber nicht möglich. Im Ergebnis ist diese Form der Bildgenerierung damit für Anwendungen im sprach- und begriffsfokussierten Rechtswesen eher auf Zwecke der Illustration beschränkt. Leider beherrschen die Bildgeneratoren bisher nur Pixelgraphikformate wie JPEG und PNG, eine Ausgabe als Vektorgraphik, was eine Nachbearbeitung (z. B. zum Austausch der Begriffe) erleichtern würde, ist bisher nicht möglich. Auch die mit ChatGPT mögliche Faktenextraktion aus Text und ihre tabellarische Aufbereitung als Tabelle hat einen visuellen Aspekt. Dies gelingt für einfache Texte mit ChatGPT vergleichsweise gut.27

4.

Virtual Reality ^

[12]

Unter Virtual Reality versteht man eine computergenerierte Wirklichkeit mit Bild und ggf. auch Ton. Eine Vermischung der virtuellen und der physischen Realität wird mixed reality, auch augmented reality genannt.28 Die Übergänge zwischen Realität, ihrer Augmentierung (Ergänzung, Erweiterung) bis hin zur vollständig virtuellen Welt, in die wir als Nutzer eintauchen (immersion) und uns als dort präsent (presence) erleben können, hat Milgram in einem bekannten Aufsatz 1995 als virtuality continuum beschrieben29:

Abbildung 1: Schematische Darstellung des virtuality continuum nach Milgram 1995

[13]

Die mittlerweile kostengünstige Verfügbarkeit von VR-Brillen und die künftig verbesserten Möglichkeiten, augmentierte Realität zu nutzen (Microsoft HoloLens, Apple Vision Pro ab 2024), schaffen eine deutlich niedrigere Eintrittsschwelle für die Nutzung dieser Technologien in neuen Anwendungsfeldern, wozu auch das Rechtswesen gehört. In komplexeren VR-Settings ist bei Nutzung von Motion Tracking in Echtzeit die Integration von Avataren der Nutzer in die VR-Szene möglich, Studien zur sozialen Interaktion in VR gehören allerdings noch der Grundlagenforschung an.

[14]

Ein naheliegender Einsatz von VR im Rechtswesen liegt in der Schaffung eines virtuellen Tatorts. Hierbei wird der Tatort durch 3D-Scanner erfasst, aufbereitet und sichtbar gemacht. Entsprechende Systeme sind bereits im Einsatz. So fertigte das Bayerische Landeskriminalamt im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen einen ehemaligen Wachmann im KZ Auschwitz-Birkenau eine VR-Nachbildung des KZ an.30 Ein weiteres Beispiel sind die sog. Polizisten-Morde von Kusel. Bei der Verhandlung vor dem Landgericht Kaiserslautern wurde ein vom Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz und dem Bundeskriminalamt erstelltes 3D-Modell eingesetzt und dadurch der Tatort begehbar gemacht. Bei der Inaugenscheinnahme trug der Vorsitzende Richter eine VR-Brille, für die anderen Verfahrensbeteiligten, u. a. die weiteren Berufsrichter und die Schöffen, wurde die VR-Darstellung auf eine Leinwand übertragen“.31 Auch aus der Schweiz wird von einer virtuellen Tatortbegehung an einem Schweizer Gericht berichtet.32 Im 3D-Zentrum Zürich konnte eine Kooperation zwischen Forensik und Rechtsmedizin im Bereich Virtual Reality erfolgreich etabliert werden.33

[15]

Heetkamp nennt als Vorteile des VR-Einsatzes u. a. das bessere Verständnis, einen erhöhten Informationsgehalt sowie einen möglichen Effizienz- und insbesondere Zeitgewinn im Vergleich zum Erfassen von komplexen schriftsätzlichen Ausführungen oder umfangreichen Fotodokumentationen. Die virtuelle Begehung einer VR-Szene sei zudem weniger zeitintensiv als ein Ortstermin zur Inaugenscheinnahme.34 Als Nachteil sieht er die hohe Suggestivkraft vom VR aufgrund ihres immersiven Charakters an, wobei noch unklar sei, ob und wie der Einsatz von VR-Technologie die Einlassungen von Verfahrensbeteiligten beeinflusst.35 Dabei sei aber zu bedenken, dass auch Fotos nur eine „subjektive Wahrheit“ darstellen. Eine erste Studie am Beispiel eines fiktiven Tatorts vergleicht die Nutzung von VR mit der Betrachtung von Fotos und arbeitet Unterschiede hinsichtlich der Gedächtnisleistung und der Entscheidungsfindung heraus.36 Ein weiterer Nachteil ist im zeitlichen und technischen Aufwand bei der Erfassung einer Szene als 3D-Scan mit anschließender Überarbeitung einschließlich der damit verbundenen Kosten zu sehen. Trotz fallender Kosten des Technologieeinsatzes bleibt der personelle Aufwand von der Erfassung bis zur Präsentierbarkeit einer Szene erheblich.

[16]

Die Mehrzahl der bisher genannten Beispiele für den Einsatz von VR im Rechtswesen bezieht sich auf Strafverfahren, in denen VR als Technik digitaler Forensik genutzt werden. Heetkamp sieht aber auch zahlreiche Anwendungsfälle im Zivilrecht bzw. Zivilprozess, u. a. die virtuelle Begehung von Örtlichkeiten (etwa bei Verkehrsunfällen, Bau-, Nachbarschafts- oder WEG-Streitigkeiten), allgemein die Möglichkeit zur Rekonstruktion vergangener Ereignisse bzw. Ereignisalternativen bzw. die Darstellung möglicher zukünftiger Handlungsalternativen; letztlich könnte sich VR-Technologie überall dort einsetzen lassen, wo es auf die visuelle Anschauung ankommt, also u. a. bei Arzt- oder Produkthaftungsfällen.37

[17]

Schließlich wird vorgeschlagen, die Gerichtsverhandlung als solche im virtuellen Raum durchzuführen. Eine aktuelle Studie (2022) der Boston Consulting Group in Zusammenarbeit mit der Bucerius Law School und dem Legal Tech Verband Deutschland sieht eine allgemeine Tendenz, Gerichtsverhandlungen ins digitale Medium zu verlagern und erwartet innerhalb von 15 Jahren Verhandlungen in virtueller Realität: „When it is beneficial to the solution of the disputes, hearings will be conducted in virtual reality. This will allow judges and parties to experience relevant details more directly and go beyond possibilities in the physical space.“38 Auch nach Heetkamp scheint „auf den ersten Blick“ ein Einsatz von VR-Technologie zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung gewinnbringend, da dadurch der Eindruck entstehe, dass sich alle Beteiligten tatsächlich in einem Raum befinden. Eventuell könnte Gestik und Mimik im virtuellen Raum einfacher zu erkennen sein als bei der reinen Videoverhandlung.39 Allerdings setze hier die derzeitige Technik Grenzen, da die gegenwärtig verfügbaren VR-Brillen nicht den durch sie verdeckten Teil des Gesichts erfassen und für andere darstellen können. So sieht das Gegenüber in einer VR-Umgebung nicht, wohin der andere schaut. Es werden zudem in der VR-Umgebung regelmäßig nur Avatare – etwa mit einem auf den Avatar projizierten Foto des Nutzers – eingesetzt, dessen Mimik und Augenbewegungen nicht der Mimik und Augenbewegungen des Nutzers entsprechen.40 Selbst wenn sich die Technik hier weiterentwickelt, bleibt in jedem Fall fraglich, ob es dafür tatsächlich Bedarf gibt.41

[18]

Ein weiteres Einsatzszenario ist die juristische Ausbildung, für die es prominente Fürsprecher wie den britischen Legal Tech-Vordenker Susskind gibt. Dieser habe sich dahingehend geäußert, dass bald angehende Juristen „wie Astronauten“ in VR ausgebildet würden.42 Bei Heetkamp finden sich eine Reihe von Beispielen für den experimentellen Einsatz von VR in diesem Bereich (u. a. ein in VR durchgeführter Moot Court). Letztlich sind aber kaum tragfähige Argumente erkennbar, die für eine verstärkte Nutzung von VR über sehr spezifische Anwendungsfälle hinaus in diesem Bereich sprechen.43

[19]

Die Nutzung von Virtual Reality wird als wesentlicher Bestandteil des Metaversum (Metaverse) gesehen, dem sich insbesondere der amerikanische Meta-Konzern (ehemals Facebook) verschrieben hat. Darunter wird folgendes Konzept verstanden: „Ein massiv skaliertes und interoperables Netz von in Echtzeit gerenderten virtuellen 3D-Welten, die von einer praktisch unbegrenzten Anzahl von Nutzern synchron und dauerhaft erlebt werden können, mit einem individuellen Gefühl der Präsenz und mit Kontinuität der Daten, wie Identität, Geschichte, Berechtigungen, Objekte, Kommunikation und Zahlungen“44. Während das Metaverse aus juristischer Perspektive zunehmend intensiv analysiert wird,45 sind praktische Anwendung des Metaverse im Rechtswesen, die über die oben beschriebenen, „einfachen“ VR-Szenarien hinausgehen, bisher nicht bekannt.

5.

Fazit und Ausblick ^

[20]

Auch wenn die in diesem Beitrag beschriebenen Trends im Umfeld der Rechtsvisualisierung in methodischer, technischer und entwicklungsbezogener Hinsicht erkennbar unterschiedlich sind, wird man doch festhalten können, dass in der Gesamtschau ein klarer Zuwachs an Relevanz für die Visualisierung im Recht zu erwarten ist. Aktuelle Projekte im (deutschen) Rechtswesen, sei es das im Auftrag des deutschen Bundesjustizministeriums entwickelte online-Klagetool,46 sei es das aktuell im Reallabor erprobte Projekt eines elektronischen Basisdokuments,47 beziehen sich methodisch zunehmend nicht nur allgemein auf die Grundlagen nutzerzentrierter Gestaltung (User Centered Design), sondern reklamieren explizit, Prinzipien des Legal Design Thinking zu folgen. Ungeachtet der erkennbaren nicht unerheblichen Schwächen der KI-Bildgeneratoren dürften auch diese mittelfristig zu einem wichtigen Arbeitsinstrument werden – vermutlich nicht als Verdrängung von Grafikerinnen und Bildillustratoren, sondern eher als Erweiterung von deren Werkzeugkasten.

  1. 1 Vgl. dazu die thematische Auswertung der ersten 20 Jahre IRIS bei Mielke/Wolff, Trend Mining IRIS: 20 Jahre Entwicklung der Rechtsinformatik. In: Schweighofer/Kummer/Hötzendorfer/Borges (Hrsg.), 20 Jahre IRIS. Tagungsband des 20. Internationalen Rechtsinformatik Symposion IRIS 2017, Österreichische Computer-Gesellschaft (ÖCG), Wien 2017, S. 199 (202) sowie Mielke/Walser Kessel/Wolff, 20 Jahre Rechtsvisualisierung – Bestandsaufnahme und Storytelling. In: Schweighofer/Kummer/Hötzendorfer/Borges (Hrsg.), 20 Jahre IRIS. Tagungsband des 20. Internationalen Rechtsinformatik Symposion IRIS 2017, Österreichische Computer-Gesellschaft (ÖCG), Wien 2017, S. 377. Eine strukturelle Systematisierung zu diesem Thema findet sich bei Čyras/Lachmayer/Lapin, Structural Legal Visualization, INFORMATICA, 2015, 26(2), S. 199–219, DOI: http://dx.doi.org/10.15388/Informatica.2015.45.
  2. 2 Chung/Kim, Systematic Literature Review of Legal Design: Concepts, Processes, and Methods, The Design Journal, 2022, 26, S. 399–416.
  3. 3 Bei den Recherchen wurde bei Mehrwortgruppen wie „legal design thinking“ oder „image generation“ der Zeichenkettenoperator verwendet, um sicherzustellen, dass die Merhwortgruppe in dieser Form gefunden wird.
  4. 4 Eine Ausnahme bildet der Beitrag Fill/Muff, Visualization in the Era of Artificial Intelligence – Experiments for Creating Structural Visualizations by Prompting Large Language Models, Jusletter IT, 29. Juni 2023, DOI: 10.38023/ad948078-108b-4c66-8d61-c2e97e270b31.
  5. 5 Vgl. Brown, Design Thinking, Harvard Business Review, 86(6), 84–92.
  6. 6 Krawietz/Kraetzig, Legal Design Thinking. Denken für die Nutzer, Legal Tribune Online (LTO), 2. August 2021, online: https://www.lto.de/recht/kanzleien-unternehmen/k/legal-design-thinking-unternehmen-rechtsabteilung-innovation-prozesse/, Zugriff 12 / 2023.
  7. 7 Presle, Legal Design: Komplexes einfach machen, 30. Januar 2023, https://fynk.com/de/blog/legal-design-komplexes-einfach-machen/, Zugriff 12 / 2023.
  8. 8 Vgl. De Muro/Imperiale, Legal Design, Giuffè Francis Lefebvre, Mailand 2021, dort Beispiele zu Arbeitsverträgen, S. 98 und Datenschutzerklärungen, S. 123 ff. Zu letzteren auch Maric, Legal Design im Kontext von Datenschutzerklärungen. In: Jusletter IT 20. Juli 2023.
  9. 9 Maric (Fn. 7), Rdnr. 12; siehe auch Seyda/Pfeiffer, Fünf Jahre DS-GVO: Informationsvisualisierung – Quo Vadis?, ZD-Aktuell 2023, 01230.
  10. 10 Maric (Fn. 7), Rdnr. 20.
  11. 11 Maric (Fn. 7), Rdnr. 23.
  12. 12 Osele, Gerichtsurteile neu darstellen – Legal Design Thinking anhand eines Bundesgerichtsurteils. In: Jusletter IT 20. Juli 2023.
  13. 13 Osele (Fn. 11), Rdnr. 28.
  14. 14 Osele (Fn. 11), Rdnr. 42.
  15. 15 Kohlmeier, Legal Design. Die perfekte Kombination aus Recht und Design, LR 2018, online: https://lrz.legal/de/lrz/legal-design, Zugriff 12 / 2023.
  16. 16 Vgl. https://openai.com/dall-e-3, Zugriff 12 / 2023.
  17. 17 Vgl. https://www.midjourney.com/home, Zugriff 12 / 2023.
  18. 18 Vgl. https://stablediffusionweb.com/, Zugriff 12 / 2023.
  19. 19 Adobe Firefly, vgl. https://www.adobe.com/de/sensei/generative-ai/firefly.html, Zugriff 12 / 2023.
  20. 20 Vgl. https://openai.com/blog/dall-e-3-is-now-available-in-chatgpt-plus-and-enterprise, Zugriff 12 / 2023.
  21. 21 Samuelson, Legal Challenges to Generative AI, Part I, Communications of the ACM, 2023, 66, S. 20–23.
  22. 22 Vgl. Mielke/Wolff, Künstliche Intelligenz und Large Language Models in der Rechtsprechung, LRZ – E-Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Digitalisierung, 2023, Rn. 560 ff., online: https://lrz.legal/2023Rn560.
  23. 23 Vgl. Biallaß, Stellungnahme des Deutschen EDV-Gerichtstags e.V. zur Anhörung „Einsatz von ChatGPT im Justizbereich“ im Landtag NRW, 13.6.2023, Stellungnahme 18/575, online: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST18-575.pdf, S. 12; Nink, Stellungnahme zur Anhörung „Einsatz von ChatGPT im Justizbereich“ im Landtag NRW, 13.6.2023, Stellungnahme 18/592, online: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST18-592.pdf, S. 23.
  24. 24 Grabmair, Stellungnahme zur Anhörung „Einsatz von ChatGPT im Justizbereich“ im Landtag NRW, 13.6.2023, Stellungnahme 18/588, online: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST18-588.pdf, S. 3; Schlicht/Heetkamp, Stellungnahme zur Anhörung „Einsatz von ChatGPT im Justizbereich“ im Landtag NRW, 13.6.2023, Stellungnahme 18/574, online: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST18-574.pdf, S. 8.
  25. 25 Aus Platzgründen können Prompts und erzeugte Bilder nicht vollständig wiedergegeben werden. Prompts, Textantworten sowie erzeugte Bilder sind online verfügbar in: Mielke/Wolff, Ausgewählte Prompts zur KI-gestützten Bildgenerierung im Rechtswesen. Arbeitsmaterialie, Universität Regensburg, November 2023, online: https://t1p.de/MielkeWolffMaterialdokumentationVisualisierungKIIRIS2024, Zugriff 12 / 2023.
  26. 26 Vgl. Daras/Dimakis, Discovering the Hidden Vocabulary of DALL E-2, arXiv preprint arXiv:2206.00169 (2022), DOI: 10.48550/arXiv.2206.00169.
  27. 27 Beispiel: Bitte extrahiere die im folgenden Text enthaltenen Fakten und bereite sie in Form einer Tabelle auf: „Heftiger Rückgang bundesweit und in allen Sachgebieten – trotz „Dieselverfahren“ Zunächst untersucht die Studie, welche Verfahren nicht mehr zu Gericht gelangen. Im Untersuchungszeitraum zwischen 2005 und 2019 ging die Anzahl der erstinstanzlichen Verfahren bei den Zivilgerichten um mehr als 600.000 zurück, das entspricht einem Rückgang um 32,5 Prozent. ...“, Textquelle: https://www.lto.de/recht/justiz/j/bmj-studie-erforschung-der-ursachen-des-rueckgangs-der-eingangszahlen-bei-den-zivilgerichten-verfahren-deutschland/.
  28. 28 Grundlegend zu VR vgl. Greengard,Virtual Reality, Cambridge, MA / London, The MIT Press, 2019; Jerald, The VR book: Human-centered Design for Virtual Reality, New York, Association for Computing Machinery, 2016.
  29. 29 Milgram et al., Augmented Reality: A Class of Displays on the Reality-Virtuality Continuum. In: Proceedings of the SPIE, Vol. 2351, Telemanipulator and Telepresence Technologies, Vol. 282 (December 21, 1995); doi:10.1117/12.197321.
  30. 30 Heetkamp, Virtual Reality-Technologie im Zivilverfahren, Master of Laws (LL.M.) „Lawyer and Legal Practice”, Institut für wissenschaftliche Weiterbildung, Fernuniversität Hagen, 2022, DOI: https://doi.org/10.57683/EPUB-2066, S. 34.
  31. 31 Heetkamp (Fn. 30), S. 35.
  32. 32 Vgl. https://vr-room.ch/2021/01/28/virtuelle-tatortsbegehung-feiert-premiere-an-einem-schweizer-gericht/, Zugriff 12 / 2023.
  33. 33 Sieberth/Ebert/Wermuth/Arnold/Dobler, Das 3D-Zentrum Zürich – Eine international einzigartige Zusammenarbeit zwischen Forensik und Rechtsmedizin, Kriminalistik (Unabhängige Zeitschrift für die kriminalistische Wissenschaft und Praxis) 2021, 109–115.
  34. 34 Heetkamp (Fn. 30), S. 37 ff.
  35. 35 Heetkamp (Fn. 30), S. 42 ff.
  36. 36 Reichherzer et al., Bringing the Jury to the Scene of the Crime: Memory and Decision-Making in a Simulated Crime Scene, Proceedings of the 2021 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems, 2021, Article 709, https://doi.org/10.1145/3411764.3445464.
  37. 37 Heetkamp (Fn. 30), S. 44 ff. Vgl. auch das Projekt „The Virtual Court. Reality“ der Johannes-Keppler-Universität in Linz, https://www.youtube.com/watch?v=3AUcSPFG1FM.
  38. 38 Hartung et al., The Future of Digital Justice, Studie, Boston Consulting Group/Bucerius Law School/Legal Tech Association, Juni 2022, online: https://web-assets.bcg.com/3a/4a/66275bf64d92b78b8fabeb3fe705/22-05-31-the-future-of-digital-justice-bls-bcg-web.pdf, S. 20.
  39. 39 Heetkamp (Fn. 30), S. 69.
  40. 40 Heetkamp (Fn. 30), S. 69.
  41. 41 Vgl. dazu Quninke/Wagner/Ebert. In: Wagner/Holm-Hadulla/Ruttloff, Metaverse und Recht, Rdnr. 14: „Fraglich ist allerdings, ob es für eine solche Verhandlung im Metaverse tatsächlich ein anerkennenswertes Bedürfnis geben wird. Der bloße Wunsch Technik-affiner Nutzer, Gerichtsverhandlungen im Metaverse durchzuführen, dürfte dafür kaum genügen.“
  42. 42 Heetkamp (Fn. 30), S. 86.
  43. 43 Heetkamp (Fn. 30), S. 86.
  44. 44 Definition nach Ball, The Metaverse: And How it Will Revolutionize Everything. New York: Liveright Publishing Corporation, a Division of Norton & Company, 2022, S. 8 (übersetzt mit Hilfe von DeepL).
  45. 45 Vgl. Wagner/Holm-Hadulla/Ruttloff (Fn. 41).
  46. 46 Vgl. http://digitalstrategie-deutschland.de/digitale-justiz/, Zugriff 12 / 2023.
  47. 47 Vgl. http://www.basisdokument.de und http://www.parteivortrag.de, Zugriff 12 / 2023.