1.
Vorgeschichte ^
Die Verwendung technischer Hilfsmittel bei Wahlverfahren lässt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen.1 Wahlmaschinen für die Stimmabgabe haben bzw. hatten in einigen Staaten eine jahrzehntelange Tradition.2 Mit der Massenverbreitung des Internets ab der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre und im Sog steigender E-Government-Aktivitäten zahlreicher Staaten wurde die Diskussion um Wahlvorgänge auf elektronischem Weg jedoch auf völlig neue Beine gestellt. Vor rund zehn Jahren waren die Termini «E-Voting» (kurz für «electronic voting») und «I-Voting’3 (für «internet voting») plötzlich in aller Munde4; die Neugierde, Wahlen mit elektronischer Unterstützung oder gar per Internet durchzuführen, beherrschte Wissenschaftler, Politiker und Verwaltungsbedienstete in einem bislang nicht gekannten Ausmaß. Die erste bindende politische Online-Wahl soll im Jahr 2000 in den USA stattgefunden haben.5
Während verschiedene internationale Gremien und Institutionen grundsätzlich für eine nähere Befassung mit E-Voting in Betracht gekommen wären6, war es gerade der Europarat in Straßburg, der sich besonders für die Materie zu interessieren schien.7 2002 gründete er im Rahmen des integrierten Projekts «Making democratic institutions work» (IP 1) eine interdisziplinäre Ad-hoc-Expertengruppe, die sich dem Phänomen der elektronischen Stimmabgabe umfassend widmen sollte. Ihre Arbeit gipfelte am 30. September 2004 in der Annahme einer Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates. 112 konsensual erarbeitete juristische, operationelle und technische Standards bildeten wertvolle Leitlinien in der noch ungeordneten Welt technischer Wahlversuche. Eine eigens verankerte verpflichtende Evaluierung der Empfehlung («Review») nach zwei Jahren wurde am 23. und 24. November 2006 im Rahmen eines intergouvernementales Treffens in Straßburg durchgeführt. Seitdem wurde die «Review-Klausel» alle zwei Jahre erneuert.
2.
Die «Recommendation Rec(2004)11» ^
Bis heute ist die «Rec(2004)11» das einzige internationale Dokument, das sich umfassend und in regulativer Weise mit E-Voting auseinandersetzt.8 Ganz dem Wesen einer Empfehlung entsprechend besteht keine rechtliche Bindung der einzelnen im Europarat vertretenen Nationen; auf Grund des Beschlusses des Ministerkomitees im Jahr 2004 haben jedoch die dort vertretenen Staaten ein grundsätzliches «Commitment» zu ihren Inhalten kundgetan. So ist in der Empfehlung festgehalten, dass bei E-Voting «alle Prinzipien von demokratischen Wahlen und Referenden» zu erfüllen seien und die gleiche Sicherheit und Verlässlichkeit wie bei herkömmlichen Wahlvorgängen zu gewährleisten sei.9 Den Mitgliedstaaten wurde nahe gelegt, ihre Gesetzgebung im Spiegel der «Rec(2004)11» zu überprüfen.10
Eine Dekade nach ihrer Verabschiedung im Ministerkomitee ist die Empfehlung etwas «in die Jahre gekommen». Zahlreiche technische Weiterentwicklungen, sowohl im Bereich heute verwendeter Endgeräte wie Smartphones und Tablet-PCs, als auch im Bereich neuer Sicherheitslösungen wie der «end-to-end verifiability»11, haben fragende Stimmen lauter werden lassen, ob nicht eine Novellierung der Empfehlung angezeigt und realistisch wäre. Die «Rec(2004)11» wurde seit ihrer Verabschiedung wiederholt von Staaten bei Forschungs- und Implementierungsarbeiten als Messlatte und Referenzpapier herangezogen:12 Norwegen gilt als bislang einziger Staat, in dem der Empfehlung ein verbindlicher Rechtscharakter durch die Inkorporierung in das Regelwerk für die Online-Wahlen 2011 und 201313 eingeräumt wurde. Eine Studie der belgischen Verwaltung des Jahres 2007 zur Machbarkeit von E-Voting («BeVoting») zitierte die Empfehlung. In Estland wurde «Rec(2004)11» von höchstgerichtlicher Seite bei der Überprüfung der Rechts- und Verfassungsmäßigkeit von E-Voting herangezogen. Österreich griff bei der Evaluierung und Zertifizierung des Internet-Systems für die Wahl der Österreichischen Hochschülerinnen- und Hochschülerschaft 2009 auf die Empfehlung zurück. In der Schweiz finden sich zahlreiche Grundsätze der Empfehlung in der Gesetzgebung zu «vote électronique» wieder.14 Auch das OSZE-Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) hat in Wahlbeobachtungsberichten immer wieder auf «Rec(2004)11» Bezug genommen und stellt in seinem 2013 erschienen Handbuch zur «Observation of New Voting Technologies» die Verbindung zur E-Voting-Empfehlung her.15
Schon 2004, bei der Festsetzung einer ersten «Review» der Empfehlung nach zwei Jahren, war der E-Voting-Arbeitsgruppe des Europarates bewusst, dass die Zukunft und die zu erwartenden technischen Innovationen nicht verschlafen werden dürfen. 2005 startete der Europarat daher im Rahmen des Projekts «Good Governance in the Information Society» ein Folgeprojekt zur Behandlung von E-Voting, das 2010 mit der Veröffentlichung von zwei die Empfehlung ergänzenden Richtlinien («Guidelines on certification» sowie «Guidelines on transparency») abgeschlossen wurde.16 Beim «Council of Europe’s Forum for the Future of Democracy» am 16. Oktober 2008 in Madrid, beim «Third Review Meeting» am 16. und 17. November 2010 in Straßburg und beim «Fourth Review Meeting» am 11. Juli 2012 in Bregenz wurde – im Licht der steigenden E-Voting-Erfahrungen verschiedener Staaten – die «Rec(2004)11» durchleuchtet. 2012 kamen die anwesenden Staatenvertreter zu dem Schluss, dass die Empfehlung einige aktuelle Probleme nicht ausreichend behandle und zwischen Text und erläuternden Bemerkungen einzelne Ungereimtheiten zu verzeichnen seien. Zudem halte die Empfehlung mit manchen technischen Entwicklungen nicht mehr Schritt und unterscheide zu wenig zwischen der elektronischen Stimmabgabe im Wahllokal und via Internet. Es erging daher der Vorschlag an das Ministerkomitee, die Empfehlung in formeller Weise zu aktualisieren (»… the representatives of Member States […] agreed to recommend that the 2004 Committee of Ministers» Recommendation […] should be formally updated.»).17
3.
Expertentreffen in Wien ^
Bei der Entstehung der «Recommendation» als solider Richtschnur für elektronische Wahlen gilt Österreich bis heute als aktive Kraft; gleich mehrere Bundesministerien18 waren eingebunden und stellten Vertreter in Fachausschüssen und der Arbeitsgruppe. Aufgrund des österreichischen Vorsitzes im Europarat von November 2013 bis Mai 2014 ergriff Österreich daher erneut die Initiative, die Arbeiten an einer Weiterentwicklung bzw. allfälligen Überarbeitung der Empfehlung voranzutreiben.
Das Bundesministerium für Inneres sprach gegenüber dem Sekretariat des Europarates die Einladung aus, ein informelles Expertentreffen zu E-Voting in Wien zu organisieren. Ein erstes Angebot zur Abhaltung einer nicht-offiziellen Evaluierungssitzung in Wien hatte Österreich bereits beim «Fourth Review Meeting» am 11. Juli 2012 in Bregenz deponiert.19 Nachdem im Europarat seit 2010 kein eigenes Projekt für Angelegenheiten des E-Voting mehr besteht, wurde die Materie in der Linienorganisation dem «Directorate of Democratic Governance» unter dem Dach des «Directorate General of Democracy» zugeordnet. Als koordinierende Organisationseinheit für das Expertentreffen in Wien und die «Review» im Jahr 2014 fungiert die «Division of Electoral Assistance and Census».
Das «Informal meeting of experts» am Sitz des Bundesministeriums für Inneres in Wien wurde für den 19. Dezember 2013 festgesetzt. Im Vorfeld gab die «Division of Electoral Assistance and Census» des Europarates eine Studie in Auftrag, die neben einem Statusbericht zur Umsetzung der Empfehlung in den Mitgliedstaaten auch Argumente für oder gegen die Notwendigkeit einer Aktualisierung der «Rec(2004)11» sammeln sollte. Mit dem Verfassen der Studie wurde Ardita Driza Maurer, LL.M., unabhängige juristische Konsulentin und ehemalige Mitarbeiterin des E-Voting-Teams der Schweizer Bundeskanzlei, betraut.20 Am Treffen in Wien nahmen schließlich knapp 50 Personen aus rund 12 Nationen teil; beinahe alle maßgeblich mit E-Voting befassten Staaten waren anwesend. Die Moderation der Sitzung übernahm Dr. Michael Remmert, der ehemalige Projektleiter für E-Voting beim Europarat.
4.
Update – ja oder nein? ^
5.
Ausblick ^
Obgleich der «E-Voting-Hype» der frühen 2000er-Jahre zuletzt einen gewissen Einbruch verzeichnet hat21, liegen unbestrittener Maßen verschiedene internationale Praxisbeispiele22 vor, die zeigen, dass E-Voting nicht nur im Wahllokal, sondern auch über das Internet grundsätzlich machbar ist.23 Inwieweit ein Staat solche «voting channels» öffnen möchte, ist in erster Linie eine politische Entscheidung. Dass in Zeiten einer immer stärkeren Durchdringung aller Lebensbereiche durch den Computer und das Internet auch Wahlen und andere partizipative Entscheidungsprozesse auf Dauer nicht ausgenommen bleiben können, gilt in Fachkreisen schon lange als erwiesen.
Wählen via Internet erscheint zwar in Ländern mit vielfältigen Alternativmöglichkeiten, die Stimme abzugeben, derzeit zum Teil noch wenig attraktiv (so können etwa über vorgezogene Wahltage oder die Briefwahl schon heute Wählerinnen und Wähler ihre Stimme abgeben, wenn sie am Wahltag verhindert sein sollten); von der Ermöglichung einer Online-Wahl konnten aber u.a. länger im (oft entlegenen) Ausland befindliche Personen oder Menschen mit Behinderung profitieren. Die Verwendung von Maschinen in Wahllokalen ist insbesondere in Ländern mit komplexen Wahlsystem nach wie vor von Relevanz; so hat etwa Belgien nach einer gewissen Auszeit einen neuen Anlauf zum Einsatz von Computern am Sitz der Wahlbehörden genommen.24 Ein weiteres Einsatzgebiet für neue Technologien lässt sich im verstärkten Einsatz von Stimmzettel-Scannern beobachten, die die herkömmliche Stimmabgabe auf Papier mit einem beschleunigten Auszählungs-Modus verbinden können.25 Dieser Trend wird von der derzeitigen Europarats-Empfehlung nicht erfasst.
Gregor Wenda
Stv. Leiter der Abteilung für Wahlangelegenheiten, Bundesministerium für Inneres (BM.I), Republik Österreich, Abteilung III/6
Herrengasse 7, 1014 Wien, AT
- 1 Vgl. Krimmer, The Evolution of E-Voting: How and Why Voting Technology is used, Tallinn University of Technology Thesis (2012) 18 f.
- 2 So wurden etwa in den Niederlanden die Wahlmaschinen, die seit 1965 flächendeckend in Wahllokalen in Gebrauch gewesen waren, nach Betrugsverdachtsfällen 2007 außer Betrieb genommen (vgl. Loeber, E-Voting in the Netherlands; from General Acceptance to General Doubt in Two Years, in Krimmer/Grimm [Hrsg], 3rd international Conference on Electronic Voting 2008, Proceedings [2008] 21).
- 3 Nach dem der Terminus «I-Voting» eine Zeitlang zugunsten des alle elektronisch unterstützten Wahlvorgänge betreffenden Ausdrucks «E-Voting» an Bedeutung verlor (vgl. Stein/Wenda, E-Voting in Österreich, SIAK-Journal 3/2005, 3), findet er sich inzwischen wieder verstärkt in der Literatur sowie der Praxis einzelner Staaten, etwa in Estland (http://www.vvk.ee/voting-methods-in-estonia/engindex/ [28. Januar 2014]).
- 4 Vgl .u.a. Buchsbaum, Aktuelle Entwicklungen zu E-Voting in Europa, JRP 2004, 106; Grabenwarter, Briefwahl und E-Voting: Rechtsvergleichende Aspekte und europarechtliche Rahmenbedingungen, JRP 2004, 70; Stein/Wenda, E-Voting in Österreich, SIAK-Journal 3/2005, 3.
- 5 Vgl. Barrat i Esteve/Goldsmith/Turner, International Experience with E-Voting, Norwegian E-Vote Project, IFES Study (2012) 1.
- 6 So etwa die Europäische Union, die jedoch kaum Akzente in diesem Bereich gesetzt hat. Zu den wenigen nennenswerten Veranstaltungen im letzten Jahrzehnt gehörte das «eDemocracy Seminar» der Europäischen Kommission, das sich am 12. Februar 2004 in Brüssel ausführlicher mit E-Voting-Aktivitäten in Europa beschäftigte. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat in den letzten Jahren gemeinsam mit dem Europarat Grundlagen zur Beobachtung von «neuen Wahltechnologien» entwickelt, die 2013 in einem Handbuch ihren Niederschlag gefunden haben (vgl. OSZE, Handbook for the Observation of New Voting Technologies [2013] 8).
- 7 S. dazu ausführlich Wenda, «Good Governance in the Information Society» – Der Europarat und E-Voting, in Schweighofer/Kummer (Hrsg.), Europäische Projektkultur als Beitrag zur Rationalisierung des Rechts, Tagungsband des 14. Internationalen Rechtsinformatik-Symposions IRIS 2011 (2011) 293 ff.
-
8
Der vollständige Text der Empfehlung «Rec(2004)11» ist über die Website des Europarates abrufbar: http://www.coe.int/t/dgap/democracy/activities/ggis/e-voting/
key_documents/Rec(2004)11_Eng_Evoting_and_Expl_Memo_en.pdf (28, Januar 2014) - 9 Vgl. Rec(2004)11, Präambel, i.
- 10 Vgl. Rec(2004)11, Präambel, iii.
- 11 Diese «E2E»-Lösungsansätze, die eine Nachverfolgbarkeit der Stimmabgabe gewährleisten sollen, wurden erstmals 2010 eingehend in Fachkreisen vorgestellt.
- 12 Zu den folgenden Beispielen siehe ausführlich Maurer, Report on the possible update of the Council of Europe Recommendation Rec(2004)11 on legal, operational and technical standards for e-voting, 29. November 2013, 12 f.
- 13 Es handelte sich um nicht verbindliche Pilotversuche (vgl. http://www.regjeringen.no/en/dep/kmd/prosjekter/e-vote-trial.html?id=597658 [28. Januar 2014]).
- 14 Zu E-Voting in der Schweiz vgl. insb. http://www.bk.admin.ch/themen/pore/evoting/ (28. Januar 2014).
- 15 Vgl. OSZE, Handbook for the Observation of New Voting Technologies (2013) 8.
- 16 Vgl. Wenda, «Good Governance in the Information Society» – Der Europarat und E-Voting, in Schweighofer/Kummer (Hrsg.), Europäische Projektkultur als Beitrag zur Rationalisierung des Rechts, Tagungsband des 14. Internationalen Rechtsinformatik-Symposions IRIS 2011 (2011) 293 ff.
- 17 Vgl. den Bericht des «Fourth Review Meeting» vom 4. Juni 2013, DGII/Inf(2013)06, 5.
- 18 Das Bundesministerium für Inneres, das Bundeskanzleramt und das damalige Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten.
- 19 Vgl. den Bericht des «Fourth Review Meeting» vom 4. Juni 2013, DGII/Inf(2013)06, 5 (»… it should be noted that a number of member states represented at the review meeting [including Austria, which will hold the Chairmanship of the Committee of Ministers from November 2013 to May 2014] might be willing to consider making some extra-budgetary voluntary contributions to facilitate and expedite this work.»)
- 20 Vgl. Maurer, Report on the possible update of the Council of Europe Recommendation Rec(2004)11 on legal, operational and technical standards for e-voting, 29. November 2013.
-
21
Gründe hierfür liegen einerseits in einer v.a. bei politischen Entscheidungsträgern durch Gerichtsentscheidungen (etwa in Deutschland und Österreich, vgl. OSZE, Handbook for the Observation of New Voting Technologies [2013]) und Expertenberichte (etwa von der britischen Wahlkommission: http://www.electoralcommission.org.uk/__data/assets/electoral_commission_pdf_file/0015/13218/
Keyfindingsandrecommendationssummarypaper_27191-20111__E__N__S__W__.pdf [28. Januar 2014]) bedingten erhöhten Zurückhaltung, neue Technologien für die Ausübung demokratischer Grundrechte einzusetzen, andererseits wohl auch in Ressourcen-Engpässen durch die Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 und einem zuletzt in der Bevölkerung verstärkt zu beobachtenden Misstrauen gegenüber Internet-Risiken bzw. der Angst vor Datendiebstahl oder -missbrauch. - 22 Zu Erfahrungsberichten vgl. u.a. Barrat i Esteve/Goldsmith/Turner, International Experience with E-Voting, Norwegian E-Vote Project, IFES Study (2012) und den Bericht des «Fourth Review Meeting» vom 4. Juni 2013, DGII/Inf(2013)06, 2 ff.
- 23 Estland ist der bisher einzige Staat der Welt, bei dem E-Voting via Internet flächendeckend und rechtsverbindlich bei lokalen und nationalen Wahlereignissen zum Einsatz kommt (http://www.vvk.ee/voting-methods-in-estonia/engindex/ [28. Januar 2014]).
- 24 Vgl. u.a. Vegas González, The New Belgian E-voting System, in Kripp/Volkamer/Grimm (Hrsg), 5th International Conference on Electronic Voting 2012, Proceedings (2012) 199.
- 25 Vgl. OSZE, Handbook for the Observation of New Voting Technologies (2013) 5.