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Von der cautio Muciana und dem Fehlen juristischer Erfindernamen

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Tagungsband IRIS 2014
  • Citation: Lothar Philipps, Von der cautio Muciana und dem Fehlen juristischer Erfindernamen, in: Jusletter IT 20 February 2014
In unserem Alltag gibt es viele Ausdrücke, in denen die Namen von Erfindern und Entdeckern stecken, wie zum Beispiel in «Benzin» und «Diesel», «Volt» und «Watt». Auch die Welten jenseits des Alltags sind voll von solchen Namen, von den «Kepler’schen Gesetzen» bis zur «Schrödinger-Gleichung». Gibt es Erfindernamen auch im Recht? Schließlich wird unser Alltag und werden auch Bereiche außerhalb des Alltags vom Recht geformt. Ja, auch im Recht kommen solche Namen vor, doch nur ausnahmsweise. Eine der Ausnahmen ist die cautio Muciana: eine Regel mit einem Erfindernamen, der sehr alt ist und der ein bemerkenswertes Schicksal erlitten hat, und dies im zwanzigsten Jahrhundert.
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Von der cautio Muciania erfuhr ich zum ersten Mal in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich studierte in Münster Rechtswissenschaft und hörte bei Harry Westermann die Vorlesung «BGB, Allgemeiner Teil». Westermann erläuterte am Beispiel der cautio Muciana den Unterschied von aufschiebender und auflösender Bedingung. Mir imponierte die Verschmelzung von formaler Eleganz und materialer Gerechtigkeit im Richterspruch eines römischen Juristen; es war ein juristisches «Bildungserlebnis», um einen Ausdruck zu verwenden, der bei den Gymnasiallehrern jener Zeit beliebt war.
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Die cautio Muciana wurde in Rom erfunden, um 100 v. Chr.1 Ein reicher Bürger hatte sein Vermögen seiner Ehefrau vererbt, unter der Bedingung, dass sie sich nicht wieder verheirate. Es sah so aus, als falle der Witwe ein großes Vermögen zu. Doch das wäre, wenn überhaupt, erst auf ihrem Sterbebett geschehen, sie hätte also nichts mehr davon gehabt. Der Fall schrie geradezu nach einem Richter (hier war es ein Prätor).
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Es war Mucius Scaevola, der über den Fall entschied. Auch in seiner Interpretation wurde der Wunsch des Erblassers, dass seine Frau nicht wieder heirate, respektiert. Doch Mucius Scaevola deutete die Bedingung der Wiederverheiratung um: die Witwe solle das Erbe sofort erhalten, nur müsse sie es bei einer erneuten Heirat wieder herausgeben. Er ersetzte also den «aufschiebenden» Charakter der Bedingung (erst wenn feststeht, das die Erbin nicht wieder heiratet, bekommt sie das Vermögen) durch den «auflösenden» Charakter (wenn sie wieder heiratet, muss sie das schon erhaltene Vermögen wieder herausgeben).
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Mit dieser Entscheidung hat sich der Name Mucius für viele Jahrhunderte verbunden. Sie wurde zu der Rechtsregel der cautio Muciana, welche auch Eingang in das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch gefunden hat:

2075 BGB:

    Hat er Erblasser eine letztwillige Zuwendung unter der Bedingung gemacht, dass der Bedachte während eines Zeitraums von unbestimmter Dauer etwas unterlässt ..., so ist, wenn das Unterlassen ... lediglich in der Willkür des Bedachten liegt, im Zweifel anzunehmen, dass die Zuwendung von der auflösenden Bedingung abhängig sein soll, dass der Bedachte die Handlung vornimmt ...

     

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Die Kommentare zum BGB nahmen ursprünglich die «cautio Muciana» in Bezug. Doch in späteren Auflagen verschwand der Name. Im «Staudinger» geschah mit der zehnten Auflage (1942); im «Soergel-Siebert» ebenfalls mit der zehnten Auflage (1974). Im «Palandt», dem leitenden Kommentar für den juristischen Alltag, fehlte der Ausdruck von Anfang an; der Palandt ist 1938 erschienen. Die Vorläufer des Palandt kannten den Ausdruck noch: so der «Fischer-Henle», der seit 1896, als der Text des kommenden BGB veröffentlicht wurde, in vielen Auflagen erschienen ist, und ebenso der «Liebmann-Kommentar».
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Warum die Namen der ersten Kommentatoren verschwanden, ist nicht schwer zu erraten: Wilhelm Henle («Fischer-Henle») gehörte zu einer alten, hochangesehenen jüdischen Familie in Bayern. Otto Liebmann war ein jüdischer Verleger, der über viele Jahrzehnte die «Juristenzeitung» herausgab. Der Geh. Justizrat Felix Herzfeld (Erbrecht im Staudinger) emigrierte als 75jähriger 1939 über die Türkei nach Palästina.2 Was den Soergel-Siebert anlangt, so war der Bayerische Hofrat Soergel zwar kein Jude, doch sein Mitherausgeber Siebert, der später hinzukam, war zeitweilig ein überzeugter Nationalsozialist. Und was den Palandt anlangt, so ist er auf Geheiß der Reichsregierung erschienen.

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Aber warum verschwand mit den Namen der Kommentatoren auch der des römischen Juristen? In jener Zeit war alles, was an das römische Recht erinnerte, wenig beliebt. Und wenn die Erinnerung gar mit der Ehre einer Namensgebung verbunden war, so war das ein besonderer Grund, sie zu unterdrücken.
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Hinzu kommt noch eine Eigentümlichkeit der Jurisprudenz: Juristen haben ohnehin kaum Erfindernamen in ihrer Wissenschaft; es kommt nur selten vor, dass sich an eine Rechtsregel der Name des Juristen heftet, der sie erdacht hat. In den letzten Jahren ist das nur mit der Radbruch’schen Formel geschehen, wonach auch ein ungerechtes Gesetz grundsätzlich gültig und zu befolgen sei (weil es Rechtssicherheit gewähre); es sei denn, die Ungerechtigkeit sei «unerträglich».3 Die Radbruch’sche Formel spielte eine wichtige Rolle in den Prozessen gegen die «Mauerschützen» der DDR und brachte es bis in die Feuilletons der Zeitungen.4

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Außerhalb der Rechtswissenschaft allerdings sind Erfindernamen überaus häufig. Wir fahren «Benziner» oder «Diesel», und im kollektiven Gedächtnis dreht sich immer noch der Kolben des «Wankelmotors». Wir trinken «pasteurisierte» Milch, lassen uns «röntgen» und fürchten uns vor «Alzheimer». Auch außerhalb des Alltags werden immer wieder Erfindernamen populär, selbst bei Erfindungen und Entdeckungen, die der Laie nicht verstehen kann. Wer hat nicht die atemberaubende Jagd auf das «Higgs-Teilchen» verfolgt, die viele Jahre währte, bis dies Wesen tief in den Schweizer Bergen aufgespürt wurde. (Die seine Existenz vorhergesagt hatten, erhielten unlängst den Nobelpreis dafür.) Oder denken wir an die «Riemann’sche Vermutung»: Mehrere führende Mathematiker sind bei dem Versuch, sie zu beweisen oder zu widerlegen, wahnsinnig geworden.5 Gibt es Juristen, die bei dem Versuch, ein Rechtsproblem zu lösen, wahnsinnig geworden sind? Meines Wissens nicht – glücklicherweise, aber andererseits auch schade, denn das hätte dem angeschlagenen Ruf der Rechtswissenschaft als Wissenschaft gutgetan.

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Der französische Mathematiker und Naturwissenschaftler Henry Poincaré hat gesagt: «Der Wissenschaftler beschäftigt sich nicht mit der Natur, weil sie nützlich ist; er beschäftigt sich mit ihr, weil es ihm Spaß macht, und es macht ihm Spaß, weil sie schön ist.»6 Das ist die Einstellung, die auch der Rechtswissenschaftler, zuerst einmal als Student, haben sollte. Gleich neben der Gerechtigkeit steht die Schönheit; dass die beiden Werte miteinander verwandt sind, hat schon Platon gewusst, und ihre Verbindung zeigt sich auch in der cautio Muciana.

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Übrigens kann ich meine Ausführungen mit einer tröstlichen Nachricht schließen: Seit 1978 kommt die cautio Muciana wieder in einem BGB-Kommentar vor, dem «Münchner Kommentar».

 

Lothar Philipps

Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München

Privat: Asamstraße 23, D-81541 München

loth@jura.uni-muenchen.de

 


  1. 1 Auf den Unterschied zwischen Erfinden und Entdecken – der Dieselmotor wurde erfunden, Amerika wurde entdeckt – gehe ich hier nicht ein. Bei vielem kann man darüber streiten, ob es erfunden oder entdeckt worden ist; so etwa in der Philosophie der Mathematik. In unserem Zusammenhang kommt es aber nicht darauf an.
  2. 2 Zum Schicksal bayerischer jüdischer Juristen vgl. Große jüdische Gelehrte an der Münchener Juristischen Fakultät, hgg. v. Peter Landau und Hermann Nehlsen, Münchener Universitätsschriften, Jurist. Fakultät, Abhandlungen zur Rechtswissensch. Grundlagenforschung Bd. 84, München 2000.
  3. 3 Solche «es sei denn dass»-Sätze sind logisch von grundsätzlicher Natur. Vgl. L. Philipps, Rechtliche Regelung und formale Logik, zuletzt in: Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen – Rechtslogische Aufsätze, Bern 2012.
  4. 4 Gustav RadbruchGesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In: Süddeutsche Juristenzeitung. 1946, S. 105–108. Zuletzt in Arthur Kaufmann (Hrsg.): Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Band 3. Heidelberg 1990. – Unter deutschen Juristen verhältnismäßig bekannt sind noch die «Frank’sche Formel» (zur Abgrenzung von «bedingtem Vorsatz» und «bewusster Fahrlässigkeit» sowie die «Baumbach’sche Formel» (zur Kostenteilung unter mehreren Parteien nach einem Zivilprozess).
  5. 5 Vgl. Marcus du SautoyDie Musik der Primzahlen, München 2006, S. 372 f. (engl: The Music of the Primes, London 2003).
  6. 6 Zitiert nach Marcus du Sautoy a.a.O. S. 15. Von Poincaré stammt die «Poincaré-Vermutung» (1904), deren Richtigkeit erst nahezu hundert Jahre später von dem Russen Grigori Perelmann bewiesen worden ist. Perelman hat das Preisgeld von einer Million Dollar, das darauf ausgesetzt war, nicht angenommen. Anscheinend hat er den Beweis nicht deshalb geführt, weil das für ihn «nützlich» gewesen wäre.