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Mit unserer Frage nach Transparenz ist immer auch die Frage der Geheimhaltung im Kontext herrschender Weltbilder, politischer und sozialer Abhängigkeiten und der Ortsbestimmung des Rechts verbunden. Die ambivalenten Funktionen von Transparenz und Geheimhaltung sollen zunächst im Rahmen einer Märchenerzählung und vor dem Hintergrund der Offenbarungen von Sehern, Propheten und Wahrsagern erschlossen werden.
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Das Verkleidungsmärchen von Andersen mit der Geschichte eines durch die Macht der Deutung geblendeten Volkes steht für eine gemachte Lebenswirklichkeit: In Andersens Märchen haben Menschen ihre Urteilsfähigkeit der offensichtlichen Lüge und Hinterlist von zwei Betrügern geopfert, die besagten, dass die von ihnen produzierten Kleider «die wunderbare Kraft [hätten], dass die Menschen, die für ihr Amt nicht taugten oder ungewöhnlich dumm seien, sie nicht sehen könnten». So geschah es, dass alle «wohlgestaltete Kleider dort sahen, wo nichts Stoffliches zu finden war. Die Kontrollblicke des kaiserliche Hofstaats «versagten» und selbst der Kaiser wurde von «Unmündigkeit» erfasst, so dass die Betrüger für die vorgetäuschten Kleider weiter mehr Geld scheffeln konnten. Erst als ein Kind unerwartet «Worte der Wahrheit» schrie: «Er hat ja gar nichts an!» erwachten die Menschen aus ihrer verblendeten Mündigkeit.
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Nicht nur in Andersens Märchen ist das Geheimnis der Herrschaft, dass sie keine Macht ist, wenn es Menschen gelingt, ihren Sinneswahrnehmungen zu trauen und sich aus ihrer «selbstverschuldeten Abhängigkeit» durch Aufklärung zu befreien.
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Die Geschichte der Aufklärung ist immer auch eine Geschichte der Interpretation von Wahrheit, die jenseits politischer oder wirtschaftlicher Macht zu finden ist. So hat Tiresias, der berühmte Seher von Theben, dem König Ödipus neue Zusammenhänge in seinem Leben und in der Welt sichtbar gemacht, die in der Hand des Schicksals verborgen liegen und in der wirklichen Welt erkannt werden wollen.
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Bekannte Propheten des alten Testaments wie Elias, Isaias, Jeremias oder Ezechiel kritisieren den politischen Opportunismus und die religiöse Blindheit von Israels Königen, der Vertrauen und Zuverlässigkeit in den Pakt Jahwes mit seinem Volk gefährde. Mit diesem Weltverständnis der Propheten wird menschliches Erwarten und Handeln grundsätzlich der Prüfung des Paktes anvertraut, den Gott mit seinem Volk im Alten Testament geschlossen hat. Er ist der eigentliche Maßstab für ihr politisches Leben, das im Kern immer religiös dimensioniert war und ist.
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«Die Worte der Weisen gleichen Ochsenstacheln, und festsitzenden Nägeln die Sätze der Weisheitslehren», so heißt es schon im Nachwort des Predigers Salomon (Kohelet 12, 11).
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Die «Stacheln» der Weisen und Wahrsager mit Stumpf und Stiel auszurotten, war seit alters sein Anliegen despotischer Systeme, Kaiser oder Diktatoren. So war es zu Zeiten des römischen Kaisers Diokletian zu Beginn des 4. Jahrhundert n. Chr. üblich geworden, nicht nur die verstorbenen Kaiser in den Götterhimmel zu heben, sondern auch den lebenden Princeps mit dem Titel «deus» zu ehren mit der Folge, dass ihm ein Monopol auf die Deutungen der Welt zustand. Alle seine «Ideen» mussten von der kaiserlichen Verwaltung mit «Befehlen und Gesetzen, mit Privilegien und Zwang bearbeitet werden». Im Ergebnis treffen wir auf ein Deutungsmonopol der Machthaber, ihrer Gesetzgeber und ihrer jeweils zeitgebundenen Medien, die niemals, auch nicht in einer Demokratie, alleiniger Repräsentant der Gesellschaft sind. Nicht alles, was eine Regierung will, wird «Recht», nicht alles, was die Medien «sehen», ist «Realität».
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«Nichts wird geheimgehalten, außer damit es an die Öffentlichkeit kommt!» Die mehrdeutige, fast paradoxe Feststellung findet sich im Markusevangelium (Mk 4, 22). Sie stellt eine Verbindung zu den dunkelsten Stunden derjenigen her, die als Freunde der Wahrheit Widerspruch provozieren, um Klartext zu reden. Sie sagen alles, aber lassen geheim, was geheim bleiben muss. Dass ein Tabu besteht, ist selbst ein Tabu. Die Dynamik des Gegensätzlichen macht sich heute der Persönlichkeitsschutz zu Eigen.
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Ein allgemeines staatsbürgerliches Informationsrecht, Transparenz staatlichen Handelns ist das eine – alle auf das Persönlichkeitsrecht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, das andere. Der Forderung nach Transparenz des (Kommunikations-)Staates steht der Anspruch auf Intransparenz des Bürgers gegenüber, aus dem sich datenschutzrechtlich die Forderung nach einer strengen Zweckbindung bei der Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten und technologisch die Forderung nach Datenvermeidung, nach Anonymisierung und Verschlüsselungsverfahren ergibt.
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In rechtsstaatlichen Demokratien der Gegenwart versuchen Whistleblower als Wahrheitssager notwendige Aufklärungsarbeit in schwerwiegenden Fällen von staatlicher Intransparenz zu leisten. Sie versuchen in der vernetzten digitalen Welt Geheimes offenzulegen, damit verborgene Staatstätigkeiten dem demokratischen Volk, dem «populus», den es angeht, entschlüsselt werden können. Sie nehmen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahr, sie provozieren «anstößige» Meinungen und bedienen in Verbindung mit einer freien Qualitätspresse «the people´s right to know», das in vielen Verfassungen der Welt garantiert ist. Auf diesem Weg ermöglichen sie gleichzeitig die Informationsfreiheit des Bürgers, die ein notwendiger Baustein der Meinungsfreiheit ist und zum Kreis des Demokratieprinzips zählt.
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Das Sonderbare dabei ist, dass es den Meisten bewusst ist, dass von den Herrschenden in großem Stile und aus Machtkalkül die Grundrechte verletzt werden, aber dies ist ein Tabu, es wird nicht darüber gesprochen. Erst durch den Tabubruch wird das Thema freigegeben und der Sturm der Entrüstung beginnt. Es ist dies weniger Wahrheitsfindung als Enttabuisierung.