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Transparenz der Kontexte und die Rolle der Wahrheitssager

  • Authors: Marie-Theres Tinnefeld / Friedrich Lachmayer
  • Category: Articles
  • Region: Austria, Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Tagungsband IRIS 2014
  • Citation: Marie-Theres Tinnefeld / Friedrich Lachmayer, Transparenz der Kontexte und die Rolle der Wahrheitssager, in: Jusletter IT 20 February 2014
Die kollektiv verbindliche Lebenswirklichkeit scheint eine «gemachte Wirklichkeit» zu sein, erarbeitet durch Deutungsmonopole und durch zensierte Informationen. Keineswegs nur ein kognitives Thema, denn die Sinnkontexte sind als Softpower eine der Grundlagen der Herrschaftssysteme. Ein Paradigmenwechsel kann durch mehrere Ursachen herbeigeführt werden, unter anderem auch durch eine unerwartete Sachinformation, so wie dies etwa in Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern geschieht, aber auch durch eine neue Deutung, durch das Ansprechen und Aussprechen im Kontext von «Worten der Wahrheit», wenn etwa Tiresias, der Seher von Theben, seinem König Ödipus neue Zusammenhänge sichtbar macht, oder wenn die Propheten zu den Königen gesprochen haben, oder wenn neuerdings Wahrheitssager auf verdrängte Kontexte aufmerksam machen. Die sogenannte Wahrheit kann in Fakteninformationen bestehen, die einen neuen Deutungskontext hervortreten lassen. Sie sind wie tektonische Fenster in die Kelleretagen der Macht. Die Geschichte der Aufklärung ist immer auch eine Geschichte der Interpretation von Wahrheit, die jenseits politischer oder wirtschaftlicher Macht zu finden ist. Die Informationsfreiheit des Bürgers ist ein notwendiger Baustein der Meinungsfreiheit und zum Kreis des Demokratieprinzips zählt. Bemerkenswert dabei ist, dass es den Meisten bewusst ist, dass von den Herrschenden in großem Stile und aus Machtkalkül die Grundrechte verletzt werden, aber dies ist ein Tabu, es wird nicht darüber gesprochen. Erst durch den Tabubruch der Wahrheitssager wird das Thema freigegeben und der Sturm der Entrüstung beginnt. Es ist dies weniger Wahrheitsfindung als Enttabuisierung. Repressive Systeme wie Absolutismus und Diktaturen haben die Meinungsfreiheit, – sie wird nicht von ungefähr als «Mutterrecht aller kommunikativen Grundrechte» angesehen und das Recht auf Privatheit ausgehöhlt. Sie haben damit Bürger politisch praktisch entmündigt, um angeblich «stabile» Sicherheitsstrukturen zu gewährleisten. Menschenrechtsbasierte Demokratien sollen dagegen Bürger in die Privatheit ihrer Gesinnungen und Theorien freilassen. Die digitale Revolution eröffnet potenziell eine unbegrenzte globale Öffentlichkeit. Sie nähert sich scheinbar einer Welt ohne Geheimhaltung, sie bricht Tabus aber schafft gleichzeitig neue.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. :
  • 2. :
  • 3. :
  • 4. :
  • 5. :

1.

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[1]
Hans Kelsen hatte in seiner Reinen Rechtslehre zwischen Sein und Sinn unterschieden, wobei der Sinn bzw. das Sollen auch durch Deutungen geschaffen wird. Geht man von diesem Ansatz aus, denn zeigt es sich, dass nicht nur Einzelgegenstände gedeutet werden können, sondern dass es auch so etwas wie Deutungskontexte gibt, also umfassende Deutungsrahmen, Interpretationsparadigmen.
[2]
Die kollektiv verbindliche Lebenswirklichkeit scheint eine «gemachte Wirklichkeit» zu sein, erarbeitet durch Deutungsmonopole und durch zensierte Informationen. Keineswegs nur ein kognitives Thema, denn die Sinnkontexte sind als Softpower eine der Grundlagen der Herrschaftssysteme.
[3]
Ein Paradigmenwechsel kann durch mehrere Ursachen herbeigeführt werden, unter anderem auch durch eine unerwartete Sachinformation, so wie dies etwa in Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern geschieht, aber auch durch eine neue Deutung, durch das Ansprechen und Aussprechen im Kontext von «Worten der Wahrheit», wenn etwa Tiresias, der Seher von Theben, seinem König Ödipus neue Zusammenhänge sichtbar macht, oder wenn die Propheten zu den Königen gesprochen haben, oder wenn neuerdings Wahrheitssager auf verdrängte Kontexte aufmerksam machen.
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Herrscher und Deuter: einerseits eine funktionsfähige Koalition und andererseits ein notwendiges Korrektiv, das bis zum Bruch und bis zum Zerbrechen gehen kann. Die Herrschenden hören das nicht gerne und die Resonanz in der Öffentlichkeit offenbart häufig eine kollektive kognitive Dissonanz, die schwer zu überwinden und damit für alle Beteiligten ein Risiko ist. Die sogenannte Wahrheit kann in Fakteninformationen bestehen, die einen neuen Deutungskontext hervortreten lassen. Sie sind wie tektonische Fenster in die Kelleretagen der Macht.
[5]
Johann Wolfgang Goethe hatte im Ersten Teil seines Faust, in den Versen 575–577, die ambivalente Symbiose von geheim agierender Macht und kollektiv verbindlicher Sinnkonstitution «auf den Vers» gebracht:

    «Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit

    Sind uns ein Buch mit sieben Siegel.

    Was ihr den Geist der Zeiten heißt,

    Das ist im Grunde der Herren eigner Geist,

    In dem die Zeiten sich bespiegeln.»

[6]
Es sind im Grunde Herrschende, die nach eigenem Gutdünken tätig werden, statt sich an die bona und vera zu halten. Wir erfahren mit Schrecken, dass eingeübte Rituale der Herrschenden, im Arcanum zu handeln, auch mit der Wirklichkeit des 21. Jahrhundert einhergehen. Seit wir vermeinen, keine Seher und Propheten mehr zu brauchen aber umso mehr neuen Sehern und Propheten ausgeliefert zu sein, haben viele Menschen alles, was unter oberflächlichen Informationen und ihren technischen Spuren liegt, vergessen oder verdrängt. Aber es ist noch da und wartet darauf, durch die Stimme der Menschenrechte bis in die Verästelungen privaten Lebens gehört zu werden.

2.

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[7]
Mit unserer Frage nach Transparenz ist immer auch die Frage der Geheimhaltung im Kontext herrschender Weltbilder, politischer und sozialer Abhängigkeiten und der Ortsbestimmung des Rechts verbunden. Die ambivalenten Funktionen von Transparenz und Geheimhaltung sollen zunächst im Rahmen einer Märchenerzählung und vor dem Hintergrund der Offenbarungen von Sehern, Propheten und Wahrsagern erschlossen werden.
[8]
Das Verkleidungsmärchen von Andersen mit der Geschichte eines durch die Macht der Deutung geblendeten Volkes steht für eine gemachte Lebenswirklichkeit: In Andersens Märchen haben Menschen ihre Urteilsfähigkeit der offensichtlichen Lüge und Hinterlist von zwei Betrügern geopfert, die besagten, dass die von ihnen produzierten Kleider «die wunderbare Kraft [hätten], dass die Menschen, die für ihr Amt nicht taugten oder ungewöhnlich dumm seien, sie nicht sehen könnten». So geschah es, dass alle «wohlgestaltete Kleider dort sahen, wo nichts Stoffliches zu finden war. Die Kontrollblicke des kaiserliche Hofstaats «versagten» und selbst der Kaiser wurde von «Unmündigkeit» erfasst, so dass die Betrüger für die vorgetäuschten Kleider weiter mehr Geld scheffeln konnten. Erst als ein Kind unerwartet «Worte der Wahrheit» schrie: «Er hat ja gar nichts an!» erwachten die Menschen aus ihrer verblendeten Mündigkeit.
[9]
Nicht nur in Andersens Märchen ist das Geheimnis der Herrschaft, dass sie keine Macht ist, wenn es Menschen gelingt, ihren Sinneswahrnehmungen zu trauen und sich aus ihrer «selbstverschuldeten Abhängigkeit» durch Aufklärung zu befreien.
[10]
Die Geschichte der Aufklärung ist immer auch eine Geschichte der Interpretation von Wahrheit, die jenseits politischer oder wirtschaftlicher Macht zu finden ist. So hat Tiresias, der berühmte Seher von Theben, dem König Ödipus neue Zusammenhänge in seinem Leben und in der Welt sichtbar gemacht, die in der Hand des Schicksals verborgen liegen und in der wirklichen Welt erkannt werden wollen.
[11]
Bekannte Propheten des alten Testaments wie Elias, Isaias, Jeremias oder Ezechiel kritisieren den politischen Opportunismus und die religiöse Blindheit von Israels Königen, der Vertrauen und Zuverlässigkeit in den Pakt Jahwes mit seinem Volk gefährde. Mit diesem Weltverständnis der Propheten wird menschliches Erwarten und Handeln grundsätzlich der Prüfung des Paktes anvertraut, den Gott mit seinem Volk im Alten Testament geschlossen hat. Er ist der eigentliche Maßstab für ihr politisches Leben, das im Kern immer religiös dimensioniert war und ist.
[12]
«Die Worte der Weisen gleichen Ochsenstacheln, und festsitzenden Nägeln die Sätze der Weisheitslehren», so heißt es schon im Nachwort des Predigers Salomon (Kohelet 12, 11).
[13]
Die «Stacheln» der Weisen und Wahrsager mit Stumpf und Stiel auszurotten, war seit alters sein Anliegen despotischer Systeme, Kaiser oder Diktatoren. So war es zu Zeiten des römischen Kaisers Diokletian zu Beginn des 4. Jahrhundert n. Chr. üblich geworden, nicht nur die verstorbenen Kaiser in den Götterhimmel zu heben, sondern auch den lebenden Princeps mit dem Titel «deus» zu ehren mit der Folge, dass ihm ein Monopol auf die Deutungen der Welt zustand. Alle seine «Ideen» mussten von der kaiserlichen Verwaltung mit «Befehlen und Gesetzen, mit Privilegien und Zwang bearbeitet werden».1 Im Ergebnis treffen wir auf ein Deutungsmonopol der Machthaber, ihrer Gesetzgeber und ihrer jeweils zeitgebundenen Medien, die niemals, auch nicht in einer Demokratie, alleiniger Repräsentant der Gesellschaft sind. Nicht alles, was eine Regierung will, wird «Recht», nicht alles, was die Medien «sehen», ist «Realität».
[14]
«Nichts wird geheimgehalten, außer damit es an die Öffentlichkeit kommt!» Die mehrdeutige, fast paradoxe Feststellung findet sich im Markusevangelium (Mk 4, 22). Sie stellt eine Verbindung zu den dunkelsten Stunden derjenigen her, die als Freunde der Wahrheit Widerspruch provozieren, um Klartext zu reden. Sie sagen alles, aber lassen geheim, was geheim bleiben muss. Dass ein Tabu besteht, ist selbst ein Tabu. Die Dynamik des Gegensätzlichen macht sich heute der Persönlichkeitsschutz zu Eigen.
[15]
Ein allgemeines staatsbürgerliches Informationsrecht, Transparenz staatlichen Handelns ist das eine – alle auf das Persönlichkeitsrecht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, das andere. Der Forderung nach Transparenz des (Kommunikations-)Staates2 steht der Anspruch auf Intransparenz des Bürgers gegenüber, aus dem sich datenschutzrechtlich die Forderung nach einer strengen Zweckbindung bei der Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten und technologisch die Forderung nach Datenvermeidung, nach Anonymisierung und Verschlüsselungsverfahren ergibt.
[16]
In rechtsstaatlichen Demokratien der Gegenwart versuchen Whistleblower als Wahrheitssager notwendige Aufklärungsarbeit in schwerwiegenden Fällen von staatlicher Intransparenz zu leisten.3 Sie versuchen in der vernetzten digitalen Welt Geheimes offenzulegen, damit verborgene Staatstätigkeiten dem demokratischen Volk, dem «populus», den es angeht, entschlüsselt werden können. Sie nehmen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahr, sie provozieren «anstößige» Meinungen und bedienen in Verbindung mit einer freien Qualitätspresse «the people´s right to know», das in vielen Verfassungen der Welt garantiert ist. Auf diesem Weg ermöglichen sie gleichzeitig die Informationsfreiheit des Bürgers, die ein notwendiger Baustein der Meinungsfreiheit ist und zum Kreis des Demokratieprinzips zählt.
[17]
Das Sonderbare dabei ist, dass es den Meisten bewusst ist, dass von den Herrschenden in großem Stile und aus Machtkalkül die Grundrechte verletzt werden, aber dies ist ein Tabu, es wird nicht darüber gesprochen. Erst durch den Tabubruch wird das Thema freigegeben und der Sturm der Entrüstung beginnt. Es ist dies weniger Wahrheitsfindung als Enttabuisierung.

3.

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[18]
Immanuel Kant hat in seiner Schrift «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?» 4 Mündigkeit als Ausgang aus selbstverschuldeter Abhängigkeit definiert. Im Denken Kants sind Freiheit, Autonomie und Würde im Persönlichkeitskern des Menschen angelegt. «Da der Mensch Zweck an sich selbst ist, hat er Würde, die durch kein Äquivalent ersetzt werden kann. Die Vernunft aber gibt uns nicht die Würde.»5
[19]
Im Namen der Vernunft und des Naturrechts hat man sich in der französischen Revolution gegenseitig die Köpfe abgeschlagen. Diese Erfahrung der terreur ist eine der Fortwirkungen großen Erfahrungen im Jahrhundert der Aufklärung. Die Verbindlichkeit einer einzigen Vernunft ist nicht tragfähig. Viele Ideologien machen die Menschen glauben, dass es unwiderlegbare Antworten gibt, etwa bei der Bekämpfung des sogenannten Terrorismus. Doch sie gibt es in einer pluralen Welt nicht. Isaiah Benjamin erinnert daran, dass verwendete Kategorien den «Tatsachen» Gewalt antun können.6
[20]
Die Neigung, Ansichten persönlicher und ideologischer Gegner zu ignorieren oder einseitig zu deuten, kann zu informationeller Gewalt, namentlich auch zur Obstruktion einer offenen Gesellschaft führen. Dagegen findet die Auffassung von Kant und Benjamin ihre Entsprechung in der Menschenrechtsentwicklung, die im achtzehnten Jahrhundert ihren Ausgang nahm.
[21]
Die Universalität der Menschenrechte ist seit 1948 das gewachsene Ergebnis der Deklarationen, Konventionen und der Schaffung der verbindlichen Menschenrechtspakte durch die Vereinten Nationen bis zur Gegenwart des 21. Jahrhundert. Sie bringen die Vielfalt des Lebens zum Ausdruck und erinnern daran, dass Menschen nach verschiedenen Idealen in einer pluralen Gesellschaft leben müssen. Sie gewährleisten grundsätzlich das Recht für Jedermann auf freie Meinungsäußerung, das auch eine negative Komponente einschließt, nämlich sich informationell gegenüber Dritten zu enthalten.7
[22]
Repressive Systeme wie Absolutismus und Diktaturen haben die Meinungsfreiheit, – sie wird nicht von ungefähr als «Mutterrecht aller kommunikativen Grundrechte» angesehen und das Recht auf Privatheit ausgehöhlt. Sie haben damit Bürger politisch praktisch entmündigt, um angeblich «stabile» Sicherheitsstrukturen zu gewährleisten. Hingegen sollten menschenrechtsbasierte Demokratien ihre Bürger in die Privatheit ihrer Gesinnungen und Theorien freilassen. Sie bilden den Humus für die Achtung des Anderen, für Pluralität und Toleranz.

4.

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[23]
Die digitale Revolution eröffnet potenziell eine unbegrenzte globale Öffentlichkeit. Sie nähert sich scheinbar einer Welt ohne Geheimhaltung, sie bricht Tabus aber schafft gleichzeitig neue.
[24]
Staaten und ihre Geheimdienste gehen allerdings auch im Zeitalter voll entwickelter digitaler Kommunikation davon aus, dass sie ohne eine ungeteilte Informationsherrschaft nicht auskommen können, dass zumindest die Verbindungsdaten einer vertraulichen Telekommunikation transparent sein müssen, um dem Terror oder anderen Gefahren begegnen zu können.
[25]
Ein Ausschuss der Vollversammlung der Vereinten Nationen hat am 26. November 2013 eine von Deutschland und Brasilien eingebrachte Resolution gegen Informations- bzw. «Goldgräber» einstimmig angenommen. In dem Papier werden alle Staaten dazu aufgerufen, das right to privacy zu respektieren und unabhängige Kontrollmechanismen einzuführen, um Transparenz und Verantwortlichkeit im Rahmen staatlichen Aktivitäten herzustellen.8
[26]
Die politische Macht will zwar vor der Tyrannei des Terrors schützen. Doch die Geschichte zeigt, dass Vieles fromm begonnen aber unfromm geendet hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Krieg gegen der Terror unter dem Druck verschiedener Umstände in einen Krieg mit dem Terror umkippt, dass aus einem explizit globalen Krieg ein Weltkrieg wird, wenn er es nicht schon geworden ist. Wenn die politische Macht sich gegen die Anmaßungen konkurrenzierender Machtgruppen durchaus legitim schützt, so geht sie dennoch das Risiko ein, selbst von einem digitalen Fanatismus getrieben zu werden, in dem sie das rechtsstaatliche Übermaßverbot bei der Überwachung vernetzter freier Kommunikation nicht hinreichend beachtet. Das Letztere betrifft insbesondere den Versuch, personenbezogene Telekommunikations- bzw. Verbindungsdaten anzuhäufen und menschliche Profile anzulegen, häufig ohne den entsprechenden Kontext, den Sinnzusammenhang zu kennen.
[27]
Das Problem der sogenannten Vorratsdatenspeicherung führt uns zurück zu grundlegenden Fragen der Transparenz und Intransparenz, zu dem datenschutzbezogenen Aspekt des intransparenten Bürgers und dem Idealbild einer transparenten Verwaltung.
[28]
Zu dem Begriff der Menschenwürde gehören nach europäischen Grundrechtsverständnis die Rechte auf Privatheit und freien Informationszugang als elementare Teile der Meinungsfreiheit. Beide Rechte sind unabdingbare Voraussetzung für die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und für das Funktionieren des freiheitlich demokratischen Gemeinwesens.9 Wird dieser Zusammenhang ernst genommen, dann hat der Einzelne Anspruch auf Schutz privater und intimer Informationen. Beide Rechte überleben nicht nur aufgrund des Anspruchs jeder Person auf Transparenz der Informationen, die über sie gewonnen werden, sondern auch dadurch, dass sie in das Dunkel der Verwaltungsarbeit hineinleuchten kann.
[29]
Die funktionale Betrachtungsweise macht den Zusammenhang deutlich, dass jeder Bürger das Recht haben muss bei der Verwirklichung des gemeinen Wohls mitzureden. In altlateinischen Inschriften können wir noch lesen, das die Öffentlichkeit der res publica mit dem Begriff «populus», d.h. dem Volke Zugehörige, verbunden wird. Hier geht es um Fragen des transparenten staatlichen Handelns, das zumindest nach einer geheimen Maßnahme kontrollierbar sein muss. Fehlt diese Publizität, dann kommen praktische Wahrheitssager ins Spiel, die das Arcanum der Macht offen legen und durch «Worte der Wahrheit» enthüllen, was die Oberfläche einer Information verbergen kann.

5.

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Öffentliche Verwaltung ist im Sinne einer möglichst transparenten zugänglichen Staatsfunktion zu verstehen, die auch inhaltliche Orientierung für die Bürger umfassen, also dialogbereit sein muss.10 Im europäischen Datenschutzrecht wird der Dialog zwischen dem Datenverarbeiter und dem betroffenen Bürger ausdrücklich vorgesehen.11 Das Problem mit dem Datenschutz ist jedoch, dass er ganz Oben und ganz Unten nicht funktioniert: Dem Informationsbedürfnis der Macht ist der Datenschutz kein Hindernis, für das Selbsteinbringen in das soziale Web ist der ausgeschlossene Datenschutz zunächst kein Thema.

[31]
Wenn aus überwiegenden Gründen der inneren oder äußeren staatlichen Sicherheit die Geheimhaltung von Informationen erforderlich sein sollte, so ist des Betroffenen zumindest eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle rechtsstaatlich geboten, damit die Abwägungen und Deutungen der Herrschenden den Bürgern nicht verborgen bleiben.
[32]
Zu den konstitutiven Merkmalen einer rechtsstaatlichen Demokratie gehört die Publizität von Herrschaft, «die den Trägern der öffentlichen Gewalt den Rückzug in arcana imperii […] verlegt.»12 Wenn jedoch die Entscheidungsverfahren der öffentlichen Gewalt und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen intransparent und nicht nachvollziehbar sind, dann ist es erforderlich der «Herren Geist» (Goethe), die «Hinterlist einer lichtscheuen Politik» (Kant) zu durchleuchten und zu kontrollieren,
[33]
Das Publizitätsprinzip unterwirft staatliches Handeln zwar nicht einem Gebot radikaler Offenheit, wohl aber der Pflicht, den Bürgern in verfassungsrechtlich vorgesehenen Situationen auch seine (Geheim-)Waffen zu zeigen, um sich kontrollieren und notfalls korrigieren zu lassen».13
[34]
Die Intransparenz von Informationsmacht, die Hoffnung auf die Befreiung aus der als bedrohlich wahrgenommenen Kontrolle durch betroffene Bürger hat es zu allen Zeiten gegeben. Indem die Macht der Herrschenden dem Zugriff und der Deutung der Bürger faktisch entzogen ist, unterliegen nach dem Selbstbild der Herrschenden auch deren Entscheidungen und Gesetze nicht mehr der cogitatio humana, den Anforderungen der Menschenrechte. Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsdeutung sind unter solchen Vorzeichen in der Paradoxie freigegeben und unter anderem auf Wahrheitssager angewiesen, die gleichwohl handeln, auch wenn sie von Hochverratsverfahren bedroht werden, da sie die Tabus der «Hohen» verraten, in Ausübung des Widerstandsrechtes, hier in der kognitiven Version, an sich auch ein rationalistisches Naturrecht, das mit der Menschenwürde und der Verteidigung von Privatheit zusammenhängt. Eine problematische Situation, die sich ihrer immanenten Probleme nicht linear zu entledigen vermag.

 

Marie-Theres Tinnefeld

Professorin für Datenschutz an der HM München

tinnefeld@hm.edu

 

Friedrich Lachmayer

Professor an der Universität Innsbruck

Tigergasse 12, 1080 Wien, AT

Friedrich.Lachmayer@uibk.ac.at

 


  1. 1 Marie-Theres Fögen, Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt/Main 1993, S. 12 f.
  2. 2 Rainer Pitschas, Allgemeines Verwaltungsrecht als Teil der öffentlichen Informationsordnung, in: Wolfgang Riem/Eberhard Schmidt Aßmann/Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, Baden-Baden 1993, S. 244.
  3. 3 Marie-Theres Tinnefeld, Die Wiederkehr der Wahrsager, ZD 2013, S. 581–584.
  4. 4 DazuImmanuel Kant, «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?», in: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Wischedel, Darmstadt 1956, Bd. VI, S. 53 ff.
  5. 5 Kants Naturrecht, gelesen im Wintersemester 1784, Bd. XXVII, Berlin 1979, S. 1322.
  6. 6 Noel Annan, Einführung, in: Isaiah Berlin. Persönliche Eindrücke, Berlin 2001, S. 29.
  7. 7 So schonCarl-Eugen Eberle, Datenschutz durch Meinungsfreiheit, DÖV 30, 1977, S. 306–312.
  8. 8 http://www.heise.de/newsticker/meldung/NSA-Affaere-UN-Resolution-fuer-mehr-Datenschutz-einstimmig-angenommen-2053841.html; Volltext: http://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=A%2FC.3%2F68%2FL.45%2FRev.1&Lang=E.
  9. 9 BVerfGE 65, 1, 43.
  10. 10 Rainer Pitschas (Fn..2), S. 246.
  11. 11 Vgl. Art. 15 Richtlinie 95/46/EG.
  12. 12 Günther Frankenberg, Datenschutz und Staatsangehörigkeit, in: Dieter Simon/Manfred Weis, Zur Autonomie des Individuums (FS Simitis), Baden-Baden 2000, S. 120.
  13. 13 Winfried Hassemer, Prognosen zum Datenschutz, in: FS Simitis, (Fn. 12), S. 122.