Jusletter IT

Augengesteuerte Kommunikation zur Abwicklung von Rechtsgeschäften für Personen mit motorischen Einschränkungen in der Laut- und Schriftensprache – Fallbericht

  • Authors: Georg Newesely / Alois Holzer / Sven Pfeil
  • Category: Articles
  • Region: Austria, Germany
  • Field of law: Legal Visualisation
  • Collection: Tagungsband IRIS 2014
  • Citation: Georg Newesely / Alois Holzer / Sven Pfeil, Augengesteuerte Kommunikation zur Abwicklung von Rechtsgeschäften für Personen mit motorischen Einschränkungen in der Laut- und Schriftensprache – Fallbericht, in: Jusletter IT 20 February 2014
Rechtsgeschäfte werden in der Regel durch mündliche, schriftliche oder konkludente gegenseitige Willensäußerungen der jeweiligen Vertragspartner abgeschlossen. Personen, die in Folge einer Sprech- oder Sprachstörung in der laut- und schriftsprachlichen Kommunikation eingeschränkt sind, können ein augengesteuertes Gerät zur Sprachausgabe benützen. Ein solcher Sprachcomputer transkodiert Zeichenobjekte (Bilder, Buchstaben, Zahlen, andere Symbole), die der Benutzer mit einem Interface anblickt, in normale Laut- und Schriftsprache. Auf diesem Wege ist es möglich, Vertragsinhalte selbständig verhandeln und ein Rechtsgeschäft autonom abschließen zu können. Der Fallbericht stellt dar, wie eine 28jährige betroffene Person einen Sprachcomputer mit Augensteuerung einsetzt, um Rechtsgeschäfte durchzuführen, und zeigt Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Sprachcomputern in der Rechtskommunikation auf.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Fallbeispiel
  • 2.1. Klientin
  • 2.2. Kommunikationsmethoden
  • 2.3. Durchführung von rechtsgeschäftlichen Akten
  • 2.4. Hindernisse in der Rechtskommunikation
  • 2.4.1. Mangelhaftes Wissen einer VertragspartnerIn über Verbalsprache hinausgehende kommunikative Möglichkeiten
  • 2.4.2. Fälschliche Unterstellung einer nicht vorhandenen oder eingeschränkten Geschäftsfähigkeit
  • 2.4.3. Nicht erfüllbare Formvorgaben
  • 3. Schlussfolgerungen
  • 4. Danksagung
  • 5. Literatur

1.

Einleitung ^

[1]

Die für einen Vertragsabschluss erforderlichen korrespondierenden Willenserklärungen der beteiligten Parteien können – soweit der Gesetzgeber keine besondere Form vorschreibt – mündlich, schriftlich oder auch konkludent ausgeführt werden. Sollte eine Person in ihrer Fähigkeit zu einer mündlichen oder schriftlichen Willensäußerung eingeschränkt sein1, vermag sie auf andere ihr verbliebene kommunikative Ressourcen zurückzugreifen. Beispiele sind der Einsatz von körpereigenen alternativen Kommunikationsformen sowie nicht-elektronische oder elektronische Kommunikationshilfen.2 So können bei Verwendung von Kommunikationsgeräten mit Augensteuerungen willkürliche Blickbewegungen als expressiver Kommunikationskanal nutzbar gemacht werden (Verfolgung der Augenbewegungen mittels einer miniaturisierten Infrarotkamera, Auslösung des Eingabesignals durch Fixieren des Blickes auf ein Objekt im Display).3 Der Austausch übereinstimmender Willenserklärungen erfolgt in diesem Fall asymmetrisch: Während die Äußerungen der VertragspartnerIn verbal erfolgen und dabei Schriftsprache oder Abbildungen allenfalls als Verdeutlichung des Gesprochenen verwendet werden, kommuniziert die in der Laut- oder Schriftsprache beeinträchtigte AnwenderIn unter Zuhilfenahme ihres EDV-Equipments, welches nonverbale Motorik in (synthetisch) gesprochene oder geschriebene Sprache umsetzt. Ein derartiges Kommunikationsgerät (Kommunikator) kann zur Nutzbarmachung bei der Bewältigung von Rechtsgeschäften so programmiert werden, dass die AnwenderIn jene Kommunikationsinhalte abrufen kann, die bei Rechtsgeschäften notwendig werden können. Die Inhalte eines Rechtsgeschäftes können durch Abbildungen (die mit einem Wort hinterlegt sind), durch Stichworte, vorgefertigte Phrasen und Texte erfolgen, die auf dem Bildschirm durch Augenbewegungen ausgewählt und dann computergestützt in der Regel akustisch ausgegeben werden. Die AnwenderIn kann mit Hilfe einer Bildschirmtastatur auch jede beliebige Äußerung buchstabieren und vom Kommunikator ausgeben lassen. Die Handhabung wird durch eine Autovervollständigungsfunktion und durch Wortbibliotheken erleichtert und die Ausgabegeschwindigkeit bei einer geübten AnwenderIn der natürlichen Sprechweise zumindest angenähert. Eine AnwenderIn benötigt neben der operationalen Kompetenz (kognitive und augenmotorische Kontrolle der Kommunikationshilfe) auch soziale Kompetenz, um die Kommunikationshilfe situationsadäquat einzusetzen.4

2.

Fallbeispiel ^

2.1.

Klientin ^

[2]
Frau L, Jahrgang 1985, leidet seit Geburt an einer Infantilen Cerebralparese, die sich bei Frau L allein in motorischen Störungen manifestiert. Da die Artikulation fein abgestimmte muskuläre Bewegungsabläufe erfordert, ist das Sprechen, d.h. die Verwendung expressiver Lautsprache nicht möglich. Gleiches gilt für das Schreiben per Hand und per Tastatur. Die Rezeption von Laut- oder Schriftsprache wie auch alle kognitiven Fähigkeiten sind von der Erkrankung nicht betroffen. Frau L studiert Erziehungswissenschaften an der Universität zu Köln und ist nebenberuflich Vortragende für Unterstützte Kommunikation.

2.2.

Kommunikationsmethoden ^

[3]
Frau L kommuniziert expressiv durch Mimik/Gestik, andere körpereigenen Methoden (Ja/Nein-Methode per Blickkontakt oder Lautieren, Auswahlmethode) und Buchstabentafeln. Insbesondere aber bedient Frau L einen Laptop mit Augensteuerung. Eine spezielle Steuerungssoftware befähigt sie zu allen computergestützten Tätigkeiten, insbesondere zur Browserbedienung sowie zum Schreiben von E-Mail und SMS. Über eine Bildschirmtastatur mit Autovervollständigung kann sie Wörter und Texte schreiben und Mitteilungen über eine synthetische Sprachausgabe sprechen lassen. Frau L ist in ihrem Kommunikationsalltag lediglich für Tätigkeiten, bei denen zusätzlich motorische Fähigkeiten benötigt werden, auf Unterstützung durch eine AssistentIn angewiesen, also für alle manipulativen Tätigkeiten wie Öffnen von Briefen, Sortieren von Blättern, Öffnen und Zurechtlegen von Büchern, Leistung einer Unterschrift etc.

2.3.

Durchführung von rechtsgeschäftlichen Akten ^

[4]
Frau L kann rechtsgeschäftliche Akte vollkommen selbständig ausführen, entweder rein mündlich (unter Nutzung der synthetischen Sprachausgabe des Sprachcomputers) oder schriftlich (durch E-Mail und allenfalls Drucker). Eine Unterstützung im Rahmen eines Rechtsgeschäftes braucht Frau L lediglich bei zusätzlichen Tätigkeiten, bei denen Hand- und Fingermotorik erforderlich sind. Für begleitende manipulative Tätigkeiten wie Entnahme von Unterlagen (Papier-Dokumente, Fotos, etc.) benötigt Frau L eine AssistentIn. Gleiches gilt für die Durchführung von rechtsgeschäftlichen Akten im Internet, wie z.B. Online-Banking oder Online-Bestellungen.

2.4.

Hindernisse in der Rechtskommunikation ^

[5]
Der Möglichkeit zur selbständigen (bzw. nur manipulativ unterstützten) Durchführung von rechtsgeschäftlichen Akten stehen jedoch Grenzen und Hindernisse entgegen. Hindernisse in der Rechtskommunikation bei Frau L sind:

2.4.1.

Mangelhaftes Wissen einer VertragspartnerIn über Verbalsprache hinausgehende kommunikative Möglichkeiten ^

[6]
Frau L berichtet, dass sie gegebenenfalls gar nicht Gelegenheit erhält, ihre kommunikativen Möglichkeiten zur Anwendung zu bringen, wenn sich potentielle Vertragspartner auf diese besonderen Kommunikationsformen nicht einlassen können und/oder wollen. Der blickgesteuerte Sprachcomputer mit synthetischer Sprachausgabe ermöglicht freilich eine der natürlichen Kommunikation sehr ähnliche Form, die auch ad hoc anwendbar ist, ohne dass es einer besonderen Vorbereitung des Gesprächspartners bedarf. Gleichwohl werden sich potentielle Vertragspartner davon erst überzeugen wollen, dass die mittels Computerstimme getätigten Aussagen von der Anwenderin so gewollt sind.5

2.4.2.

Fälschliche Unterstellung einer nicht vorhandenen oder eingeschränkten Geschäftsfähigkeit ^

[7]
Frau L berichtet, dass sie häufig erlebt, dass ihr potentielle Vertragspartner in fälschlicher Weise ihre Geschäftsfähigkeit ganz oder teilweise absprechen: «Ich erlebe es leider häufig, dass fremde Personen aufgrund meiner unwillkürlichen Bewegungen und wegen meiner fehlenden Lautsprache Rückschlüsse auf meinen geistigen Zustand ziehen. Sie trauen mir schlichtweg nicht zu, dass ich rechtskräftige Entscheidungen treffen kann. Die Tatsache, dass ich keinen gesetzlichen Betreuer habe, führt häufig zu Irritationen. Dies wird dadurch potentiert, dass ich keine eigenständige Unterschrift tätigen kann».6 Dies dürfte gegebenenfalls auch dazu führen, dass potentielle Vertragspartner aus diesen Erwägungen im Rahmen ihrer Dispositionsfreiheit von einem Rechtsgeschäft mit Frau L Abstand nehmen.

2.4.3.

Nicht erfüllbare Formvorgaben ^

[8]
Für verschiedene rechtsgeschäftliche Akte sind Formvorgaben vorgesehen, wie die Unterschrift bei einer Kontoeröffnung, einer beleghaften Überweisung oder Kreditkartenzahlung. Aufgrund der motorischen Einschränkungen ist Frau L zu einer Leistung der eigenhändigen Unterschrift nicht in der Lage und erfordern derartige Rechtsakte die Beiziehung einer bevollmächtigten Person. Insofern ist es für Frau L am einfachsten, solche rechtsgeschäftlichen Akte online abzuwickeln.

3.

Schlussfolgerungen ^

[9]
Nonverbale Kommunikationsverfahren ermöglichen es grundsätzlich unabhängig von der angewandten Methode, rechtsgültige Willenserklärungen abzugeben und rechtsgeschäftliche Akte durchzuführen. Dies trifft insbesondere bei der Verwendung eines augengesteuerten Kommunikationsgerätes zu, welches der natürlichen verbalen Kommunikation sehr nahe kommt und keiner besonderen Einstellung oder Einschulung einer VertragspartnerIn notwendig macht. Grenzen ergeben sich aus mangelhaftem bis fehlendem Wissen über die Verbalsprache hinausgehende kommunikative Möglichkeiten, fehlerhafter Einschätzung der Geschäftsfähigkeit und aus abwicklungstechnischen Formalvorgaben im Rahmen eines Rechtsgeschäftes.
[10]
Wünschenswert sind daher
  • Aufklärungsarbeit über unterstützende Kommunikationsformen, bereits im Bildungswesen (Schulen), um Hindernisse für die Kommunikation solcher Menschen allgemein verringern zu helfen, insbesondere aber in weiterer Folge in rechtsnahen Bereichen hinsichtlich der Anwendungsmöglichkeiten im Rechtsverkehr;
  • Aufklärungsarbeit, dass bei Personen mit Kommunikationsstörungen nicht unbedingt auch eine Einschränkung der Geschäftsfähigkeit vorliegt;
  • Entwicklung und Verbreitung praktikabler Möglichkeiten zur Bewältigung von Formvorschriften (z.B. Unterschrift), etwa durch wechselseitige E-Mail-Bestätigungen oder digitale Unterschriften (Signaturen).

4.

Danksagung ^

[11]
Wir danken Frau L7 für ihre Bereitschaft zu den Interviews und ihre Zustimmung zur Veröffentlichung.

5.

Literatur ^

Duchowski, A., Eye Tracking Methodology. Theory and Practice, 2. Auflage, Springer, London (2007).

Mattle, H./Mumenthaler, M., Neurologie, Thieme, Stuttgart (2008).

Nonn, K., Unterstützte Kommunikation in der Logopädie, Thieme, Stuttgart (2011).

Pannasch, S./Helmert, J.R., /Malischke, S./Storch, A./Velichkovsky, B.M., Eye Typing in application: A comparison of two systems with ALS patients. Journal of Eye Movement Research 6, 1-8 (2008).


 

Georg Newesely

fh gesundheit, FH-Bachelor-Studiengang Logopädie

Innrain 98, 6020 Innsbruck, AT

georg.newesely@fhg-tirol.ac.at;  https://www.fhg-tirol.ac.at/page.cfm?vpath=fachhochschule/aktuell

 

Alois Holzer

fh gesundheit, FH-Bachelor-Studiengang Logopädie

Innrain 98, 6020 Innsbruck, AT

alois.holzer@fhg-tirol.ac.at, https://www.fhg-tirol.ac.at/page.cfm?vpath=fachhochschule/aktuell

 

Sven Pfeil

Tobii Technology GmbH

Niedenau 45, 60325 Frankfurt am Main, DE

sven.pfeil@tobii.com, http://www.tobii.com/

 


 

  1. 1 Es handelt sich um Personen, die – durch verschiedene Grunderkrankungen wie z.B. Multiple Sklerose, Amyothrophe Lateralsklerose, Morbus Parkinson bedingt –in ihren motorischen, nicht aber in ihren kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt sind. Allein von der Multiplen Sklerose sind bei einer Prävalenz von 30–110 Erkankten pro 100.000 Einwohner (Mattle/Mumenthaler, Neurologie, S. 351 [2008]) in Deutschland ca. 122.000, in Österreich ca. 8.500 und in der Schweiz ca. 10.000 Personen betroffen.
  2. 2 NeweselyÜber das Verbale hinausgehende rechtliche Willensbekundungen durch Personen mit Sprachstörungen, in: Jusletter-IT 1. September 2010, Rz. 3.
  3. 3 Newesely/Pfeil/Holzer, Multimodaler Zugang für Personen mit Sprech- und Sprachstörungen bei der Abwicklung von alltäglichen Rechtsgeschäften, in: Jusletter-IT 20. Februar 2013, Rz. 3; Duchowski, Eye Tracking Methodology. Theory and Practice, passim (2007); Pannasch/Helmert/Malischke/Storch/Velichkovsky, Eye Typing in application: A comparison of two systems with ALS patients. Journal of Eye Movement Research 6, 1–8 (2008).
  4. 4 Nonn, Unterstützte Kommunikation in der Logopädie, S. 18 (2011).
  5. 5 Von diesen Erfahrungen berichtet Frau L auch in einer Schilderung, wonach sie als Jugendliche als Zeugin in einem Zivilprozess (Verkehrsunfall) vorgeladen wurde und der Richter erst zu überzeugen gewesen ist, dass sie durch die Verwendung ihres augenbewegungsgestützten Kommunikationsgerätes zu einer Aussage in der Lage war (http://kathrinlemler.de/fileadmin/dateien/archiv_geschichten/20050201Als_Zeugin_vor_Gericht.pdf [8. Januar 2014]).
  6. 6 Interview mit Frau L vom 16. Dezember 2013.
  7. 7 http://kathrinlemler.de/ (persönliche Homepage von Frau L).