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Archivium und die Kooperation mit dem Bundesministerium für Justiz

  • Author: Wolfgang Heufler
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: E-Justice
  • Citation: Wolfgang Heufler, Archivium und die Kooperation mit dem Bundesministerium für Justiz, in: Jusletter IT 19 November 2015
Das elektronische hochsichere Urkundenarchiv der österreichischen Rechtsanwälte hat als GOG-Archiv am 1. Juli 2007 seinen Vollbetrieb aufgenommen und bis 2013 mehr als 1,7 Mio Urkunden archiviert. Dank der hervorragenden Unterstützung durch Ltd. StA Dr. Martin Schneider vom BMJ ist eine nahezu vollständige Anschlussquote der österreichischen Anwälte erreicht worden und die Akzeptanz der elektronischen Einbringung bei Firmenbuch und Grundbuch flächendeckend vorhanden.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Das elektronische Urkundenarchiv Archivium
  • 1.1. Entstehungsgeschichte
  • 1.1.1. Umfang der Leistungen
  • 2. Offene Systemarchitektur
  • 2.1. Betriebssysteme
  • 2.2. Support und Fernwartung
  • 3. Archivium Zusatznutzen und Anwendungen für die Anwaltschaft
  • 3.1. Speicherung wichtiger Urkunden ausserhalb von Grundbuch und Firmenbuch als Save Harbour
  • 3.2. Prioritätsnachweis für geistiges Eigentum
  • 3.3. Closed Circuit bei M & A- Due Diligence
  • 3.4. Gemeinsame Urkunden in Massenverfahren
  • 3.5. Back-Up für Buchhaltung und Anwaltsdokumente
  • 4. Archivium technische Weiterentwicklung
  • 5. Weitere Anwendungen Pro Futuro

1.

Das elektronische Urkundenarchiv Archivium ^

[1]
Der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) als Körperschaft öffentlichen Rechts hat von der Ermächtigung des Gesetzgebers zur Errichtung eines Urkundenarchives nach § 91c Gerichtsorganisationsgesetz (GOG) Gebrauch gemacht und aufgrund der Urkundenarchiv-Richtlinie gem. § 37 Abs. 1 Z 7 Rechtsanwaltsordnung (RAO) den Betrieb dieses Systems an die eigens dafür gegründete Betreibergesellschaft Archivium Dokumentenarchiv GmbH übertragen. Die für den Verkehr mit den Gerichten bestimmten Urkunden geniessen die Legalvermutung des echten Originals bis zum Beweis des Gegenteils, sofern diese Urkunden unter Beachtung der strengen Zugangs- und Sicherheitsvorschriften von einem berufsberechtigten Rechtsanwalt unter Verwendung seines elektronischen, mit einer gültigen Rechtsanwaltssignatur versehenen Rechtsanwaltsausweises ins System eingebracht, von der Justiz aus dem System elektronisch abgerufen wurden und dabei der Archivium-Systemrechner eine gültige Ausgangssignatur erstellt hat. Durch diese legistische Originalfiktion einer elektronischen Urkunde konnte das Firmenbuch und das Grundbuch nahezu vollständig auf die elektronische Eingabe und elektronische Beilagenverwendung umgestellt werden, was neben der erzielten Beschleunigung der Antragserledigungen auch die Verwendung des Elektronischen Rechtsverkehrs in Firmenbuch- und Grundbuchssachen ermöglichte.

1.1.

Entstehungsgeschichte ^

[2]
Bereits 1999 gab es Überlegungen, die Urkundensammlungen von Grundbuch und Firmenbuch ins elektronische Zeitalter zu konvertieren und die kostspieligen und personalintensiven Papierurkundensammlungen durch elektronische Datenbanken zu ersetzen. Dabei war der elektronische Zugriff zu diesen öffentlichen Urkundensammlungen via Internet für jedermann ein Fernziel, das durch die Publizitäts-Richtlinie der EU betreffend das Firmenbuch (ab 2007 obligatorisch) entsprechend beschleunigt erreicht wurde. Das Grundbuch wurde logischerweise parallel dazu ebenfalls umgestellt. Der ÖRAK hat diese Entwicklungen stets verfolgt und seit 2000 das Projekt eines eigenen elektronischen Urkundenarchives betrieben.
[3]

Aufgrund der Komplexität wurde 2005 mit dem Technologiepartner Siemens Österreich AG eine gemeinsame Gesellschaft gegründet, die nach 2-jähriger Entwicklungsarbeit am 1. Juli 2007 als Archivium Dokumentenarchiv GmbH ihren Betrieb aufnahm (siehe auch www.archivium.at).

1.1.1.

Umfang der Leistungen ^

  • Betrieb des hochsicheren elektronischen Urkundenarchives nach GOG
  • Bereitstellung der Zugangs- und Berechtigungssoftware
  • Technischer und rechtlicher Support Hotlines/Rundschreiben
  • Direkthilfe via Fernwartung
[4]
Wichtige Änderungen und Ergänzungen des Leistungsangebotes wurden stets in allerbester Kooperation mit Ltd. StA Dr. Martin Schneider vom BMJ sowohl durch legistische Anpassungen in den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen als auch durch enge technische Kooperation mit dem Bundesrechenzentrum durchgeführt
[5]
Auch bei den seltenen Störfällen des Betriebes ist es dem BMJ zu danken, daß durch Information der Gerichte und der betroffenen Justizdienststellen eine bestmögliche Krisenintervention erfolgte. Durch gezielte Schulungsmaßnahmen der Justiz-EDV-Teams bei Bezirksgerichten konnte die anfängliche Skepsis der Justizbediensteten zur elektronischen Urkundeneinbringung vollkommen beseitigt werden.

2.

Offene Systemarchitektur ^

2.1.

Betriebssysteme ^

[6]
5.800 Rechtsanwälte in Österreich verwenden verschiedenste Hardwarekomponenten in ihrer Kanzlei-EDV. Zusammen mit den verschiedenen Betriebssystemen ergeben sich rein rechnerisch mehr als 20.000 verschiedene Systemumgebungen, unter denen das Archivium-System zu laufen hat. Im Gegensatz zum Notariat, welches für dessen Urkundenarchiv einen einheitlich konfigurierten, identischen Master-PC und einheitliche Systemscanner vorgeschrieben hatte, konnte die Anwaltschaft einen Einheitsrechner standespolitisch niemals durchsetzen und wäre der Widerstand der Kollegenschaft enorm gegen eine «Zwangsbeglückung» gewesen. Das System musste offen entwickelt werden und jedes handelsübliche Hardwaresystem und die Peripheriegeräte abdecken. Zusammen mit oft ungebräuchlichen seltenen Systemumgebungen stellen exotische Rechner für den Archivium-Support eine große Herausforderung dar, die allerdings bis dato in mehr als 50.000 Supportfällen stets gelöst werden konnte.
[7]
Hilfreich war wiederum das Bundesministerium für Justiz, das von Anfang an ein einheitliches, langfristig verfügbares Dateiformat für die einzubringenden Urkunden im Auge hatte. Dr. Martin Schneider hat visionär das PDF/A-Format nach der anfänglich genutzten TIFF-Formatdatei für den gesamten elektronischen Rechtsverkehr und die Urkundenarchive durchgesetzt und so einen allgemein gültigen Standard vorgegeben.
[8]
Windows als markthäufigstes Betriebssystem wird von Archivium unterstützt, die Anpassungen an die jeweiligen aktuellen Versionen erfolgt laufend. Alte Versionen, die von Windows nicht mehr servisiert werden, so etwa Windows XP ab 2014, laufen aus und kann Archivium nicht mehr für deren Systemsicherheit garantieren.

2.2.

Support und Fernwartung ^

[9]
Durch die Einrichtung einer Fernwartung und eines siebenköpfigen Support-Teams kann die Archivium-Serviceline in kürzester Zeit Hilfe anbieten und steht dieser Service kostenfrei täglich von 09:00 bis 17:00 Uhr zur Verfügung.

3.

Archivium Zusatznutzen und Anwendungen für die Anwaltschaft ^

3.1.

Speicherung wichtiger Urkunden ausserhalb von Grundbuch und Firmenbuch als Save Harbour ^

[10]
Neben den für Grundbuch und Firmenbuch bestimmten Urkunden steht es den Rechtsanwälten frei, die Archivierung unter der GOG-Originalfiktion auch für jedwede vom Klienten beigebrachte Originalurkunde gegen Entgelt durchzuführen und für 7 oder 30 Jahre zu speichern. Dies wird gerne angenommen bei Vertragsurkunden, Personalakten und allen vertraulichen Urkunden im Geschäftsbereich.

3.2.

Prioritätsnachweis für geistiges Eigentum ^

[11]
Archivium wird von zahlreichen Rechtsanwälten im Auftrag ihrer Klienten zur zeitmässig exakt erfassten (Logfile, Zeitstempel) erstmaligen Archivierung von Werken im Sinne des Urheberrechtes und der damit verwandten Persönlichkeitsrechte sowie des Markenrechtes verwendet.
[12]
Hier dient das Archiv zu Beweiszwecken der Priorität eines Werkes.

3.3.

Closed Circuit bei M & A- Due Diligence ^

[13]
Anwälte berichten, daß bei Mergers and Aquisitions Transaktionen der «Data-Room» durch die jeweilige Urkundeneingabe ins Archivium und gezielte Freigabe der Daten an die beteiligten Anwälte in Verwendung steht. Die geforderte Vertraulichkeit ist durch die Authentifizierungs-Procedure und die Identifikation mit Anwaltssignatur nebst Verschlüsselung der Daten in höchstem Maße gesichert.
[14]
Auch bei mehrseitigen Vertragsverhandlungen können die jeweiligen Versionen der Entwürfe zur Sicherung der Vertraulichkeit und der Wahrung der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht ins Archivium eingestellt werden und durch Freigabe an die leseberechtigten Kollegen von diesen elektronisch verschlüsselt aus dem Archiv abgeholt werden. Dieser Prozess kann mittels eines Laptops mit Anwaltsausweis und Kartenlesegerät von jedem beliebigen Ort aus erfolgen.

3.4.

Gemeinsame Urkunden in Massenverfahren ^

[15]
Gerade bei aufwendigen Massenprozessen (z.B. Anlegerschadenersatzverfahren mit mehreren Hundert Geschädigten) ist es hilfreich, wenn auf ständig benötigte, gleichartige Urkunden (Mustervertrag, Formulare, Protokolle) von jedem Parteienvertreter und vom Gericht jederzeit zugegriffen werden kann, ohne daß diese Urkunden aufwändig als Papierbeilage oder als Beilage zu einer ERV-Eingabe als PDF jedesmal gesondert vorgelegt werden muss.
[16]
Durch die Archivierung dieser Urkunden im Archivium und Freigabe für Justiz und die beteiligten Rechtsanwälte ist eine effiziente und einfache Dokumentennutzung durch Verweis auf das Archiv und die ID-Nummer der Urkunde möglich.
[17]
Dies gilt auch für aufwändige Wirtschaftsstrafverfahren mit mehreren Beteiligten und ist prinzipiell für jede Verfahrensart (Verlassenschaften, Insolvenzverfahren) anwendbar und sinnvoll.

3.5.

Back-Up für Buchhaltung und Anwaltsdokumente ^

[18]
Im zunehmenden Masse haben die Rechtsanwälte erkannt, daß das Archivium auch sehr gut für die langfristige sichere Datensicherung der heiklen eigenen Anwaltsdokumente geeignet ist.
[19]
Insbesondere ganze Buchhaltungen werden durch Archivierung als Sammeldokument kostengünstig für die gesetzlich nach BAO vorgeschriebenen 7 Jahre aufbewahrt und in Einzelfällen werden Kanzleiurkunden für 30 Jahre gespeichert.
[20]
Damit ist für den Fall eines EDV-Ausfalls in der Kanzlei ein gesichertes Back-Up der so archivierten Dateien in kürzester Zeit möglich.

4.

Archivium technische Weiterentwicklung ^

[21]
Das System kommt in die Jahre und läuft seit nunmehr über 6 Jahren, in der IT ist dies eine sehr lange Zeitspanne. An einer Revision und Modernisierung wird man nicht umhinkommen. Die Arbeiten daran beginnen gerade.

5.

Weitere Anwendungen Pro Futuro ^

[22]
Archivium hat seine Fühler über die Landesgrenzen hinaus gestreckt. Durch die tatkräftige Unterstützung und Vermittlung des BMJ – oft auch in gemeinsamen Vorträgen und Präsentationen in ganz Europa – konnten Rechtsanwaltsvereinigungen in der Schweiz, in Deutschland und in Luxemburg nebst deren Justizverwaltungen für das elektronische Urkundenarchivsystem und den Elektronischen Rechtsverkehr ERV begeistert werden. Zahlreiche Veranstaltungen wurden vom BMJ und von Archivium koordiniert durchgeführt und mitgestaltet. Da die Nachbarländer beim Elektronischen Rechtsverkehr noch einen weiten Weg zu gehen haben, wird diese langfristige europäische Kooperation und mögliche Lizensierung des österreichischen Erfolgsmodells noch lange Zeit in Anspruch nehmen.
[23]
Der Weg dorthin ist jedenfalls vorgezeichnet und die meßbaren Erfolge des österreichischen Modells sowie die mehr als 25-jährige Erfahrung mit dem Elektronischen Rechtsverkehr – beruhend auf der Kompetenz und dem unermüdlichen Einsatz des «Vaters des ERV» LstA Dr. Martin Schneider vom BMJ – ermutigen die Länder mit vergleichbaren Justizsystemen zur Nachahmung dieser Entwicklung.

 

Wolfgang Heufler, Geschäftsführer der Archivium Dokumentenarchiv GmbH, Friedrichstrasse 6, 1010 Wien, Arbeitskreis-Vorsitzender EDV+Organisation des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages, Tuchlauben 12, 1010 Wien, office@ra-heufler.at.