Jusletter IT

Zusammenarbeit der Justiz mit IBM

  • Authors: Tatjana Oppitz / Sonja Grassberger / Johann Kickinger
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: E-Justice
  • Citation: Tatjana Oppitz / Sonja Grassberger / Johann Kickinger, Zusammenarbeit der Justiz mit IBM, in: Jusletter IT 19 November 2015
Die Zusammenarbeit des Bundesministeriums für Justiz mit IBM als Projektpartner für Innovation, Technologie und Anwendungsentwicklung umfasst bereits einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren und hat Schlüsselprojekte der Justiz wie die Entwicklung und Erweiterungen der Anwendungen Grundbuch, Firmenbuch, Verfahrensautomation Justiz und den Elektronischen Rechtsverkehr wesentlich beeinflusst und mitgestaltet.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Vorwort
  • 2. IBM als Unternehmen und aktuelle Themen
  • 2.1. IBM Österreich
  • 2.2. Trends & Aktuelle Themen
  • 3. Historie der Zusammenarbeit Justiz mit IBM
  • 3.1. Grundbuch
  • 3.2. Die erste Version der Verfahrensautomation Justiz
  • 3.3. Verteilte Datenverarbeitung
  • 3.4. PCs und lokale Netzwerke
  • 3.5. Elektronischer Rechtsverkehr (ERV)
  • 3.6. Firmenbuch
  • 3.7. Projekt «Redesign – Verfahrensautomation Justiz»
  • 3.8. Ediktsdatei – www.edikte.justiz.gv.at
  • 3.9. Europäisches Mahnverfahren
  • 4. Würdigung: Erfolgsfaktoren der Justiz und des Jubilars

1.

Vorwort ^

[1]
Seit über 30 Jahren pflegen das Bundesministerium für Justiz und IBM eine enge und innovative Partnerschaft. Es ist mir daher eine große Freude, diese Festschrift mit meinen persönlichen Eindrücken zu unseren gemeinsamen Erfolgen einleiten zu dürfen.
[2]
Das Bundesministerium für Justiz ist seit Jahrzehnten Vorreiter bei innovativen IT-Lösungen und setzt damit beim E-Government Maßstäbe. Nicht ohne Grund liegt Österreich hier weltweit ganz an der Spitze: Der öffentliche Sektor setzt die IT sehr überlegt, aber auch sehr konsequent ein. Dr. Martin Schneider hat mit seiner Innovationskraft und seinem internationalen Horizont diesen Weg maßgeblich mitgestaltet. Über die österreichischen Landesgrenzen und die Gegenwart hinaus denkend, hat er mit den Möglichkeiten eines im internationalen Vergleich kleinen Landes beispielhafte Lösungen miterdacht und umgesetzt. Gerade die Justiz achtet darauf, neue Technologien zu wählen, die mit Sicherheit auch in Zukunft Bestand haben. Mit dem Einsatz von Know-How und neuesten Technologien der IBM können wir zahlreiche gemeinsame Erfolge aufweisen.
[3]
Dabei war der erste große Bereich der Justiz, der auf Computer umgestellt wurde, das Grundbuch. 1981 erhielt IBM den Auftrag, das ehrwürdige Grundbuch ins IT-Zeitalter zu beamen, was gemeinsam mit abenteuerlichem Pioniergeist – es waren sogar EDV-Experten der IBM aus dem NASA Spaceshuttle Programm beteiligt – erfolgreich umgesetzt wurde. Damit wurde nicht nur eine Kernanwendung der österreichischen Justiz aus der Wiege gehoben, sondern zugleich der Grundstein für die bis heute höchst erfolgreiche Partnerschaft mit der IBM gelegt.
[4]
In verschiedenen Rollen war ich in die diversen Projekte rund um das elektronische Rechtswesen auch persönlich eingebunden. Von 1995–1998 ganz besonders intensiv als Kundenbetreuerin des Bundesministerium für Justiz. In dieser Zeit entschied sich das Justizministerium für die Software-Plattform Java, die damals im öffentlichen Bereich noch kaum bekannt war. Seitdem ist Java Bestandteil der Zielarchitektur für alle Justizanwendung. Für mich auch deshalb ein Projekt, an das ich mich gerne zurück erinnere, da es die Schlagkraft einer innovativen Partnerschaft unter Beweis stellt.
[5]
Das Prinzip ist in unseren Projekten seit über drei Jahrzehnten das gleiche geblieben: Neue innovative Services und Kanäle zum Bürger anbieten, die Produktivität erhöhen und dabei gleichzeitig IT Kosten senken. Die internationale Vorreiter-Rolle hat das Bundesministerium für Justiz dabei beispielsweise bei der Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs und bei der Umstellung auf elektronische Führung des Firmenbuchs unter Beweis gestellt. IBM konnte unter anderem auch beim «Project Redesign» – der technologischen und funktionalen Erneuerung der bis dahin geschaffenen Verfahrensregister – zeigen, wie man den Ausbau der IT-Landschaft zum gemeinsamen Erfolg macht. Als aktuellere Beispiele möchte ich hier auch noch den Elektronischen Gerichtsakt und Österreichs führende Rolle beim europaweiten Projekt e-CODEX, das auf einen verstärkten internationalen Datenaustausch zwischen Justizsystemen abzielt, anführen.
[6]
Die Liste der hervorragenden Beispiele für in Realität umgesetzte Visionen ist also lang. Dr. Martin Schneider ist ein wesentlicher Antrieb für diese Erfolge. Die Energie, dies zu ermöglichen, zählt wohl zu seinen beneidenswerten Talenten, die Beharrlichkeit gesteckte Ziele auch zu erreichen, zu seiner Persönlichkeit. Damit möchte ich mich für die lange und vertrauensvolle Partnerschaft mit der IBM, aber auch für unsere persönliche Zusammenarbeit bedanken.

2.

IBM als Unternehmen und aktuelle Themen ^

[7]
IBM ist einer der weltweit größten Anbieter von Informationstechnologie (Hardware, Software und Services). Das Lösungsportfolio reicht vom Supercomputer über Software und Dienstleistungen inklusive Beratungsleistungen, bis hin zur Finanzierung. Seit über 100 Jahren bringt IBM Innovationen hervor, die die Zukunft unserer Gesellschaft prägen. Mit über 400.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entwickelt IBM innovative Lösungen für einen vielfältigen Kundenstamm. IBM arbeitet dabei rund um den Globus mit Regierungen, Unternehmen und Forschern zusammen. IBM investiert jährlich rund 6 Milliarden Dollar in Forschung und Entwicklung und ist damit der größte private Forschungsbetrieb weltweit. Im Fokus stehen gesellschaftliche Verantwortung und smarte Lösungen für weltweit relevante Probleme.
[8]
IBM hat 2012 6.478 U.S. Patente angemeldet und ist damit seit über 20 Jahren das innovativste Unternehmen in den USA. Die Marke IBM belegt bei branchenunabhängigen Rankings regelmäßig einen Platz unter den Top-3 der wertvollsten Marken der Welt. Das Unternehmen blickt auf eine mehr als hundertjährige Tradition als Business Company zurück und feiert 2013 sein 102-jähriges Bestehen.

2.1.

IBM Österreich ^

[9]
IBM stellt ihr breites Spektrum an IT-Services und Beratung seit 1928 auch dem österreichischen Markt zur Verfügung. Ihren Hauptsitz hat IBM Österreich in Wien. IBM ist zudem mit 7 Standorten in ganz Österreich vertreten und verfügt über Geschäftsstellen in Graz, Linz, Salzburg, Klagenfurt, Innsbruck und Bregenz. Country General Manager und Vorsitzende der Geschäftsführung der IBM Österreich GmbH ist Mag. Tatjana Oppitz.
[10]
Die Unternehmensbereiche Global Business Services (GBS), Global Technical Services (GTS), Software Group (SWG) und Systems & Technology Group (STG) unterstützen heimische und internationale Kunden in Fragen der IT-Infrastruktur und helfen bei der Entwicklung und Umsetzung innovativer Lösungen für einen effizienten und nachhaltigen Einsatz der IT. Ergänzend gewährleistet ein dichtes Netz an Business Partnern die Nähe zum Kunden und Zugang zu umfassenden lokalen wie auch globalen Ressourcen.

2.2.

Trends & Aktuelle Themen ^

[11]
IBM ist seit Jahren weltweit führend in Forschung und Entwicklung. In den zwölf Labors, die rund um den Erdball angesiedelt sind, um eine 24-stündige Forschungsarbeit zu gewährleisten, werden die Megatrends, die bestimmend für die nächsten drei bis 10 Jahre sind, antizipiert und Lösungen für zukünftige Herausforderungen gestaltet und definiert – eine wesentliche Rolle spielt dabei die gemeinsame Forschung mit Universitäten und anderen akademischen Einrichtungen. Im Zuge des jährlichen «Global Technology Outlooks» versucht IBM ihre Kunden auf die kommenden Trends aufmerksam zu machen und auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Die aktuellen Entwicklungen 2013 stehen ganz im Zeichen von Big Data, Cloud, Mobile, Social und Internet of Things und leiten gemeinsam mit dem «Cognitive Computing» Trend eine neue Ära in der Informationstechnologie ein. Damit den Kunden der Einstieg in neue Entwicklungen erleichtert wird, versucht IBM durch Laborbesuche oder Innovationsworkshops diese Trends zu vermitteln. Mit den Mitarbeitern des Justizministeriums werden traditionell regelmäßig solche Veranstaltungen gestaltet und wir legen Wert auf kontinuierlichen Informationsaustausch. Dr. Schneider gilt als Person, die unsere gemeinsamem Veranstaltungen stets unterstützt und Innovationsimpulse setzt. IBM versteht sich in diesem Sinne als Partner von Komplementärdienstleistungen für das Justizministerium und bringt all jene Werte und Skills in die Innovationspartnerschaft ein, die ergänzend zur Fachkompetenz der Justiz und des Bundesrechenzentrums zur Nutzenstiftung beitragen.
[12]
Dr. Schneider versteht es, Veränderungen rechtzeitig zu erkennen, Lösungen voranzutreiben und Maßnahmen zu setzen, auch wenn diese nicht immer bequem oder arbeitsintensiv sind. Ein derartig zukunftsorientiertes Projekt ist Justiz 3.0, zu dem IBM eingeladen ist, entscheidend mitzuwirken.
[13]
Weitere, im Zuge dieses Vorhabens relevante, Themen betreffen den Aufbau einer elektronischen Integrationsplattform für alle Anwendungen des Justizarbeitsplatzes, um sämtliche Zielgruppen und Stakeholder möglichst optimal zu unterstützen. Mit diesem Vorhaben geht der Ausbau des elektronischen Dokumentenmanagement und Workflow Systems einher. Im Kontext der «Big Data» Entwicklung identifizieren wir gemeinsam Schlüsselaktivitäten für das Justizministerium. So wird die effiziente Analyse unstrukturierter Daten speziell für das Justizressort immer stärker an Bedeutung gewinnen. Die Integration mobiler Geräte in die internen wie externen Abläufe («Front Office Digitization») wird ein zweiter Faktor sein, der den Erfolg der modernen Verwaltungsaufgaben des BMJ immer stärker bestimmen wird und auch hier sollten entsprechende Vorkehrungen getroffen werden. Für alle Bereiche, die beispielhaft dargestellt wurden, steht IBM mit Know-how und Innovationskraft gerne zur Verfügung, um gemeinsam die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen.

3.

Historie der Zusammenarbeit Justiz mit IBM ^

[14]
Die Zusammenarbeit der österreichischen Justiz mit IBM erstreckt sich bereits über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren. Bereits Anfang der 1980-iger Jahre wurde mit den Vorbereitungen für die Entwicklung der ersten IT-Lösung für das österreichische Grundbuch begonnen – was zum damaligen Zeitpunkt der Beginn einer wirklich signifikanten Pionierleistung war.
[15]
In diesen Pionierzeiten ergab sich für den – damals noch – jungen IBM «Associate System Engineer» Johann Kickinger der Erstkontakt mit den IT-Projekten der Justiz, deren IT-Zuständigkeiten – schon damals – wirklich hochkarätig besetzt waren:
  • Dr. Otto Oberhammer, Sektionschef der Präsidialsektion, der nach seiner Funktion als ORF Generalsekretär ins Justizministerium zurückgekehrt war. Ein für diese Zeit untypischer Beamter, der die Justiz als Unternehmen sah und begann Prinzipien der Unternehmensführung wie Kosten/Nutzen-Rechnung auch deutlich sichtbar auf das Ministerium anzuwenden, z.B. mit «Rationalisierung durch IT-Einsatz». Gleichzeitig hat er streng darauf geachtet, dass jede Nutzendarstellung quantifiziert wird, damit jede budgetäre Investition auch bis hinauf zum Bundesminister gerechtfertigt werden kann.
  • Dr. Helmut Auer, Abteilungsleiter in der Präsidialsektion, der sich wirklich große Verdienste bei der Einführung der Grundstücksdatenbank erworben hat.
  • Dr. Martin Schneider, ein scharfsinniger junger Staatsanwalt, der als Referent in der Abteilung von Dr. Auer begonnen hat und für sonstige IT-Anwendungen neben dem Grundbuch zuständig war, z.B. für das damalige mehrplatzfähige Wang Textverarbeitungssystem im BMJ. Auffällig war schon damals seine Aufgeschlossenheit für technische Innovationen, die er in Hinblick auf einen möglichen Nutzen für die Justiz untersucht und meistens auch selber gleich getestet hat. Mit dem zunehmenden Einsatz von IT-Anwendungen in der Justiz, die er wesentlich mitgestaltet hat, ist sein Aufgabenbereich kontinuierlich gewachsen und Dr. Martin Schneider hat sich als – national und international – hoch geschätzter Leiter der Rechtsinformatikabteilung und als stellvertretender Sektionsleiter der Präsidialsektion im österreichischen Bundesministerium für Justiz etabliert.
[16]
Charakteristisch für Justizprojekte ist, dass sie sich praktisch immer mit zwei wesentlichen Teilbereichen auseinandersetzen müssen: Mit einer juristisch dominierten Komponente zur Schaffung der gesetzlichen und organisatorischen Grundlagen durch Anpassung von Gesetzen und/oder Verordnungen inklusive der Erhebung der sonstigen gesetzlichen Anforderungen und Rahmenbedingungen sowie mit einem zweiten eher technisch dominierten Teil, der die Aufgaben zur Entwicklung oder Anpassung einer IT-Anwendung samt der benötigten Infrastruktur umfasst. Eine optimale Lösung erfordert meist Änderungen auf beiden Seiten. Neben der Entwicklung einer Vision der angestrebten Lösung liegt daher der wesentliche Erfolgsfaktor für ein Justizprojekt in der sorgfältigen Planung, Koordination und Abstimmung der notwendigen juristischen und technischen Änderungen.
[17]
Speziell bei der Entwicklung von Projekten auf Basis neuer und innovativer Technologien durfte IBM als Partner der Justiz oft Beiträge liefern oder sogar Entwicklungspartner sein. Im folgenden Text finden sie daher eine Übersicht von wichtigen Justizprojekten zu denen IBM beitragen durfte.

3.1.

Grundbuch ^

Fachlicher Hintergrund

[18]
Anfang der 1980-iger Jahre wurden bei den damals 224 Grundbuchgerichten mehr als 2,2 Millionen aufrechte Einlagen manuell in den sogenannten Hauptbüchern geführt. Für Einlagen mit vielen Änderungen und Löschungen war es in vielen Fällen schwierig geworden den aktuellen Grundbuchstand aus den historischen Eintragungen zu rekonstruieren. Bereits 1980 wurden daher die gesetzlichen Grundlagen für ein EDV-geführtes Grundbuch in Form des Grundbuchumstellungsgesetzes geschaffen.
[19]
Die Grundstücksdatenbank umfasst einerseits Daten, die vom örtlich zuständigen Bezirksgericht geführt werden (z.B. das B- und C-Blatt mit den Besitzverhältnissen und den Belastungen eines Grundstückes), enthält aber auch Kataster-Daten wie Fläche (im A-Blatt) und Grenzpunkte, für deren Führung das jeweilige Vermessungsamt zuständig ist. Das Projekt konnte daher nur durch eine enge Kooperation des Bundesministeriums für Justiz mit dem damaligen Bundesministerium für Bauten und Technik (heute Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend) realisiert werden, das für die Vermessungsämter sowie das Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen zuständig war. Da bereits im Gesetz vorgesehen war, dass die Grundstücksdatenbank im Bundesrechenzentrum betrieben wird (damals noch als Bundesrechenamt organsiert – eine nachgeordnete Dienststelle des Finanzministeriums, heute in Form der Bundesrechenzentrum GmbH) war auch das Bundesrechenzentrum von Anfang an eingebunden.

Technik

[20]
Technisch wurde die Grundstücksdatenbank auf Basis des IBM Softwareprodukts IMS (Information Management System) realisiert. IMS besteht aus zwei – auch getrennt verfügbaren – Komponenten: IMS DB einer hierarchischen Datenbank (relationale Datenbanken waren zu damaligen Zeitpunkt ja erst in ihrer Entwicklungsphase) und IMS TM (Transaction Manager, vormals IMS/DC – Data Communication) einem Transaktionsmonitor zur Steuerung der Dialogprogramme zur Verarbeitung der Benutzereingaben. IBM TM stellt den Dialogprogrammen eine einfache Programmierschnittstelle für Ein- und Ausgabenachrichten in Form der «Message Queue» zur Verfügung – ein sehr modernes Konzept, das erlaubt hat die Dialogprogramme mit einer reine Datenschnittstelle unabhängig von den technischen Details des Endgerätes (den Datenstrom zum physischen Bildschirm mit allen Steuerzeichen hat die Systemkomponente IMS/MFS – Message Format Services erzeugt) zu machen und auch unabhängig davon ob die Input-Message von einem Bildschirm oder einem anderen Programm erzeugt wurde. Als Endgeräte für die Benutzer in den Grundbuchabteilungen der Bezirksgerichte wurden typischerweise IBM 3270-Bildschirmterminals und Drucker und später dann PCs mit 3270-Emulation verwendet.
[21]
Die Ursprünge von IMS – insbesondere der hierarchischen Datenbank IMS DB – gehen auf ein Programmsystem zurück, das von IBM gemeinsam mit anderen Firmen Ende der 1960-iger Jahre für die Stücklistenverwaltung des Apollo Raumfahrtprogrammes entwickelt wurde. Unter dem Namen IMS wurde dieses Softwareprodukt von IBM ab dem Jahr 1969 angeboten und seither ständig weiterentwickelt.
[22]
Die wesentliche Eigenschaft einer hierarchischen Datenbank ist, dass sie den effizienten Zugriff auf Baumstrukturen erlaubt. Über die Funktion «get unique» mit Angabe des Schlüsselwertes erfolgt der direkte Zugriff auf das Wurzel-Segment eines Datensatzes und mit «get next» können die zugehörigen abhängigen Kind-Segmente (auch unterschiedlichen Typs) gelesen werden, die in einer 1 : n Beziehung zum jeweiligen Wurzelsegment stehen. Über die im Design der hierarchischen Datenbank vordefinierten Zugriffswege kann auf die Daten mit hoher Schnelligkeit zugegriffen werden, weil die abhängigen Kind-Segmente im Regelfall auch physisch nahe beim Wurzelsegment gespeichert werden (Im Vergleich dazu müssen beim Einsatz einer relationalen Datenbank das Wurzelsegment und alle in 1 : n Beziehung davon abhängigen Kind-Segmente unterschiedlichen Typs in unterschiedlichen Datenbank-Tabellen untergebracht werden, was den Aufwand beim Zusammensuchen aller zugehörigen Kind-Segmente erhöht).
[23]
Interessant ist, dass hierarchische Strukturen auch heutzutage wieder gerne in Form von XML-Strukturen für den Datenaustauch zwischen unterschiedlichen Systemen eingesetzt werden.
[24]
Aufgrund der höheren Flexibilität der relationalen Datenbanken bei den Zugriffwegen und besonders bei der Abfrage und Auswertung der Datenbank-Tabellen haben sich im Laufe der Zeit natürlich die relationalen Datenbanken für alle Arten von Anwendungen durchgesetzt – trotz des merklich höheren Ressourcen-Verbrauchs, der aber durch leistungsfähigere Computersysteme unbedeutend geworden ist.
[25]
IMS war aber trotzdem über Jahrzehnte nicht umzubringen, weil es laufend an neue Entwicklungen angepasst wurde, z.B. an die optionale Verwendung der relationalen Datenbank IBM DB2 und die Verwendung von modernen Kommunikationsprotokollen, die den Zugriff auf IMS Anwendungen über Web-Browser erlauben. Speziell die Kombination des IMS Transaktion Manager mit IBM DB2 ergab eine sehr robuste hochverfügbare Umgebung im Großsystembereich, die später auch für das Firmenbuch eingesetzt wurde. IMS DB hat auf Grund der speziellen Funktionen für «Fast Path»-Datenbanken zur Unterstützung von extrem hohen Transaktionsraten auch heute noch eine Nische im «high-end»-Bereich, z.B. bei großen Banken und Autowerken. Die aktuell verfügbare Version ist IMS Transaction Manager Version 12.
[26]
Für neue Web-Anwendungen ist heutzutage natürlich der modernere IBM WebSphere Application Server zu bevorzugen, der plattform-unabhängig und kostengünstig auf allen gängigen Serverplattformen läuft und daher auch Eingang in die aktuelle Justiz-Architektur gefunden hat. Im Mai 2012 wurde daher die IMS basierende Version der Grundstücksdatenbank durch eine neue auch im Benutzerkomfort stark verbesserte Version auf Basis von IBM WebSphere Application Server in Kombination mit einer relationalen Datenbank abgelöst.

Herausforderungen

[27]
Zur damaligen Zeit war es eine wirklich mutige Entscheidung die Automatisierung der Justiz gerade mit so einer wichtigen Kern-Anwendung wie dem Grundbuch zu beginnen. Bemerkenswert sind die damit verbundene organisatorische Leistung und das Durchhaltevermögen der Justiz. Da der aktuelle Stand einer Grundbuchseinlage nur durch Fachexperten aus den manuellen Eintragungen in den Grundbuchfolianten rekonstruiert werden konnte, mussten für die Datenersterfassung mobile Teams bestehend aus Grundbuch-Rechtspflegern und Datentypistinnen gebildet werden, damit auch eine inhaltliche Prüfung der aufrechten Einlagen erfolgen konnte. Diese mobilen Teams blieben – je nach Größe des Gerichtes – auch mehrere Monate bei dem jeweiligen umzustellenden Bezirksgericht und sind quer durch Österreich gezogen um alle Bezirksgerichte umzustellen. Bereits nach der Umstellung der ersten Bezirksgerichte wurden die Vorteile der Grundstückdatenbank deutlich sichtbar. Aber erst nach insgesamt zwölf Jahren Ersterfassungsarbeit konnte im Herbst 1992 das letzte Bezirksgericht auf die Grundstücksdatenbank umgestellt werden.
[28]
IMS war von Beginn an ein vollständiges Datenbank- und Transaktionssystem mit Logging von Datenbankänderungen, Back-out der Datenbankänderungen von nicht erfolgreich abgeschlossenen Transaktionen und der Wiederherstellung von Datenbanken mit Hilfe einer Sicherungskopie und den Logs aller Änderungen seit der letzten Sicherung. Frühe IMS Versionen haben allerdings nur Logdateien auf einer physischen Bandeinheit unterstützt, was zur Folge hatte, dass der «Emergency-Restart» nach brutalem Systemabsturz durch Stromausfall nicht vollautomatisch erfolgen konnte. Der Grund war, dass bei Stromausfall die Logdatei am Band nicht mehr ordnungsgemäß abgeschlossen und mit einer «end-of-file» Marke versehen werden konnte. Ein solches Logband musste daher vor dem IMS Neustart vom Systemadministrator (oder Systemoperator) mit Hilfe eines speziellen Dienstprogrammes analysiert und in einer durchaus heiklen Operation an der richtigen Stelle mit einer «end-of-file» Marke versehen werden. Das hat den Wiederanlauf des Systems verzögert und selbst erfahrene Systemadministratoren ziemlich gestresst. Im Zuge von Verbesserungen durch neuere IMS Versionen wurden daher alle beim «Emergency-Restart» benötigten Log-Datenbestände schließlich auf Platte verlegt (in vorformatierte und in doppelter Ausfertigung vorhandene Bereiche), sodass schließlich auch der Wiederanlauf nach Stromausfall vollautomatisch und sicher funktioniert hat.
[29]
Anpassung der Darstellung an das neue Medium: Die alphanumerischen IBM 3270-Bildschirme boten der Anwendung ein Fenster von 80 Zeichen Breite mal 24 Zeilen (später auch 32 oder 43 Zeilen) – natürlich mit der Möglichkeit des Vorwärtsblätterns. Während andere Länder oft versucht haben eine Darstellung analog zu den breiten alten Registerbüchern mit vielen Spalten nebeneinander möglichst unverändert beizubehalten und damit wegen der unterschiedlichen Fensterbreite meistens scheitern mussten, hat man in Österreich die Darstellung der Daten an die Eigenschaften des neuen Mediums angepasst und mit einfachen Gliederungselementen eine übersichtliche und leicht verständliche Darstellung der aufeinanderfolgenden Datenblöcke im Grundbuchauszug erreicht.
[30]
Mit dem raschen Auftauchen von neuen Gerätetypen mit unterschiedlichen Bildschirmgrößen ist dieses Problem gerade heute wieder ziemlich aktuell, z.B. bei der (automatischen) Anpassung der Darstellung von Web-Seiten und Anwendungen an große PC-Bildschirme sowie an kleinere Tablets und Smartphones. Am Grundprinzip hat sich aber nicht viel geändert: Datenblöcke, die man am kleineren Medium nur unpraktisch (Seitwärtsblättern) nebeneinander darstellen kann, muss man – halbwegs übersichtlich – hintereinander darstellen, z.B. die Zeitungsartikel einspaltig hintereinander statt mehrspaltig nebeneinander.

Erfolgsfaktoren der österreichischen Grundstücksdatenbank

[31]
Hoher Nutzen für die Parteien: Der Nutzen für die österreichischen Bürgerinnen, Bürger und Firmen war eine drastische Verbesserung der Servicequalität. Der aktuelle und rechtsverbindliche Grundbuchstand jeder Einlage konnte bei jedem Bezirksgericht in ganz Österreich abgefragt und der Grundbuchauszug in Papierform – nach Zahlung der entsprechenden Gerichtsgebühr – sofort mitgenommen werden.
[32]
Öffnung für den externen Zugriff: Nach Schaffung der entsprechenden rechtlichen Grundlagen wurde die Grundbuchsabfrage auch für Externe geöffnet. Zuerst für Notare, Rechtsanwälte, Banken und andere Behörden und später auch für alle Bürgerinnen, Bürger und Firmen, die sich bei einer sogenannten Übermittlungsstelle anmelden, die die Gebühren für die Abfrage der Grundstücksdatenbank für die Justiz einhebt. Eine erste Version dieser externen Abfrage war schon vor Aufkommen des Internets über Bildschirm-Text (BTX) Terminals möglich. Seit der Verbreitung des Internets ist die Grundbuchsabfrage selbstverständlich via Web-Browser und Internet möglich.
[33]
Rationalisierung durch IT-Einsatz: Der Personaleinsatz im Bereich Grundbuch konnte – nachweislich durch Vergleich der Personalstatistiken vor und nach der Umstellung – um 35% reduziert werden und das frei werdende Personal wurde in anderen wichtigen Aufgabenbereichen eingesetzt. All das bei erheblich verbesserter Servicequalität für die Bürger und verbesserter Arbeitsqualität für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich Grundbuch.
[34]
Stabile technische Basis und sicherer Betrieb im Bundesrechenzentrum: Durch ein professionelles Rechenzentrum, das die notwendigen Prozeduren bei der Anwendungsentwicklung und für den Betrieb mit Datensicherung, Datenwiederherstellung und Datenschutz beherrscht.

Folgewirkungen

[35]
Die österreichische Grundstücksdatenbank ist auch zum heutigen Zeitpunkt eine Vorzeigeanwendung im internationalen Vergleich – speziell auch für Länder, die es noch immer nicht geschafft haben eine Grundstücksdatenbank zu etablieren.
[36]
Der überwältigende Erfolg der Grundstücksdatenbank hat die Justiz ermutigt die Ziele «Verbesserung der Servicequalität für die Parteien», «Verfahrensbeschleunigung», «Rationalisierung durch IT-Einsatz» und «Verbesserung der Arbeitsplatzqualität für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter» konsequent weiterzuverfolgen und auch auf andere Verfahren anzuwenden.

Literatur zu Justizprojekten bis 1999:

  • Klaus Hoffmann / Georg Weissmann (1999): «Festschrift Otto Oberhammer – Ambiente eines Juristenlebens», Manzsche Verlags- und Universitätsbuchhandlung.

3.2.

Die erste Version der Verfahrensautomation Justiz ^

[37]
Ermutigt durch die Erfolge bei der Einführung der Grundstücksdatenbank ging die Justiz in den Jahren 1984 bis 1986 daran die erste Version der Verfahrensautomation Justiz zu entwickeln. Rechtliche Grundlage war die Zivilverfahrensnovelle 1983 mit der Neuregelung des Mahnverfahrens. Das ursprüngliche Ziel war die Automatisierung des bezirksgerichtlichen Mahnverfahrens mit dem alle Geldklagen am Bezirksgericht, die etwa 85% des Volumens der Zivilverfahren insgesamt ausmachen, in einem beschleunigten und vereinfachten Verfahren ohne mündliche Verhandlung abgewickelt werden. Wegen der hohen Fallzahlen war dieses Verfahren ein Kandidat für den IT-Einsatz von dem man sich hohe Rationalisierungseffekte erwarten durfte. Im Zuge der fachlichen Analyse wurde aber schnell klar, dass dieses Verfahren nicht unabhängig vom ordentlichen Zivilverfahren behandelt werden kann. Zwar werden etwa 90% der Mahnverfahren mit einem vollstreckbaren Zahlungsbefehl beendet, bei den verbleibenden 10% der Mahnfälle kommt es aber durch den Einspruch eines Beklagten zu einem ordentlichen Zivilverfahren. Die Erkenntnis war, dass es keinen Sinn macht den Großteil der Zivilverfahren in Form des Mahnverfahrens zu automatisieren und für den geringen verbleibenden Teil der Zivilverfahren eine manuelle Registerführung beizubehalten – wo noch dazu ein großer Teil dieser verbleibenden Zivilverfahren aus einem vorhergehenden Mahnverfahren entsteht und damit die z.B. die Daten der Parteien schon vorhanden sind und übernommen werden können. Die erste Version der Verfahrensautomation Justiz umfasste daher die Registerführung für das Zivilverfahren plus die speziellen Funktionen für eine sehr weitgehende Automatisierung aller Verfahrensschritte im Mahnverfahren, wie z.B. die vollautomatische Erstellung des Zahlungsbefehls an den Beklagten inklusive Rechtsmittelbelehrung, einem vorausgefüllten Zahlschein zur einfachen Begleichung seiner Schuld an den Kläger und aus Fairness-Gründen auch ein Einspruchsformular, falls die Forderung nicht zu Recht bestehen sollte.
[38]
Der Einsatz der Verfahrensautomation Justiz (VJ) brachte deutliche Erfolge bei der Beschleunigung der Verfahrensdauer im Mahnverfahren bei sehr viel höherer Qualität der Schriftstücke an die Parteien. Der IT-Einsatz wurde daher schrittweise über einen Zeitraum von 1986 bis 1996 auf weitere Verfahrensbereiche ausgedehnt:
  • Verlassenschaftsverfahren (A)
  • Zivilverfahren (C, Cg, Cga, Cgs) am Bezirksgericht und am Gerichtshof
  • Pflegschaftsverfahren (P)
  • Exekutionsverfahren (E)
  • Rechtsmittelverfahren (RM)
  • Strafverfahren (U, STA) beim Bezirksgericht und bei der Staatsanwaltschaft
  • Sonstige Verfahren (N)
[39]
Im Jahr 1997 wurde bereits ein Anfall von 3 Millionen neuen Fällen pro Jahr bei den österreichischen Gerichten und Staatsanwaltschaften mit Hilfe der Verfahrensautomation Justiz automationsunterstützt bearbeitet.
[40]
Aus dem damaligen Projektteam ist eine Reihe von wirklich bewährten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Bundesrechenzentrum und BMF auch heute noch für die Justiz tätig.

3.3.

Verteilte Datenverarbeitung ^

[41]
Neu bei der ersten Version der Verfahrensautomation Justiz war, dass sich die eingesetzte Hard- und Software deutlich vom Grundbuch unterschied. Durch das Aufkommen von leistungsfähigen «mittleren Systemen», die auch keine besonderen Anforderungen an Klimatisierung und Stromanschluss mehr stellten, war die dezentrale Datenverarbeitung populär geworden. Ein weiterer Grund war, dass zum damaligen Zeitpunkt Standleitungen für die Datenübertragung immer noch teuer und in ihrer Geschwindigkeit beschränkt waren.
[42]
Zusätzlich hatten die Experten für Ausfallsicherheit im BMF und im Bundesrechenzentrum erkannt, dass es im wirklichen Katastrophenfall (wo man zu Zeiten des «kalten Krieges» auch auf ein Szenario mit dem Ausfall von ganz Wien vorbereitet sein wollte) nicht möglich sein würde alle Standleitungen, die damals von den Gerichten, Finanz- und Zollämtern sternförmig nach Wien ins Bundesrechenzentrum (BRZ) verliefen, auf einfache und schnelle Art und Weise auf das zentrale Ausweichsystem des Bundes (ZAS) im Bundesland Salzburg umzuschalten. Das hätte vorausgesetzt, dass ein größerer Netzknoten in Wien mit Hochgeschwindigkeitsverbindung ins ZAS auch in diesem Katastrophenszenario immer noch funktioniert. Um die Ausfallsicherheit des Wide-Area-Netzwerkes zu steigern war man daher bestrebt auf der Ebene der Landeshauptstädte neue Netzknoten einzurichten, die jeweils eine parallel aktive direkte Anbindung ins BRZ und ins ZAS haben. Nach diesem neuen Konzept, dem man auch bei der Anbindung der Finanz- und Zollämter gefolgt war, wurden daher auch bei der Justiz bei größeren Gerichten in den Landeshauptstädten und in Wien dezentralen Rechner aufgestellt, die als Netzknoten für die Anbindung an BRZ und ZAS und als Plattform für die neue dezentrale Anwendung Verfahrensautomation Justiz dienten.
[43]
Als dezentrale Rechner wurden IBM 8100 Systeme mit dem Betriebssystem DPPX (Distributed Processing Programming Executive) eingesetzt. DPPX war speziell für den Einsatz in einer verteilten Umgebung konzipiert und erlaubte einen «operatorlosen Betrieb» mit Fernsteuerung der Systeme und Fernwartung der Software über das Netzwerk von einer zentralen Stelle aus (BRZ oder ZAS).
[44]
Die typische Leitungsgeschwindigkeit für Überlandleitungen war damals 9.600 bps (Bit pro Sekunde) was ungefähr einer Übertragungsrate von 1.000 Zeichen pro Sekunde entspricht. Eine typische Transaktion an einem remote 3270-Terminal mit etwa 100 Zeichen Input- und 1.000 bis max. 1920 Zeichen Output-Message hat daher schon nur für die Übertragung der Daten der Ausgabenachricht etwa 1 bis 2 Sekunden gebraucht. Bei der Softwareverteilung und der Übertragung von größeren Datenmengen musste man mit einem Zeitbedarf von etwa 15 Minuten pro Megabyte rechnen.
[45]
Lokale Bildschirme und Drucker beim Rechnerstandort konnte man direkt mit einer lokalen IBM 8100 Ringleitung anschließen, die eine Geschwindigkeit von 38.400 bps unterstützt hat. Das war ein nicht zu unterschätzender Vorteil für größere Bezirksgerichte in den Landeshauptstädten, die sehr viel mehr Bildschirm-Arbeitsplätze brauchen als kleine Bezirksgerichte am Land.
[46]
Die verteilte Datenverarbeitung brachte natürlich auch das Problem der Synchronisierung von Datenbanken an unterschiedlichen Lokationen mit sich. Jeder dezentrale Rechner hatte in seiner lokalen Datenbank die aktiven Fälle der an ihm angeschlossenen Gerichte gespeichert und die Fallbearbeitung konnte unabhängig von den Zentralsystemen im BRZ erfolgen. Am Abend wurden alle Änderungen – durch neue oder geänderte Fälle – in eine österreichweite zentrale Falldatenbank im BRZ übertragen. Auch das österreichweite Namensverzeichnis, das die Suche von Fällen über den Namen einer Partei ermöglicht, wurde zentral geführt. Mit Hilfe der zentralen Falldatenbank erfolgte auch der automatische Druck aller Beschlüsse, die auf der zentralen Poststraße des BRZ automatisch kuvertiert und an die Parteien versandt werden, was eine deutliche Arbeitserleichterung für die Gerichte brachte.
[47]
Zusätzlich wurde auch eine Einlagerungsfunktion vorgesehen um einen bereits archivierten abgeschlossenen Fall wieder dezentral verfügbar zu machen, oder einen Fall österreichweit an ein anderes Gericht abtreten zu können.
[48]
Die IBM 8100 Rechner wurden in den Jahren 1992 bis 1993 durch leistungsfähigere kleine Rechner aus der IBM ES/9000 Serie vom Typ IBM 9370 ersetzt auf die das Betriebssystem als DPPX/370 portiert worden war.

3.4.

PCs und lokale Netzwerke ^

[49]
Im Jahr 1981 kam der erste IBM Personal Computer auf den Markt (zuerst in den USA, mit etwas Verzögerung auch nach Europa), der auf Grund seiner Konstruktion auf Basis von frei am Markt verfügbaren Standardkomponenten und seiner Erweiterungsmöglichkeit über ein – von IBM definiertes aber nicht lizenzrechtlich geschütztes – Bussystem mit Adapterkarten zum Geburtshelfer einer ganz neuen Industrie werden sollte.
[50]
1983 folgte dann der IBM Personal Computer XT, der erste IBM PC mit eingebauter Festplatte, vorher musste man sich mit Floppy-Disk Modellen begnügen. 1983 folgten aber auch schon die ersten Nachbauten von anderen Herstellern.
[51]
Rasch entwickelten sich auch die ersten neuen Anwendungen, die den Einsatz des PCs für viele Kunden attraktiv machten. Die damaligen «Killer-Anwendungen» für den IBM PC waren die ersten für den Business-Einsatz brauchbaren Versionen von Spreadsheet-Programmen wie z.B. Lotus 1-2-3 und natürlich auch die ersten Textverarbeitungsprogramme am PC wie z.B. IBM PC Text (IBM DisplayWrite).
[52]
Mit der Verfügbarkeit von Adaptern und Programmen für die 3270-Emulation konnte der PC auch als Terminal-Ersatz für den Zugriff auf alle zentralen Anwendungen wie Grundbuch, Firmenbuch und die dezentrale Verfahrensautomation Justiz eingesetzt werden. Wie praktisch alle Großkunden verfolgte daher auch die Justiz das Konzept generell den PC als multifunktionales Arbeitsplatzgerät für die Benutzer einzusetzen. Ab dem Jahr 1987 ist daher eine schrittweise Ablöse der 3270-Bildschirme und Drucker durch PCs erfolgt, zusätzliche Arbeitsplätze wurden nur mehr mit PCs ausgestattet. Die ersten PCs, die in größerer Anzahl bei den Gerichten installiert wurden, waren IBM Personal Computer XT.
[53]
Mit der Verwendung der PCs folgte ein wenig später auch der Einsatz von «Local Area Networks» (LAN) um die PCs an einem Standort untereinander mit hoher Geschwindigkeit für File- und Print-Sharing zu vernetzen. An den Rechnerstandorten konnten die PCs direkt über 16 Mbit Token/Ring LAN an die IBM 9370 Rechner angeschlossen werden. Die typische Konfiguration an einem via Standleitung «remote» angebundenen Bezirksgericht war ein sogenannter Gateway-PC, der mit Hilfe eines Adapters die Verbindung aller PCs im LAN zum «Wide Area Network» (WAN) hergestellt hat und meistens gleichzeitig auch als File- und Print-Server gedient hat. Diese Konfiguration war durchaus flexibel und hat etliche Entwicklungen im Netzwerk-Bereich überlebt: Die Erhöhung der Leitungsgeschwindigkeit auf Standleitungen durch den Einsatz neuer Modems, den Umstieg auf ein Frame-Relay Netzwerk mit ATM-Backbone im Rahmen des Projektes «Corporate Network Austria» sowie den zunehmenden Einsatz von Internet-Protokollen wie TCP/IP. Erst mit der Verbilligung von kleinen spezialisierten Routern wurde der Gateway-PC abgelöst.

Herausforderungen

[54]
Voraussetzung für die IT-Ausstattung von mehr und mehr Arbeitsplätzen war auch die Herstellung einer strukturierten Verkabelung bei den Gerichten, um Geräte flexibel aufstellen und übersiedeln zu können. Pro Raum wird eine der Anzahl der maximalen Arbeitsplätze (und eventuell Drucker) entsprechende Anzahl von LAN Anschlussdosen vorgesehen, die über fixe Stichleitungen mit einem Stockwerksverteiler verbunden sind. Im Stockwerksverteiler wird über Patch-Kabel die Verbindung zum jeweiligen LAN-Segment hergestellt.
[55]
Durch den flächendeckenden PC Einsatz ergab sich allerdings auch eine Vielzahl von neuen IT-Aufgaben:
  • Die Erstellung von Installationssätzen für die PCs mit System- und Anwendungsprogrammen (als PC Betriebssysteme wurden zuerst PC-DOS, dann das von IBM heiß geliebte OS2 und später MS/Windows eingesetzt)
  • Die Verwaltung der individuellen Konfigurationsdaten je Gerät
  • Erstellung von Prozeduren für die automatische SW-Installation auf den PCs
  • Netzwerk-Management
  • Softwareverteilung bis auf die PCs
[56]
Eine weitere Herausforderung beim Einsatz der ersten PC Generationen war, dass die vorher eingesetzten IBM 3270 Bildschirme bereits einen sehr hohen ergonomischen Standard erreicht hatten was die Bildschirmauflösung und die Größe und Lesbarkeit der Zeichendarstellung betrifft. Im Vergleich dazu waren die ersten PC Bildschirme und insbesondere die ersten farbigen PC Grafik-Bildschirme damals auf Grund ihrer geringen Größe und Bildschirmauflösung ein sichtbarer Rückschritt in Sachen Ergonomie. Die Einführung der VGA (Video Graphics Array) Bildschirmschnittstelle bei den IBM PS/2 Systemen brachte eine deutliche Verbesserung bei der Auflösung und eine neue verbesserte Generationen von PC (Röhren-) Bildschirmen am Markt. Wirklich endgültig wurden die Probleme der Bildschirm-Ergonomie aber erst durch die Entwicklung und die Verbilligung der größeren LCD-Bildschirme gelöst. Hat man am Anfang der PC-Entwicklung aus Budgetgründen eher versucht möglichst preisgünstigste Bildschirme zu beschaffen, die ergonomische Standards gerade noch erfüllt haben, so hat sich Dr. Martin Schneider im Hinblick auf die Arbeitsplatzqualität und Benutzerzufriedenheit der Justiz-Mitarbeiterinnen immer für die Einhaltung von höheren ergonomischen Standards eingesetzt.

3.5.

Elektronischer Rechtsverkehr (ERV) ^

[57]
Seit der Einführung der Verfahrensautomation Justiz in den Massenverfahren Mahnverfahren und Exekutionsverfahren wurden bereits Überlegungen angestellt, wie man den Arbeitsaufwand der Gerichte weiter reduzieren könnte. Der wesentliche Aufwand für das Kanzleipersonal fiel bei der Ersterfassung eines Antrags für die manuelle Eingabe der Namen und Adressen der Parteien und ihrer Vertreter und die Eingabe der weiteren inhaltlichen Daten des Antrags an. Je nach Art des Antrags, Anzahl der Parteien und der Komplexität des Vorbringens wurde dafür ein Zeitaufwand von etwa 5 bis 15 Minuten pro Antrag benötigt. Man hat daher nach Wegen gesucht diese Daten auf elektronischem Weg vom Antragsteller an das Gericht zu übermitteln.
[58]
Die Analyse der Datenquellen ergab, dass die überwiegende Anzahl der Anträge an die Gerichte nicht von einzelnen Bürgern, sondern von professionellen Großkunden der Justiz stammt, z.B. von Rechtsanwälten, Notaren, Banken, Versicherungen, Sozialversicherungen und sonstigen öffentlichen Institutionen. Manche dieser Großkunden liefern ein Volumen von mehreren zehntausend Klagen pro Quartal, z.B. wenn sie ihre Rechnungs- und Buchhaltungsdatenbanken periodisch auf säumige Schuldner durchsuchen und Mahnklagen und Exekutionsanträge mit ihren eigenen IT-Systemen erstellen.
[59]
Bereits 1990 war daher die Geburtsstunde des Elektronischen Rechtsverkehrs (ERV). Auf Grund der oben geschilderten Rahmenbedingungen war klar, dass man ein «business-to-business» Interface zur Anbindung der Rechtsanwälte und sonstigen Großkunden an die IT-Systeme der Justiz realisieren musste. Die Übermittlung der Daten sollte in maschinenlesbarer strukturierter Form erfolgen um die Antragsdaten vollautomatisch in die Falldatenbank der Gerichte übernehmen zu können.
[60]
Es wurde daher eine verbindliche Datenstruktur für jede Antrags-Type definiert. Die Datenformate haben sich an den damals gängigen Großsystemformaten orientiert, die damals z.B. auch beim Datenaustausch zwischen den Sozialversicherungsträgern verwendet wurden.
[61]
Die Anbindung der Rechtsanwälte und der privaten Firmen erfolgte über eine sogenannte «Übermittlungsstelle» (die erste war die Datakom Austria), die die Antragsdaten von ihren Kunden, die über Wähl- oder Standleitungen angebunden waren gesammelt und einmal am Tag weiter an das Bundesrechenzentrum übermittelt hat. Für öffentliche Institutionen hat man auch den Direktverkehr mit dem BRZ erlaubt.
[62]
Die Herausforderung war, dass der ERV in den ersten Jahren eher zäh gestartet ist:
  • 1990 ca. 5.000 ERV-Anträge,
  • 1993 ca. 110.000 ERV Anträge.
[63]
Um den Einsatz des ERV bei den Rechtsanwälten zu fördern hat man ihnen einen geringen Nachlass bei der Gerichtsgebühr für elektronisch eingebrachte Fälle gewährt und – siehe da – die Fallzahlen sind explodiert:
  • 1996 ca. 540.000 ERV-Anträge und
  • 1998 bereits ca. 1.200.000 ERV-Anträge.
[64]
Seit 1999 können im sogenannten ERV-Rückverkehr auch alle Beschlüsse des Gerichtes an die ERV-Teilnehmer elektronisch zugestellt werden.
[65]
Die Einführung des Elektronischen Rechtsverkehrs brachte die wohl stärksten Produktivitätseffekte bei den Gerichten. Die Arbeitserleichterung war so drastisch, dass viele Gerichtspräsidenten persönlich bei ihren Großkunden vorstellig geworden sind um sie zu überzeugen, dass sie sich schleunigst an den ERV anschließen sollen.
[66]
Auch der Nutzen für die ERV-Teilnehmer ist beträchtlich: kürzere Verfahrensdauer, hohe Sicherheit, Eingaben bis kurz vor Fristablauf, Ausschluss von Eingabefehlern und papierlose Gerichtsbeschlüsse sowohl in menschlich lesbarer Form als PDF-Dokument und zusätzlich in strukturierter maschinenlesbarer Form um z.B. einen Ladungs-Termin automatisch in den Kalender des Anwaltes übernehmen zu können.
[67]
Im Zuge von umfangreichen Modernisierungsmaßnahmen wurde der ERV auf den sogenannten «Web-ERV» umgestellt, der XML-Datenstrukturen und moderne Internet Protokolle wie die «Web service» (SOAP) Schnittstelle nutzt um einen noch breiten Teilnehmerkreis einfach und sicher über das Internet und über – jetzt mehrere – Übermittlungsstellen an die Justiz anbinden.
[68]

Die aktuellen Zahlen zum Nutzungsgrad des ERV sind wirklich eindrucksvoll:

  • Etwa 10.000 ERV-Teilnehmer (Rechtsanwälte, Notare, Polizei und Großkunden wie Banken, Versicherungen, öffentliche Institutionen)
  • Etwa 4,5 Millionen elektronische Anträge und Folge-Anträge an die Gerichte pro Jahr
    • ca. 95% aller Anträge in Zivilverfahren erfolgen elektronisch
    • ca. 70% der Exekutionsanträge erfolgen elektronisch
  • Etwa 6,5 Millionen elektronische Zustellungen
    • ca. 10 Millionen EUR jährliche Einsparung bei den Postgebühren
[69]
Durch die starke Nutzung des Elektronischen Rechtsverkehrs und den hohen Automatisierungsgrad in mehr als 50 verschiedenen Verfahrensarten ist die österreichische Justiz sicherlich der führende e-Justice Vorreiter in Europa.
[70]
Nicht zuletzt auf Grund der Initiative der österreichischen Justiz wird an der europaweiten Kopplung der nationalen Justiz-Zustellsysteme der EU Mitgliedsstaaten gearbeitet. Dadurch soll für ausgewählte länderübergreifende («cross-border») Verfahren – z.B. für das EU Mahnverfahren – auch die grenzüberschreitende elektronische Übermittlung von Anträgen und Beschlüssen möglich werden.
[71]
Im Zuge des EU Projektes «e-CODEX» (e-Justice Communication via Online Data Exchange) wurde der österreichische ERV mit den nationalen Zustellsystemen der anderen am e-CODEX Piloten «EU-Mahnverfahren» teilnehmenden Mitgliedsstaaten wie Deutschland, Italien (dzt. nur Tribunale Ordinario di Milano) und Estland verbunden.
[72]
Aktuell gibt die ersten Erfolge des e-CODEX Projektes zu melden, die das Bundesministerium für Justiz – unterstützt durch die Bundesrechenzentrum GmbH und unter Mithilfe des IBM Entwicklungsteams für das EU Mahnverfahren – gemeinsam mit den internationalen e-CODEX Projektpartnern erreicht hat:
  • Im Sommer 2013 konnte der e-CODEX Pilotbetrieb für das grenzüberschreitende Europäische Mahnverfahren gestartet werden.
  • Aktuell kann ein österreichischer Anwalt bereits z.B. einen «Antrag auf Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls» (Formblatt A) elektronisch über den österreichischen ERV und via e-CODEX an das für ganz Deutschland zuständige Amtsgericht Wedding in Berlin schicken, um eine offene Forderung bei einem deutschen Schuldner zu betreiben.
[73]
An der Einbeziehung weiterer EU Mitgliedstaaten in diesen e-CODEX Piloten wird gearbeitet.

3.6.

Firmenbuch ^

Fachlicher Hintergrund

[74]
Ursprünglich wurden das Handelsregister und das Genossenschaftsregister manuell bei den Landesgerichten (in Wien vom Handelsgericht Wien und in Graz vom Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz) geführt.
[75]
Bei den großen Landesgerichten in Handelssachen, z.B. beim Handelsgericht Wien, traten die Einschränkungen eines manuell geführten Registers mit den Detaildaten einer Firma im zugehörigen Papierakt sehr deutlich zu Tage. In einen Papierakt kann zu einem Zeitpunkt nur jeweils eine Person sinnvoll Einsicht nehmen, was die maximale Abfragekapazität ziemlich begrenzt. Böse Zungen behaupten es sei damals vorgekommen, dass ein Handelsregisterakt plötzlich einige Tage nicht auffindbar war, weil ihn ein Anwalt illegal in seine Kanzlei mitgenommen hat, um dem Gedränge beim Handelsgericht zu entgehen.
[76]
Bestärkt durch die sichtbaren Erfolge bei der IT-Umstellung des Grundbuchs haben sich daher besonders die Wirtschaft und der Österreichische Rechtsanwaltskammertag sehr deutlich für eine EDV-Umstellung des damaligen Handelsregisters eingesetzt. Im Oktober 1987 wurde vom BMJ eine Arbeitsgruppe gegründet, die den IST-Stand, die Anwenderwünsche, die technische Realisierbarkeit und die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen untersucht hat.
[77]
Nach Abschluss der Vorstudie im Oktober 1989 wurde die Umstellung der bisher manuell geführten Handels- und Genossenschaftsregister auf ein neues IT-Verfahren mit dem neuen Namen Firmenbuch beschlossen, das im Bundesrechenzentrum laufen sollte. Anfang 1990 wurde eine Projektgruppe für die Umsetzung eingesetzt und im Dezember 1990 mit dem Firmenbuchgesetz die gesetzliche Grundlage geschaffen.
[78]
Die Umstellung der Handelsregister auf das IT-Firmenbuch wurde in Stufen realisiert:
  • Ab Juli 1991 wurde der Echtbetrieb für Personengesellschaften (A-Firmen) aufgenommen.
  • Ab 1993 konnten auch Kapitalgesellschaften (B-Firmen) ins Firmenbuch eingegeben werden.
[79]

Seither wurde das Firmenbuch laufend verbessert und an gesetzliche, organisatorische und technische Änderungen angepasst:

  • Bereits 1993 war das Firmenbuch über Bildschirmtext (BTX) und entsprechende Verrechnungsstellen, die die Gerichtsgebühr für die kostenpflichtige Abfrage des Firmenbuchs eingehoben haben, extern abfragbar.
  • Seit 1999 ist die kostenpflichtige Abfrage des Firmenbuchs über Internet möglich, ebenfalls über eine Reihe von der Justiz beauftragten Verrechnungsstellen.
  • Die elektronische Vorlage der Jahresabschlüsse (Bilanzen) wurde 2001 eingeführt und ist aktuell sowohl über FINANZOnline und den Elektronischen Rechtsverkehr (ERV) der Justiz möglich.
  • Ab 2002 erfolgten die Bekanntmachungen der Firmenbuchgerichte (z.B. Neueintragungen im Firmenbuch) automatisch über die Ediktsdatei (www.edikte.justiz.gv.at).
  • Von 2003 bis 2006 wurden die Programme des Firmenbuchs von älterer Software auf moderne WebSphere-Software und Java-Technologie umgestellt. Dabei wurde auch die Benutzeroberfläche in Anlehnung an die Verfahrensautomation Justiz gestaltet. Diese Modernisierung schaffte die Voraussetzung für die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs im Firmenbuch.
  • Seit 2005 werden alle dem Firmenbuch vorgelegten Urkunden (Eintragungsgrundlagen) elektronisch im Urkundenarchiv der Justiz gespeichert.

Technik

[80]
Das Firmenbuch war die erste große Anwendung der Justiz, die eine relationale Datenbank eingesetzt hat, was einen bemerkenswerten Umbruch beim Datenbank-Design, bei der Anwendungsprogrammierung und eine sehr viel höhere Flexibilität bei der Abfrage von Datenbanken mit sich gebracht hat.
[81]
Bereits im Jahr 1970 hat Edgar F. Codd, der damals beim IBM San Jose Research Laboratory (heute: IBM Almaden Research Center) gearbeitet hat, die theoretischen Grundlagen für die relationalen Datenbanken gelegt mit seinem wegweisenden Artikel «A Relational Model of Data for Large Shared Data Banks» der in Communications of the ACM, Volume 13, Number 6, June 1970 erschienen ist.
[82]
Als Mathematiker verstand Edgar F. Codd den Begriff «Relation» im mathematischen Sinn der Mengenlehre als Beziehung zwischen Mengen. Daten sollten nicht durch zusätzliche Pointer verbunden werden, sondern die Beziehung ergibt sich auf Grund der Werte von Datenfeldern. Das Revolutionäre seiner Idee war die logische Struktur der Daten von der physikalischen Speicherung zu entkoppeln und in der Abfragesprache nur zu beschreiben, welche Daten man haben will und die Details wie sie aufgefunden werden, dem Computer zu überlassen.
[83]
Von der Theorie bis hin zu fertigen Produkten war es aber noch ein langer Weg. Edgar F. Codd hatte einige Widerstände und Skepsis zu überwinden, bis das IBM San Jose Research Laboratory im Jahr 1973 damit begann, seine Theorie der relationalen Datenbanken mit einer echten Implementierung zu erhärten.
[84]
Im Zuge dieses Forschungsprojektes wurde auch SQL (Structured Query Language) erfunden, etwas abweichend von den ursprünglichen Vorschlägen von Codd zur Abfragesprache. Endresultat dieser Forschungsarbeiten war das «System R», aus dem sich die relationalen Datenbanken der IBM (SQL/DS und IBM DB2), Tandems Non-Stop SQL und Oracle entwickeln sollten.
[85]
Im Jahr 1983 wurde die IBM DB2 Produktfamilie für Kunden verfügbar, die zu einem der erfolgreichsten Softwareprodukte der IBM wurde.
[86]
Dr. Edgar F. Codd wurde 1976 zum IBM Fellow ernannt und damit zum Forscher, der das Privileg hatte, voll seinen eigenen Interessen nachgehen zu können. Als höchste Auszeichnung erhielt er 1981 den Turing Award der Association for Computing Machinery (ACM).

Die folgende Literatur gehört zu den Standardwerken über relationale Datenbanken:

  • Edgar F. Codd (1970): «A Relational Model of Data for Large Shared Data Banks», Communications of the ACM, Volume 13, Number 6, June 1970,
  • Edgar. F. Codd (1990): «The Relational Model for Database Management, Version 2.», Addison-Wesley Publishing Company 1990, ISBN 0-201-14192-2,
  • Christopher J. Date (2003): «Introduction to Database Systems.», Addison-Wesley Longman, Amsterdam 2003, ISBN 0-321-18956-6.

Die Biografie von Edgar F. Codd ist in Wikipedia verfügbar, siehe: http://en.wikipedia.org/wiki/Edgar_F._Codd.

Erfolgsfaktoren

[87]
Die Entwicklung des Firmenbuchs erfolgte durch ein organisationsübergreifendes Team mit Mitarbeitern von BMJ, BMF und Bundesrechenzentrum sehr selbständig mit Unterstützung durch IBM beim Einsatz der damals noch neuen relationalen Datenbank in der Anwendungsprogrammierung und beim Betrieb.
[88]
Das Firmenbuch wurde als eine der Kernanwendungen der Justiz laufend an gesetzliche (z.B. Privatstiftungen) und organisatorische Änderungen sowie an den jeweils aktuellen Stand der Technik angepasst.
[89]
Synergien mit anderen Justiz-Anwendungen wurden geschickt genützt z.B. durch Einbindung des Elektronischen Rechtsverkehrs (ERV) und der Ediktsdatei für Bekanntmachungen der Firmenbuchgerichte.
[90]
Mit der bereits sehr früh realisierten externen kostenpflichtigen Abfrage ist das Firmenbuch ein Garant für die Rechtssicherheit in der österreichischen Wirtschaft bei gleichzeitig anerkannt hoher Service-Qualität.
[91]
Das österreichische Firmenbuch ist auch in einen Verbund der europäischen Firmenbücher – European Business Register (EBR) – eingebunden, an dem bereits 26 Europäische Länder teilnehmen.
[92]
Aktuell hat die «Interconnection of Business Registers» auch einen hohen Stellenwert bei der Europäischen Kommission in Hinblick auf Konkurse oder Löschungen von international verbundenen Unternehmen. Wenn z.B. die ausländische Muttergesellschaft mit einer Tochterfirma in Österreich in Konkurs geht oder gelöscht wird, dann soll auch das österreichische Firmenbuch automatisch verständigt werden. Ein entsprechender Pilot ist daher auch im Zuge des EU e-CODEX (e-Justice Online Data Exchange) Projektes geplant.

3.7.

Projekt «Redesign – Verfahrensautomation Justiz» ^

Vorgeschichte

[93]
Die erste Version der Verfahrensautomation Justiz (VJ) war ausgehend vom Mahn- und Zivilverfahren bereits über einen Zeitraum von 10 Jahren gewachsen und auf zusätzliche Verfahrensarten erweitert worden:
  • 1986: Mahnverfahren
  • 1987: Zivilverfahren am Bezirksgericht
  • 1990: Elektronischer Rechtsverkehr (ERV)
  • 1992: Exekutionsverfahren, Verlassenschaftsverfahren, Zivilverfahren am Gerichtshof
  • 1994: N-Verfahren
  • 1995: Insolvenzverfahren, Pflegschaftsverfahren, Rechtsmittelverfahren
  • 1996: Strafverfahren am Bezirksgericht, Staatsanwaltliches Verfahren
[94]
Dabei wurden technische und fachliche Grenzen (z.B. beim Datenmodell für das Strafverfahren am Gerichtshof) erreicht, die einen weiteren Ausbau der VJ erst nach einer grundsätzlichen Erneuerung ratsam machten.
[95]
Diese Erneuerung sollte auf Basis einer ganzheitlichen Betrachtung aller Verfahrensarten auf allen Ebenen der Gerichte und Staatsanwaltschaften und auf dem aktuellen Stand der Technik erfolgen – unter Nutzung einer neuen grafischen Benutzeroberfläche.
[96]
Oberstes Ziel des Projektes «Redesign – Verfahrensautomation Justiz» war den Betrieb der Justiz noch effizienter und moderner zu gestalten.

Vertragliche Grundlagen des Projektes

[97]
Im Jahr 1996 erfolgte eine EU-weite Ausschreibung, deren fachliche Vorgaben auf den Ergebnissen einer umfangreichen Vorstudie zum Thema «Redesign – Verfahrensautomation Justiz» basierten. Als Bestbieter dieses Vergabeverfahrens erhielt IBM den Zuschlag als Entwicklungspartner.
[98]

Das Projekt wurde auf Grundlage eines Vertrages zwischen dem Bundesministerium für Justiz (BMJ) und der IBM Österreich GmbH (IBM) abgewickelt. Gemäß § 89f des Gerichtsorganisationsgesetzes (GOG) oblag dem damaligen Bundesrechenamt (BRA), das zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses eine nachgeordnete Dienststelle des Bundesministeriums für Finanzen (BMF) war, die Mitwirkung an der automationsunterstützten Führung von Gerichtsverfahren als Dienstleister. Auf dieser Basis waren die IT-Sektion des BMF und die Organisationseinheit «Applikation Verfahrensautomation Justiz» an der Erfüllung des Vertrages beteiligt.

[99]
Kurz nach Vertragsabschluss wurde Anfang 1997 das BRA als Bundesrechenzentrum GmbH ausgegliedert und die neu gegründete Bundesrechenzentrum GmbH trat in die Rechtsstellung des BRA ein.
[100]
Der Vertrag wurde als Rahmen für die Leistungserbringung – inklusive der fixen Leistungskomponenten der Vertragspartner – definiert. Weitere Leistungen wurden in Form von Teilleistungsvereinbarungen auf Basis des Rahmenvertrags vereinbart. Der Vertrag war deutlich auf Kooperation aller Projektbeteiligten ausgelegt. Das erleichterte dem Projektteam die Reaktion auf zahlreiche Gesetzesänderungen innerhalb der Projektlaufzeit, die Anpassung an geänderte externe Rahmenbedingen (z.B. die Umstellung von Schilling auf Euro mit Jahresbeginn 2002) sowie proaktive Maßnahmen zur Vermeidung von Risiken (z.B. bei der Jahr 2000 Umstellung).

Stakeholder des Projektes

[101]
Das Projekt war im BMJ in der Präsidialsektion angesiedelt, der jeweilige Sektionschef der Präsidialsektion war damit der Projektsponsor, das war zuerst Sektionschef Dr. Otto Oberhammer und nach dessen Pensionierung Sektionschef Dr. Wolfgang Fellner.
[102]
Die Projektleitung von Seiten des BMJ oblag der Abteilung PR5 in der Präsidialsektion und damit dem Abteilungsleiter Dr. Martin Schneider.
[103]
Weitere beteiligte oder betroffene Abteilungen der Präsidialsektion waren:
  • PR2 – Innenrevision: Controlling Informationen
  • PR3 – Textbausteine und Formularwesen
  • PR4 – IT-Infrastruktur
[104]
Andere Sektionen des BMJ waren einzubinden, soweit eine Beteiligung am bzw. Beeinflussung durch das Projekt gegeben war:
  • Sektion I Zivilrecht: Rechtliche Normen, die im Zivilbereich der VJ zu berücksichtigen sind bzw. die automationsunterstützte Abwicklung von Verfahren im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit durch die VJ ermöglichen.
  • Sektion II – Straflegislative: Rechtliche Normen, die im Strafbereich der VJ zu berücksichtigen sind bzw. die automationsunterstützte Abwicklung von Verfahren im Bereich der Strafgerichtsbarkeit und der Staatsanwaltschaften ermöglichen.
  • Sektion III – Verwaltung und Personal: Statistische Auswertungen aus der VJ dienen dieser Sektion zur Festlegung und Überprüfung des Personalbedarfs und der Erfüllung andere Verwaltungsaufgaben. Die Kontrolle der Projektausgaben und Innenrevision wurde von der Abteilung 2 dieser Sektion durchgeführt
  • Sektion IV – Straf und Gnadensachen: Statistische Auswertungen aus der VJ dienen dieser Sektion zur Erfüllung ihrer Aufgaben.
  • Sektion V – Strafvollzug: Gemeinsame IT-Infrastruktur mit der VJ
[105]
Folgende Mitarbeitergruppen der Justiz waren mit ihren Vertretungen in das Projekt involviert und wurden im Rahmen der sogenannten «Key-User-Group» regelmäßig eingebunden:
  • Richter (vertreten durch die Richtervereinigung): Entsendung von Experten in Arbeitsgruppen; teilweise Arbeit mit der Applikation VJ; Zulieferung von Ergebnissen der VJ durch die Kanzleien;
  • Nichtrichterliche Bedienstete (vertreten durch den Obmann des Zentralausschusses): Entsendung von Experten in Arbeitsgruppen; tägliche Arbeit mit der VJ;
  • Staatsanwälte (vertreten durch den Verein der Staatsanwälte): Entsendung von Experten in Arbeitsgruppen; teilweise Arbeit mit der Applikation VJ; Zulieferung von Ergebnissen der VJ durch die Kanzleien;
  • IT-Schulungszentren der Justiz: Tägliche Arbeit mit der VJ; Ausbildung der Mitarbeiter der Justiz für die VJ; wichtiger feed-back Lieferant auch im Bereich der VJ.
[106]
Die Bundesrechenzentrum GmbH und das BMF hatten im Rahmen des Projektes folgende Aufgaben:
  • Mitarbeit an der Entwicklung der VJ
  • Betrieb der VJ-alt und VJ-neu
  • Aufbau und Betrieb der IT-Infrastruktur für die Justiz
  • Einbringen nationaler Gerichtserfahrung
  • Einbringen von fachlichem Know-how bei der Entwicklung justizspezifischer Abläufe und Prozesse
  • Einbringen von Projektmanagementerfahrung, modernen Vorgehensweisen im Bereich der Anwendungsentwicklung sowie Testerfahrung zur Qualitätssicherung
  • Einbringen von Erfahrung und Mitarbeit vor allem in den folgenden Teilbereichen: Applikationsleitung, Migration Altverfahren, Fachbereich Zivil, Exekution, Strafverfahren, Rechtsmittelverfahren und Insolvenzverfahren, Kostenentwicklung und Planung, Statistik, ERV, Ediktsdatei, Handbuchredaktion, Sonderauswertungen, Koordination im Hostbereich (zentrale Ausdrucke), Controlling und Infrastruktur
[107]
IBM hatte im Rahmen dieses Projektes folgende Aufgaben:
  • Mitarbeit an der Entwicklung der VJ
  • Einbringen internationaler Gerichtserfahrung und Re-use von Entwicklungsergebnissen z.B. aus einem ähnlichen Projekt für ein Kreisgericht in DuPage County, Illinois (USA, Umgebung von Chicago)
  • Einbringen von Erfahrung in Projektmanagement, technischem Projektmanagement und Qualitätssicherung
  • Einbringen von Expertise mit modernen Vorgehensweisen und Techniken im Bereich der Anwendungsentwicklung, insbesondere beim Einsatz von Objekt-Technologie und plattform-unabhängiger Anwendungsentwicklung mit Java.
  • Bereitstellen von Entwicklungspersonal insbesondere in den Bereichen Objekt-Technologie-Design und Java
  • Einbringen von Expertise und Mitarbeit vor allem in den Bereichen Host-Design und DB2 Entwicklung, Learning Services, Konzeptionelles Infrastruktur-Design und Netzwerkdesign, Lotus Notes Infrastruktur, Lotus Notes Anwendungs-Design und Entwicklung
[108]
Folgende zusätzliche Organisationen und Firmen waren im Projekt involviert:
  • Rechtsanwaltskammer als Vertretung der Rechtsanwälte: Entsendung von Experten in Arbeitsgruppen; Benutzer des elektronischen Rechtsverkehrs (ERV);
  • Notariatskammer als Vertretung der Notare: Entsendung von Experten in Arbeitsgruppen; Benutzer des ERV;
  • Datakom (Telekom): Abwicklung des ERV durch Anschluss der Rechtsanwälte und Privat-Firmen
  • Softwarehäuser: Software für den ERV für Anwälte und andere Kunden

Projektorganisation

[109]
Oberstes Steuerungsgremium des Projektes war der Lenkungsausschuss, der von den Organisationen der Projektpartner BMJ, BMF/BRZG und IBM zu besetzen war. Entscheidungen im Lenkungsausschuss waren einstimmig zu treffen.
[110]
Die Gesamtkoordination (GEKO) oblag laut Vertrag dem Projektleitungsgremium. Vertraglich vorgesehen war eine paritätische Beschickung durch die Projektleiter des BMJ, der IBM sowie eines Vertreters des BMF/Applikation VJ und/oder BMF/Stab. Bedingt durch die Ausgliederung der BRZG wurde die BMF/Applikation VJ durch die BRZG/Applikation VJ ersetzt. Zur schnellen Klärung von fachlichen Fragen wurden auch die zuständigen Organisatoren (alle aus BRZG oder BMF) in das GEKO-Team aufgenommen. Entscheidungen in der GEKO waren einstimmig zu treffen.
[111]
Die Arbeitsgruppen des Projektteams wurden gemischt mit Mitarbeitern von BMJ, BMF, BRZG und IBM besetzt und bei Bedarf durch zusätzliche Fachexperten aus den Organisationen der Stakeholder (z.B. durch Mitarbeiter der Gerichte) verstärkt, z.B. bei der Erhebung der fachlichen Anforderungen, bei der Evaluierung von Design-Varianten insbesondere beim User-Interface-Design, sowie beim Test der Anwendung für die verschiedenen Verfahrensarten.
[112]
Die Key-User-Group wurde als Beratungsgremium eingerichtet. Die Organisationen aller betroffenen Stakeholder haben Vertreter in dieses Gremium zu entsandt.

Ziele des Projektes

[113]
Ziel war die Schaffung einer einheitlichen benutzerfreundlichen Anwendung mit grafischer Benutzeroberfläche, die alle 40 gerichtlichen Verfahrensarten unterstützt, wie das Verlassenschafts-, Straf-, Zivil-, Exekutions-, Rechtsmittel- und Pflegschaftsverfahren sowie die sonstigen «kleineren» Verfahrensarten (Grundbuch und Firmenbuch blieben als eigenständige Anwendungen bestehen).
[114]
Diese neue Anwendung wurde mit modernster Java-Technologie möglichst plattform-unabhängig erstellt. Die Datenhaltung erfolgt zentral im Bundesrechenzentrum in relationalen Datenbanken.
[115]

Die Projektziele wurden wie folgt festgelegt:

  • Rationalisierung und Beschleunigung der Gerichtsverfahren durch den Einsatz von Informationstechnologie
  • Bessere Information für die Parteien, z.B. durch übersichtlichere Gestaltung der Beschlüsse und an die Rolle der Partei angepasste Rechtsmittelbelehrung
  • Eine konsistente Anwendung für 40 unterschiedliche Verfahrensarten
    • Mehr als 100 zusätzliche Funktionen im Vergleich zur VJ-alt
    • Neue Verfahren, z.B. das Strafverfahren am Gerichtshof, Diversionsverfahren bei den Staatsanwaltschaften
    • Benutzerfreundliche grafische Benutzeroberfläche, integrierte Online-Hilfe und Dokumentation, bessere Integration der Textverarbeitung
    • Ediktsdatei (siehe www.edikte.justiz.gv.at) für rechtsverbindliche Veröffentlichungen an die breite Öffentlichkeit
  • Beibehaltung von Funktionen mit hohem Rationalisierungseffekt
    • Poststraße
    • Elektronischer Rechtsverkehr (ERV)
    • Österreichweites Namensverzeichnis
  • Internationale Wiederverwendbarkeit von Teilen der Anwendung

Funktionen der Verfahrensautomation Justiz – Registerführung

[116]
Abhängig von der Verfahrensart und vom Fallcode (Sub-Type der Verfahrensart) werden die Stammdaten des Verfahrens (die Daten des Erstantrages) sowie die Namen und Adressen der Parteien und Verfahrensbeteiligten inklusive ihrer Rollen erfasst. Zusätzlich werden im Verfahrensablauf alle Verfahrensschritte protokolliert. Bei den Verfahrensschritten werden manuelle und automatische Schritte unterschieden. Manuelle Schritte kennzeichnen einfache Statusänderungen oder manuell erzeugte Beschlüsse mit dem zugehörigen Datum und der betroffenen Partei. Mit Hilfe von automatischen Verfahrensschritten wird die Erzeugung von häufig gebrauchten komplexen Dokumenten automatisiert. Dabei werden mit Hilfe eines Eingabedialogs für den jeweiligen Verfahrensschritt die variablen Parameter dieses Schrittes erfasst, die zusätzlich zu den bereits vorhandenen Falldaten benötigt werden. Nach der Entscheidung über diesen Schritt durch das Entscheidungsorgan (Richter oder Rechtspfleger) wird der Beschluss, die Ladung oder die Note vollautomatisch erzeugt und ohne weiteren Benutzereingriff über die zentrale Poststraße oder über den Elektronischen Rechtsverkehr an die Parteien und ihre Vertreter versandt. Die Verfahrensautomation Justiz kennt mehr als 120 automatische Schritte, darunter hochkomplexe Beschlüsse, z.B.:
  • der Zahlungsbefehl (inklusive Zahlschein, Rechtsmittelbelehrung und Einspruchsformular) im Mahnverfahren
  • die Exekutionsbewilligung im Exekutionsverfahren inklusive der automatischen Drittschuldneranfrage und
  • Diversionsbeschlüsse im Strafverfahren.

Poststraße und österreichweite Namensabfrage

[117]
Diejenigen Funktionen, die schon in der VJ-alt hohe Rationalisierungseffekte erzielten, wurden in der neuen Anwendung beibehalten und verbessert. Die neuen Ausdrucke wurden durch eine verbesserte Gliederung und die Verwendung von typografischen Schriftsätzen mit Proportionalschrift übersichtlicher und leichter lesbar. Besonderes Augenmerk wurde auf eine bessere Information der Parteien gelegt. Allen Beschlüssen wird eine dem konkreten Fall angepasste Rechtsmittelbelehrung beigelegt, die der betroffenen Partei – abhängig von ihrer Rolle im Verfahren – die möglichen rechtlichen Optionen zum konkreten Beschluss erläutert. Die für alle Verfahren zur Verfügung stehende österreichweite Namensabfrage wurde insbesondere durch eine fonetische Suche für bestimmte Verfahrensarten ergänzt.

Grafisches User Interface, integrierter Texteditor, Online Hilfe

[118]
Ein Quantensprung im Vergleich zur VJ-alt ergab sich im Bereich User Interface und Benutzerfreundlichkeit. Die Funktionen der neuen Anwendung sind übersichtlich gruppiert und auf kurzem Weg erreichbar. In die Anwendung integriert ist ein Texteditor, womit individuelle Noten und Beschlüsse direkt in der Anwendung verfasst und formatiert werden können. In den Textbausteinen kann mit Hilfe von Variablen direkt auf Falldaten Bezug genommen werden.
[119]
Die integrierte Online Hilfe löst die bisherigen Benutzerhandbücher in Papierform ab und erspart damit beträchtliche Kosten für Ausdruck und Aktualisierung der Handbücher.
[120]
Die VJ ist eine der wenigen Anwendungen, die die Leistungsfähigkeit moderner PCs wirklich nützt: Beim Aufruf eines Falles wird der Fall in den Hauptspeicher des PCs geladen, der Benutzer kann bequem und schnell mit wenig Tastendrucken Einsicht in die Parteien, die Daten des Falles und das Register aller Verfahrensschritte im Fall nehmen sowie Änderungen leicht durchführen und neue Verfahrensschritte erzeugen. Beim Speichern des geänderten Falles werden nur geänderte Daten auf die zentrale Datenbank zurückgeschrieben.

Gerichtsgebühren und Kosten

[121]
Abhängig von den Parametern in den Antragsdaten werden die zu entrichtenden Gerichtsgebühren und die Rechtsanwaltskosten nach Tarif automatisch berechnet. Diese Gebühren und Kosten können auch über das vollautomatische Abbuchungs- und Einziehungsverfahren eingehoben werden. Das hat letztlich auch zur Abschaffung der vorher gebräuchlichen «Gerichtskostenmarken» geführt, die früher auf die Anträge geklebt werden mussten. Werden die Gerichtsgebühren nicht vollständig bezahlt, kann der offene Saldo mit den Funktionen Zahlungsaufforderung und Zahlungsauftrag eingetrieben werden. Mit der Abfrage «Kostenevidenz» erhält die Geschäftsabteilung jederzeit eine Übersicht über alle Fälle mit offenen Gebühren.

Statistik

[122]
Ausgehend von der Falldatenbank werden periodisch umfangreiche Statistiken erzeugt, die den Anfall und die Erledigungen in den verschiedenen Verfahrensgattungen auswerten. Diese Statistiken sind die Grundlage für die Personalplanung und Steuerung sowie eine faire Verteilung der Arbeit auf die Kanzleien und die Entscheidungsorgane.

Elektronische Schnittstellen: ERV, Ediktsdatei und externe Abfragen

[123]
Mit Hilfe des Elektronischen Rechtsverkehrs (ERV) werden Anträge von den Rechtsanwälten und den Großkunden der Justiz wie Banken, Versicherungen und sonstigen Stammkunden der Justiz in strukturierter maschinenlesbarer Form eingebracht und über eine Übermittlungsstelle an das Bundesrechenzentrum übermittelt. In der Gegenrichtung wird dem Kläger automatisch das vergebene Aktenzeichen mitgeteilt und es werden ihm Beschlüsse, Ladungen und Noten im Wege des ERV zugestellt.
[124]
Da bei Gericht die manuelle Fallerfassung entfällt, bringt diese Funktion die wohl bedeutendste Arbeitserleichterung für die Mitarbeiter und bewirkt durch die weitgehend vollautomatische Bearbeitung in den Massenverfahren auch eine signifikante Verkürzung der Verfahrensdauer.
[125]

Veröffentlichungen, die für die breite Öffentlichkeit bestimmt sind, erfolgen mit Hilfe der Ediktsdatei (www.edikte.justiz.gv.at) und wurden zuerst im Insolvenzverfahren und bei den Liegenschaftsversteigerungen eingesetzt. Wegen des großen Erfolges und der signifikanten Kostenersparnis verglichen mit den Kosten für Zeitungsinserate wurden diese Funktionen auch für sehr viele weitere Verfahrensbereiche eingesetzt.

[126]
In bestimmten Bereichen besteht für Rechtsanwälte die Möglichkeit, direkt auf die Register bei Gericht zuzugreifen, z.B. mit der § 73a EO Abfrage zur Abfrage der Geschäftsbehelfe des Exekutionsverfahrens. Mit der neuen Verfahrensautomation wurde diese Schnittstelle auf den Internet Standard «Web Services» umgestellt und wird über externe Internet-Service-Provider unter anderem den Rechtsanwälten gegen eine geringe Gerichtsgebühr pro Abfrage kostenpflichtig angeboten.
[127]
Diese Schnittstellen wurden auch nach Abschluss des Redesign-Projektes noch ausgebaut und erweitert: so wurde den Rechtsanwälten, Notaren und auch den Parteien selbst der direkte Zugriff auf die Falldaten derjenigen Fälle ermöglicht werden, in denen der Rechtsanwalt als Vertreter im Zivilverfahren oder der Notar als Gerichtskommissär im Verlassenschaftsverfahren tätig ist bzw. die Partei beteiligt ist.

Realisierte Verfahrensarten (Geschäftsregister und Geschäftsbehelfe):

  • Sachen der streitigen Gerichtsbarkeit (C, Cg, Cga, Cgs)
  • Exekutionssachen (E)
  • Außerstreitige Sachen (A, Msch, P, T)
  • Rechtshilfesachen (Hc, Hs)
  • Rechtsmittelsachen (R, Ra, Rs, Ob, Oba, Obs)
  • Unterbringungssachen (Ub)
  • Fristsetzungen (Fsc, Fss)
  • Strafsachen (U, Ur, Hv, BE)
  • Anklagesachen (BAZ, St, UT)
  • Allgemeine Registersachen (Nc, Ns, NSt)

Realisierte Verfahrensarten nach der Ebene der Gerichte und bei den Staatsanwaltschaften:

  • Bezirksgerichte (A, C, E, Hc, Hs, Msch, Nc, Ns, Ub, P, U)
  • Gerichtshöfe erster Instanz (Cg, Cga, Cgs, Fsc, Fss, Hc, Hs-FC 36 u. 37, Nc, Ns, R, T, Ur, Hv, BE)
  • Oberlandesgerichte (Fsc, Fss, Hc-FC 34, Hs-FC 39, Nc, R, Ra, Rs)
  • Oberster Gerichtshof (Fsc, Fss, Hc-FC 34, Hs-FC 39, Nc, Ob, Oba, Obs)
  • Staatsanwaltschaften einschließlich Bezirksanwälte (BAZ, NSt, St, UT)

Besondere Herausforderungen

[128]
Neben Schwierigkeiten bei der personellen Besetzung der für das Projekt notwendigen Personal-Ressourcen war die Beherrschung der hohen fachlichen Komplexität (insbesondere in Detailfragen) die größte Herausforderung. Folgende Bereiche sind hier anzuführen:
  • Der notwendige hohe Aufwand zum Erarbeiten detaillierter Soll-Vorgaben
  • Einarbeiten von 258 Change-Requests (Änderungen) bis zum Projektende
  • Bearbeiten von 94 neuen Requirements (Anforderungen) während der Projektlaufzeit
  • Jahr 2000 Umstellung
  • EURO Umstellung
[129]
Die Zieltermine waren sehr ehrgeizig. Dadurch kam es zu einer hohen Arbeitsbelastung der Projektteilnehmer unter Termindruck über längere Zeiträume.

Erfolge des Projektes und der Nutzen für die Justiz

[130]
Das Ziel der Schaffung einer offenen, plattformunabhängigen Anwendung mit grafischer Benutzeroberfläche wurde erreicht. Die gewählte Architektur der Lösung erwies sich als tragfähig und erzielt auch unter hoher Last kurze Antwortzeiten und hohe Stabilität.
[131]
Die neue Verfahrensautomation bewährt sich im echten Produktionsbetrieb:
  • Sie ist für die Benutzer «einfach zu lernen und zu benutzen».
  • So wurde zum Beispiel das Strafverfahren bundesweit in 3 Monaten umgestellt; dies inklusive der neuen Funktion Strafverfahren am Gerichtshof.
  • Das Zivilverfahren inklusive Mahnverfahren wurde – nicht zuletzt durch den Zeitdruck auf Grund der EURO-Einführung – in weniger als 2 Monaten umgestellt.
  • Die bundesweite Umstellung des Exekutionsverfahrens erfolgte innerhalb von drei Monaten.
  • Die Anwendung ist plattform-unabhängig: skalierbar vom Notebook bis zum Großrechner
  • Die neue Verfahrensautomation bewährt sich auch unter hoher Last: so erfolgten im März 2003 österreichweit bereits mehr als 6,7 Millionen Fallzugriffe und es wurden in diesem Monat 730.000 Schriftstücke an Parteien oder deren Vertreter erstellt und über die Poststraße oder über den Rückverkehr im Elektronischen Rechtsverkehr (ERV) verschickt. (Hinweis: Die aktuelle Last im Jahre 2013 ist natürlich durch den weiteren Ausbau der VJ noch sehr viel höher).
[132]
Die Resultate sind auch im internationalen Vergleich anerkannt. Das Projekt wurde mehrfach ausgezeichnet:
  • «Ökomanager 2000» und «Justitia 2000» für die Ediktsdatei
  • «EU eGovernment Label» für den Elektronischen Rechtsverkehr (ERV)
  • Zahlreiche ausländische Justiz-Delegationen haben das BMJ besucht um von den Erfahrungen und den Ergebnissen des Projektes als «best practice»-Beispiel zu lernen.

Die Projektkennzahlen zum Zeitpunkt des Projektabschlusses waren (Quelle dieser Zahlen ist der Projektabschlussbericht für das Projekt «Redesign – Verfahrensautomation Justiz» von BMJ und IBM vom Oktober 2003):

[133]
Gerichte auf 4 Ebenen:
  • Oberster Gerichtshof
  • 4 Oberlandesgerichte
  • 20 Gerichtshöfe erster Instanz (Landesgerichte)
  • 150 Bezirksgerichte (Hinweis: ursprünglich gab es 192 Bezirksgerichte, zur Steigerung der Effizienz wurden Kleinstbezirksgerichte zusammengelegt).
[134]
Die Staatsanwaltschaften sind parallel zur Gerichtsorganisation eingerichtet.
[135]
Anzahl der Benutzer bei den Gerichten und beim BMJ:
  • 7.400 Mitarbeiter (Stand 1. Juli 2002)
  • davon 1.992 Richter und Staatsanwälte und 5.417 andere Bedienstete.
[136]
Zusätzlich: 3.365 Mitarbeiter bei 29 Justizanstalten
[137]

Infrastruktur:

  • 331 Server, 9.814 Client-PCs (Gerichte: ~ 8.800; Strafvollzug: ~1.000)
[138]

Leistungsvolumen der Justiz:

  • ca. 3,6 Millionen neue Fälle pro Jahr (Quelle: Betriebliches Informationssystem 2002) mit
  • insgesamt 40 unterschiedlichen Verfahrensarten, davon:
    • 850.000 Zivilverfahren
    • 1.160.000 Exekutionsverfahren
    • 120.000 Strafverfahren
    • 610.000 Staatsanwaltliche Verfahren
[139]

Budgeterfolg 2002:

 

Die Einnahmen decken 72% des Justizbudgets (Ausgaben: 873 Mio. Euro, Einnahmen 630 Mio. Euro). Das Defizit resultiert aus den Kosten für den Strafvollzug, die Gerichte arbeiten kostendeckend durch die Gerichtsgebühren.

Kennzahlen zum Entwicklungsaufwand

[140]

Analyse Ergebnisse:

  • 170 Use Case Szenarien
  • ca. 2.000 Geschäftsregeln
[141]

JAVA Module (Rel 3.a):

  • 280 Packages
  • 1.723 External Classes
  • 3.223 Internal Classes
  • 26.470 Methods
  • 147.219 Statements

für Benutzeroberfläche, Geschäftslogik und Kommunikationslogik zum Lesen und Schreiben der Geschäftsobjekte.

[142]

Host Module:

  • 906 Module
  • 337.970 Lines of Code (Librarian records)

für zentrale Ausdrucke, Statistiken, Datenbank-Zugriffsmodule und Migration.

[143]
Textbausteine:
[144]
Etwa 1.450 zentrale Textbausteine für das Erstellen von gerichtlichen Schriftstücken. 120 unterschiedliche Ausdrucke (Schritte/ Ladungscodes) und 150 dezentrale Erledigungen.

Methoden und Vorgehensweisen

[145]
In der Beginn-Phase des Projektes wurde zunächst mit Methoden der Strukturierten Analyse vorgegangen um die Geschäftsprozesse bei den einzelnen Verfahren zu analysieren und die zu verwaltenden Daten zu eruieren. Da sich diese Art der Analyse als zu wenig effizient für Grob- und Detailanalyse erwies, erfolgte ein Umstieg auf objektorientierte Methoden.
[146]
Die Analyse erfolgte von diesem Zeitpunkt an objektorientiert mit Use Cases und Szenarien. Ein Use Case mit seinen Szenarien beschreibt dabei die möglichen Sequenzen der Interaktion zwischen Benutzer und System in einer bestimmten Umgebung bezogen auf ein bestimmtes Ziel. In Geschäftsregeln wurde festgehalten, welchen Prüfungen die eingegebenen Daten genügen müssen, um die Konsistenz eines Falles sicherzustellen oder wie bestimmte Ergebnisse (z.B. Gerichtsgebühren und Kosten) zu berechnen sind.
[147]
Die Entwicklung der Programme am Client und Server erfolgte objektorientiert, die der Programme am Host strukturiert. Code Reviews wurden teilweise durchgeführt.
[148]
Testfälle für den Systemtest wurden aus den Use Cases und Szenarien abgeleitet und wo notwendig wurden auch für gefundene Fehler zusätzliche Testfälle geschrieben. Für den Systemtest und insbesondere für den umfassenden Regressionstest vor der Auslieferung neuer Releases der Anwendung wurden auf Basis der Testfälle Test-Scripts für den automatischen Ablauf der Tests erstellt.

Werkzeuge und Programmiersprachen

[149]
Alle projektrelevanten Dokumente wurden in Lotus Notes/Domino Datenbanken abgelegt und standen durch Replikation zwischen den Servern der BRZG, des BMJ und der IBM allen Projektbeteiligten zur Verfügung.
[150]
Zur Dokumentation der Use Cases wurde einerseits Lotus Notes/Domino eingesetzt, andererseits Rational Rose verwendet, um das Analyse-Objektmodell zu erstellen. Weiters wurde der Oracle Designer eingesetzt, um das Entity-Relationship-Model und darauf aufbauend das Datenbankmodell zu erstellen.
[151]
Beim Design der Server- und Client-Teile der Applikation wurde ebenfalls Rational Rose zur Dokumentation des Design-Objektmodells eingesetzt.
[152]
Als Programmiersprache im Client-Server-Bereich wurde Java verwendet. Ursprünglich war der Einsatz von SmallTalk geplant gewesen. Gestützt durch die Ergebnisse der internationalen Zusammenarbeit mit dem Entwicklungszentrum der IBM in Houston für den Behördenbereich und dem IBM Projektteam des Schwesterprojektes «DuPage County Court» (Ein Kreisgericht in einem Vorort nahe Chicago) in Washington wurde noch im vierten Lenkungsausschuss am 17. Oktober 1997 nach eingehender Evaluierung die Entscheidung für Java getroffen.
[153]
Die Vorteile von Java als Programmiersprache sind die Plattform-Unabhängigkeit, die leichtere Erlernbarkeit und die geringere Fehleranfälligkeit bei der Programmierung im Vergleich zu C++ und die sehr viel leichtere Integrierbarkeit.
[154]
In vielen Bereichen der Anwendung wurde XML (Extensible Markup Language) eingesetzt. So wurde nicht nur die Online-Hilfe in XML geschrieben, sondern XML wurde auch für die Fall-Ansicht und beim lokalen Ausdruck von Dokumenten, zur Generierung von User Interface Elementen und schließlich auch für die integrierte Textverarbeitung eingesetzt.
[155]
Um die im Bundesrechenzentrum vorhandenen Kenntnisse der Host-Entwickler zu nutzen, wurden am Host-System die Datenbankzugriffsroutinen und der zentrale Druck in PL/I entwickelt. Als Datenbank wurde dort IBM DB2, als Transaktionsmonitor CICS eingesetzt.

Laufzeit des Projektes:

Projektstart: 20. Januar 1997 (Erster Lenkungsausschuss, Kick-Off)

Projektende: 3. Oktober 2002 (Abschließender Lenkungsausschuss)

Meilensteine im tatsächlichen Projektverlauf:

[156]
1997
  • Jänner: Formelle Projekt-Start-Sitzung
  • März: Überblicks-Matrix Anwendungsfunktionen
  • Oktober: Funktionsliste und Prioritäten an Key-User-Group
[157]
1998
  • Jänner: Schätzung Rel 1: A-Verfahren
  • Juni: Konzeptionelles Infrastruktur-Design
[158]
1999
  • Mai: Rel 1.1 Technischer Pilot Verlassenschaftsverfahren
  • Dezember: Parallelbetrieb Rel 1.2 Verlassenschaftsverfahren
[159]
2000
  • Februar: Rel 1.2 Verlassenschaftsverfahren
  • Oktober: Rel 2.1 Gerichtsgebühren
[160]
2001
  • März: Rel 2.2 Strafverfahren
  • November: Rel 2.3 Zivilverfahren inklusive Mahnverfahren und universelle Registerführung
[161]
2002
  • September: Rel 3a: Exekutionsverfahren inklusive Pflegschaft, Rechtsmittel Zivil und «kleinere» Verfahren
  • Oktober: Start des landesweiten Roll-out Rel 3.a = Ende des Redesign Projektes

Aufwand und Kosten

[162]

Die Gesamtkosten des Projektes beliefen sich auf 21.012.000.– Euro inklusive Umsatzsteuer. In diesem Betrag sind alle Kosten beginnend mit der Vorstudie bis zum Abschluss des Projektes 2002 enthalten. Dabei sind nicht nur für das BMJ budgetwirksame Kosten enthalten, sondern auch die Kosten der eigenen Mitarbeiter der Justiz und des BMF.

[163]
Diesen Kosten entsprach ein Aufwand von ca. 165 Personenjahren der von Mitarbeitern der Justiz (19 Personenjahre BMJ und Experten), der Bundesrechenzentrum GmbH (88 Personenjahre), des BMF (8 Personenjahre) und von IBM (50 Personenjahre) erbracht wurde.

3.8.

Ediktsdatei – www.edikte.justiz.gv.at ^

Fachlicher Hintergrund

[164]
Wegen der drastischen Rechtsfolgen eines Konkurses muss insbesondere im Insolvenzverfahren auch die breite Öffentlichkeit über viele wichtige Verfahrensschritte informiert werden (z.B. über Konkurseröffnung, Bestellung eines Masseverwalters, Anmeldefrist für die Gläubiger, Termine von Gläubigerversammlungen und Prüfungstagsatzungen, Ergebnisse von Tagsatzungen, Berichte des Masseverwalters, Beschlüsse des Gerichtes, Verteilungsentwurf usw. bis hin zur Schlussverteilung), damit die Gläubiger gefunden und sie ihre Rechte im Verfahren wahrnehmen können.
[165]
Traditionell sind diese Veröffentlichungen früher durch Anschlag eines «Ediktes» auf der Amtstafel des jeweiligen Gerichtes und zusätzlich mit Hilfe von Zeitungsinseraten in mehreren Print-Medien wie z.B. der Wiener Zeitung erfolgt. Das hat hohe Kosten für Zeitungsinserate verursacht und zusätzlich auch – wegen der Vorlauffristen bis zum Erscheinen eines jeden Inserates – zu beträchtlichen Verfahrensverzögerungen geführt.
[166]
Im Zuge des Ausbaues des Insolvenzverfahrens in der Verfahrensautomation Justiz wurde daher eine effizientere Lösung für die rechtsverbindlichen Veröffentlichungen der Justiz im Wege der «Ediktsdatei» im Internet gefunden (siehe: www.edikte.justiz.gv.at). Die Ediktsdatei umfasst heute alle Arten von Edikten aus unterschiedlichen Verfahrensbereichen.

Edikte im Insolvenzverfahren

[167]
Die erste Ausbaustufe der Ediktsdatei ab 1. Januar 2000 war die sogenannte «Insolvenzdatei», die zur Veröffentlichung aller Edikte im Zuge eines Insolvenzverfahrens (Insolvenzen, Ausgleiche und Schuldenregulierungsverfahren («Privatkonkurse»)) dient.
[168]
Die Ediktsdatei ist dabei als externe Schnittstelle für alle Veröffentlichungen an die Verfahrensautomation Justiz angebunden. Wird in der Verfahrensautomation Justiz im Insolvenzverfahren ein Verfahrensschritt angelegt, der eine Veröffentlichung erfordert, so werden die Daten dieses Verfahrensschrittes automatisch über eine Datenschnittstelle einmal pro Tag – kurz vor Mitternacht – zur rechtswirksamen Veröffentlichung in die Ediktsdatei gestellt.
[169]
Für die gebührenfreie Abfrage der Ediktsdatei stehen den Bürgerinnen, Bürgern und Firmen benutzerfreundliche und vielfältige Abfragefunktionen zur Verfügung. Man kann nach allen Erstanträgen oder Änderungen in der Insolvenzdatei innerhalb der letzten Tage suchen – österreichweit oder für ein bestimmtes Bundesland, oder man kann gezielt den Namen einer Firma oder Person suchen.
[170]

Die Einführung der Ediktsdatei mit dem Unterkapitel «Insolvenzdatei» für alle Veröffentlichungen im Insolvenzverfahren wurde ein durchschlagender Erfolg. Der Grund war die sehr viel übersichtlichere und leicht zugängliche Art der Veröffentlichung im Internet und die signifikante Reduktion der Publikationskosten von vorher etwa 1.000 Euro auf nur mehr zirka 50 Euro keim typischen Insolvenzfall. Das entspricht einer Reduktion der Publikationskosten um 95%, die den Parteien zu Gute kam.

[171]
Seit 1. Januar 2002 werden auch alle Veröffentlichungen, die im Zusammenhang mit gerichtlichen Versteigerungen von Liegenschaften (z.B. Grundstücke, Häuser, Eigentumswohnungen) ausschließlich und rechtsverbindlich in der Ediktsdatei vorgenommen.
[172]
Damit sich potentielle Interessenten ein besseres Bild machen können, enthält das Versteigerungsedikt auch das Kurzgutachten mit dem Schätzwert der Liegenschaft, Bilder, Lagepläne sowie Grundrisse von den zu versteigernden Objekten. Der vom Gericht mit der Schätzung der Liegenschaft beauftragte Sachverständige übermittelt dabei sein Kurzgutachten, Bilder, Lagepläne und Grundrisse (und optional auch das Langgutachten) direkt auf elektronischem Weg und gesichert über elektronische Zertifikate an das Gericht, das die Veröffentlichung mit dem Versteigerungsedikt vornimmt.
[173]
Der Vorteil für die Parteien (Schuldner und Gläubiger) ist, dass über die Ediktsdatei im Internet ein sehr viel breiterer Interessentenkreis erreicht wird und damit im Regelfall bessere Versteigerungserlöse erzielt werden können.

Firmenbuchedikte

[174]
Ab dem 1. Januar 2002 werden Eintragungen in das Firmenbuch in der Ediktsdatei bekannt gemacht. Neben den Firmenbucheintragungen werden auch Beschlüsse über die Verhängung einer Zwangsstrafe veröffentlicht.

Bekanntmachungen der Masseverwalter

[175]
Seit 1. Juli 2002 erfolgen auch die öffentlichen Bekanntmachungen der Masseverwalter über die beabsichtigte Veräußerung oder Verpachtung des dem Gemeinschuldner gehörenden Vermögens durch Veröffentlichung in der Ediktsdatei.
[176]
Damit ein Masseverwalter selber Eintragungen in der Ediktsdatei erstellen kann, muss er sich als Insolvenzverwalter registrieren lassen und sich ein Benutzerzertifikat besorgen, damit sichergestellt wird, dass nur autorisierte Personen Einträge vornehmen können. Alle eingetragenen Insolvenzverwalter werden in der sogenannten Insolvenzverwalterliste geführt.

Edikte im Strafverfahren

[177]
Seit 1. Januar 2003 werden Gegenstände, die im Rahmen eines gerichtlichen Strafverfahrens aufgefunden wurden und deren rechtmäßige Eigentümer nicht bekannt sind, in der Ediktsdatei bekannt gemacht.

Edikte im Exekutionsverfahren

[178]
Seit 1. Januar 2003 können auch Versteigerungen von beweglichen Sachen in der Ediktsdatei veröffentlicht werden. Über die «Suche nach Gegenständen» kann man nach bestimmten beweglichen Sachen suchen – über die «Suche nach Edikten» erhält man Informationen über alle bei einer bestimmten Versteigerung angebotenen beweglichen Gegenstände.
[179]
Ist der Aufenthalt einer am Exekutionsverfahren beteiligten Person unbekannt, wird der vom Gericht für diese Person bestellte Kurator in der Ediktsdatei bekannt gemacht.

Sonstige Erweiterungen

[180]
Darüber hinaus werden laufend weitere Veröffentlichungen, die gesetzlich vorgesehen werden, im Rahmen der Ediktsdatei verfügbar gemacht: zuletzt waren dies insbesondere Edikte nach dem Verwahrungs- und Einziehungsgesetz sowie die Veröffentlichung von Verschmelzungsverträgen und Spaltungsplänen.
[181]
Mit den technischen Mitteln der Ediktdatei wurden darüber hinaus folgende öffentliche Verzeichnisse implementiert und sind über die Homepage der Ediktsdatei (www.edikte.justiz.gv.at) zugänglich:
  • Gerichtssachverständigen- und Dolmetscherliste (SDG-Liste)
  • Mediatoren-Liste
  • Insolvenzverwalterliste
  • Zwangsverwalterliste
  • Lobbying- und Interessenvertretungsregister (LIV-Register)
[182]
Der jeweilige Gerichtssachverständige, Dolmetscher oder Mediator kann dabei in Selbstverwaltung bestimmte Felder seines eigenen Eintrags – wiederum geschützt durch elektronische Zertifikate – selber ändern.

Technik

[183]
Die Ediktsdatei basiert auf IBM Lotus Notes Datenbanken, die dokumenten-orientiert sind. Ein Dokument kann sowohl normale formatierte Felder aber auch «Rich Text»-Felder enthalten wo formatierter Text, Dateianhänge oder eingebettete Objekte (z.B. Bilder) gespeichert werden können. Die Anzeige eines Dokumentes ist vom Inhalt entkoppelt. Die Anzeige erfolgt mit Hilfe von Masken («Forms»), die ebenfalls als Dokumente in der Lotus Notes Datenbank gespeichert werden. Die Änderung einer Maske zur Anzeige hat keine Auswirkung auf bereits gespeicherte Dokumente. Mit den bereitgestellten Funktionen können relativ einfach und schnell dokument-basierende Anwendungen erstellt werden.
[184]
Eine IBM Lotus Notes Datenbank residiert normalerweise auf einem Lotus Domino Server und kann mittels Replikation auf mehrere Server verteilt und synchron gehalten werden, aber auch auf Clients, um eine Notes Datenbank z.B. auch offline in Bahn und Flugzeug verwenden zu können.
[185]
Der Zugriff auf IBM Lotus Notes Datenbanken erfolgt entweder über einen Lotus Notes Client oder direkt über Web-Browser.
[186]
IBM Lotus Notes verwendet eine integrierte Public-Key-Infrastruktur (PKI) mit privaten und öffentlichen Schlüsseln, wodurch es auch bei hohen Sicherheitsanforderungen eingesetzt werden kann und das bei wenig Aufwand für die Schlüsselverwaltung und Verteilung. Die öffentlichen Schlüssel werden im LDAP-fähigen Lotus Domino Directory abgelegt.
[187]
IBM Lotus Notes hat auch ein integriertes E-Mail System, das speziell bei Großkunden beliebt ist und auch im BMJ eingesetzt wird, weil es plattform-unabhängig auf den gängigen Serverplattformen vom PC über LINUX oder UNIX Systeme bis zum Großrechner eingesetzt werden kann und bei geringem Administrationsaufwand auch für sehr hohe Benutzeranzahlen skaliert. IBM selber setzt es daher auch als internes Mailingsystem für 400.000 Mitarbeiter bzw. als Kollaborations-Plattform mit Dokument- und Diskussions-Datenbanken intern, für die Kommunikation mit Business-Partnern und bei Kundenprojekten ein. Auf der Client-Seite werden durch das Programm IBM Notes Traveler auch die gängigen Smartphones und Tablets komfortabel und sicher unterstützt.

Herausforderungen

[188]
Die Ediktsdatei muss eine hohe Spitzenlast zu bestimmten Tageszeiten bewältigen, wenn z.B. im Bereich der Insolvenzdatei viele Benutzer gleichzeitig schon am frühen Morgen routinemäßig die Liste aller neuen Insolvenzverfahren (Ersteinträge) bzw. die Liste aller neuen Edikte zu bereits laufenden Insolvenzverfahren (Änderungen) abfragen.
[189]
Insgesamt wird über die Ediktdatei im Internet ein wirklich hohes Volumen von Suchen abgewickelt. Im Jahr 2012 betrug die Anzahl der Such-Zugriffe auf die Ediktsdatei bereits 40 Millionen pro Jahr.

Erfolgsfaktoren

[190]
Was ursprünglich als kleinere spezialisierte Anwendung für Veröffentlichung aus dem Insolvenzverfahren begann, hat sich zu einer wichtigen Plattform für alle Arten gerichtlicher Veröffentlichungen entwickelt. Die Juristen in den Legislativabteilungen des BMJ haben den Nutzen und das Einsparungspotential dieser neuen technischen Funktionen rasch erkannt und haben daher Gesetze und Verordnungen zügig angepasst, damit diese neue effizientere Art der Veröffentlichung auch auf weitere Verfahrensarten angewandt werden konnte.

3.9.

Europäisches Mahnverfahren ^

[191]
Mit der Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 12. Dezember 2006 (Abl. L 399/1R) wurde zum 12. Dezember 2008 das Europäische Mahnverfahren eingeführt. Es gilt in allen EU Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks. Deutschland und Österreich entwickelten für dieses Verfahren im Jahr 2008 gemeinsam die erste Version einer IT-Anwendung, die sich nach Anpassung an nationale Besonderheiten grundsätzlich auch zum Einsatz in der gesamten EU eignet.

Entwicklungskooperation

[192]
Die Justizverwaltungen von Deutschland und Österreich haben auf der Grundlage ihrer Erfahrungen in den nationalen Mahnverfahren gemeinsam eine IT-Anwendung zur elektronischen Abwicklung des Europäischen Mahnverfahrens entwickelt. Die Kooperation ist grundsätzlich offen für weitere EU-Mitgliedsländer. In Deutschland liegt die Zuständigkeit für das Europäische Mahnverfahren bei den Bundesländern, die sich darauf geeinigt haben, die Abwicklung auf ein Gericht zu konzentrieren. Ausgewählt wurde das Amtsgericht Wedding in Berlin.
[193]
In Österreich wurde das Europäische Mahnverfahren zunächst bei den regional und nach dem Wert der Rechtssache zuständigen Gerichten abgewickelt. Ab dem 1. Juli 2009 wurde auch in Österreich die Abwicklung des Europäischen Mahnverfahrens konzentriert, und zwar beim Bezirksgericht für Handelssachen Wien
[194]
Die Zuständigkeit für die Verfahrensautomation liegt beim Bundesministerium für Justiz in Wien.
[195]
Für die Kooperationspartner ist bei der Zusammenarbeit von besonderer Bedeutung, über den eigenen Bedarf hinaus eine Option für alle EU-Mitgliedsstaaten zu schaffen und zugleich die Ziele der europäischen e-Justice Initiative zu unterstützen. Daher wurde die IT-Anwendung in einer Form entwickelt, die grundsätzlich in allen Mitgliedstaaten Verwendung finden kann. Das Projekt und die geplanten weiteren Ausbaustufen bilden den gesamten Verfahrensablauf des Europäischen Mahnverfahrens ab, wie er in sämtlichen Mitgliedstaaten einheitlich gilt. Zur universellen Verwendbarkeit wird das Verfahren mit Sprach- und Währungsmodulen sowie mit allen erforderlichen Schnittstellen zur Integration in unterschiedlichen Infrastrukturen ausgestattet.

Vorteile der Lösung

  1. Die Lösung kann wegen ihrer lose gekoppelten Architektur leicht in andere EU-Mitgliedsstaaten übertragen, dort genutzt und integriert werden.
  2. Die Trennung landesspezifischer Ergänzungen von der Entwicklung des Kerns für das EU Mahnverfahren ist Grundlage für eine durch die Anwendergruppe fachlich gesteuerte, versionsorientierte Masterlösung.
  3. Die Verwendung der Prinzipien einer Service Orientierten Architektur (SOA) bietet einfache Möglichkeiten der Einbindung geplanter Komponenten, wie z.B. den Anschluss zur Unterstützung einer sicheren Kommunikation für das elektronische Einbringen von Anträgen.

Funktionen der Lösung

  1. Fallmanagement: Einfache Bearbeitung von Fällen des EU Mahnverfahrens.
  2. Übernahme der Antragsdaten aus Formblatt A und Erstellung weiterer Formblätter und Verfahrensschritte im System.
  3. Output Management: Druck der verschiedenen Formblätter und Bescheide des EU Mahnverfahrens.
  4. Textbausteine: Einfache Verwendung von zentral verwalteten Textbausteinen für formlose Anschreiben oder Freitext-Felder in Formularen.
  5. Anbindung an den elektronischen Rechtsverkehr: Antragstellung und Rückübermittlung von Gerichtszustellungen über das Elektronische Verwaltungs- und Gerichtspostfach (EGVP) in Deutschland bzw. den Elektronischen Rechtsverkehr (ERV) in Österreich.
  6. Erweiterte Plausibilitätsprüfungen: Hoher Automatisierungsgrad durch automatische Prüfungen der Antragsdaten.
  7. Statistiken zur Auswertung.

Erfolgsfaktoren

[196]
Die betroffenen Justizverwaltungen in Deutschland (Das Justizministerium des Landes Berlin die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz und das für das EU-Mahnverfahren zuständige Amtsgericht Wedding in Berlin) und in Österreich (Bundesministerium für Justiz) konnten sich – nicht zuletzt auf Grund der pragmatischen und unbürokratischen Vorgehensweise von Dr. Martin Schneider – auf der Managementebene rasch auf eine Kooperation einigen und auch die Unterstützung durch das deutsche Bundesministerium der Justiz erreichen.
[197]
Durch die Kooperation ergaben sich erhebliche Kostenvorteile, weil durch die internationale Kooperation auch EU Fördermittel für die Ausbaustufen des Projektes genutzt werden konnten und die verbleibenden Entwicklungskosten zwischen Deutschland und Österreich (im Verhältnis der jeweiligen EU Ratsstimmen) geteilt werden konnten.
[198]
Beide Seiten haben ihre Erfahrungen mit dem nationalen Mahnverfahren sowie Fachexpertinnen für das EU-Mahnverfahren eingebracht: Deutschland durch zwei Rechtspflegerinnen des Amtsgerichts Wedding, die das EU-Mahnverfahren auch in der Praxis abwickeln, und Österreich durch eine kompetente Organisatorin der Bundesrechenzentrum GmbH, die auch die österreich-spezifischen fachlichen Aspekte in die Kooperation eingebracht hat.
[199]
Für die Unterstützung der Entwicklung und für den Betrieb hat man die bewährten eigenen IT-Serviceprovider beider Seiten eingebunden – in Deutschland die zuständigen IT-Funktionen beim Land Berlin und die IT-Funktionen beim Amtsgericht Wedding sowie in Österreich die Bundesrechenzentrum GmbH.
[200]
Auf Grund des hohen Zeitdrucks und zur Verminderung von Zeit, Kosten und Risiko hat man bei der Anwendungsentwicklung auf die Wiederverwendung von bereits im Produktionsbetrieb bewährten Komponenten der österreichischen Verfahrensautomation Justiz gesetzt (z.B. das User-Interface Framework). Deswegen wurden für die Anwendungsentwicklung und zum Know-how Transfer IT-Architekten und Entwickler der IBM Deutschland und ein IT-Architekt der IBM Österreich eingesetzt.
[201]
Für die Projektsteuerung hat man einen internationalen Lenkungsausschuss mit Vertretern aller beteiligten Projektpartner eingesetzt; die praktische Arbeit im Projektteam erfolgte weitgehend beim Amtsgericht Wedding in Berlin.
[202]
Besonders positiv hervorgestrichen werden muss die zielgerichtete und pragmatische Vorgehensweise der Projektpartner und die freundliche Zusammenarbeit auf allen Ebenen – trotz des hohen Zeitdrucks, was wesentlich zum Erfolg des Projektes beigetragen hat. Die erste Version der Anwendung EU-Mahnverfahren konnte pünktlich zum 12. Dezember 2008 in Deutschland und Österreich in Betrieb gehen.
[203]
Im November 2009 wurde das gemeinsam von Deutschland und Österreich eingereichte Projekt EU-Mahnverfahren auf der EU e-Government Konferenz in Malmö als Gewinner der Kategorie «e-Government applications supporting the single European market» mit dem EU «e-Government Label» ausgezeichnet.
[204]
Seither ist die Anwendung in Ausbaustufen erweitert wurden z.B. um die Anbindung an den Elektronischen Rechtsverkehr (ERV) in Österreich und das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) in Deutschland.
[205]
Im Zuge des EU e-CODEX Projektes war das EU-Mahnverfahren daher auch das erste Verfahren für das im Sommer 2013 der erste funktionierende e-CODEX Pilot realisiert werden konnte. Damit kann ein österreichischer Anwalt z.B. einen «Antrag auf Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls» (Formblatt A) elektronisch über den österreichischen ERV und via e-CODEX und das deutsche EGVP an das für ganz Deutschland zuständige Amtsgericht Wedding in Berlin schicken, um eine offene Forderung bei einem deutschen Schuldner zu betreiben.

4.

Würdigung: Erfolgsfaktoren der Justiz und des Jubilars ^

[206]
Die österreichische Justiz hat über einen Zeitraum von nunmehr mehr als 30 Jahren zahlreiche erfolgreiche IT-Projekte abgewickelt und eine Reihe von Anwendungen erstellt, die auch international anerkannte Vorzeigeanwendungen sind. Dieses Kapitel beschäftigt sich daher mit den Faktoren, die solche Erfolge möglich machen:
  • Günstige Umgebungsparameter: Das BMJ ist ein vergleichsweise kleines Ministerium mit starker Sachorientierung, klarer Regelung von Kompetenzen und kurzen Entscheidungswegen. Der Bereich Justizverwaltung ist Bundeskompetenz, was die Einführung von bundesweiten IT-Lösungen zur Unterstützung der unabhängigen Gerichte erleichtert.
  • «Leadership» auf der Management-Ebene: Die Ziele und Prioritäten werden unter Einbeziehung des Top-Managements entwickelt und klar kommuniziert. Das Management von Projekten und IT-Anwendungen wird als Kernaufgabe wahrgenommen und ist hierarchisch genügend hoch aufgehängt um notwendige Begleitmaßnahmen in Bereichen wie Legislative, Organisation, Personal und Budget umsetzen zu können. Das Management arbeitet aktiv im Lenkungsausschuss an den Projekten mit, um wichtige Entscheidungen zu treffen und gemeinsam mit dem Projektteam allenfalls Korrekturmaßnahmen beim Auftreten von fachlichen und technischen Problemen oder Änderungen im Projektverlauf zu setzten.
  • Einbeziehung der Endbenutzer und der betroffenen Stakeholder: Vertreter der Endbenutzer der IT-Anwendungen sowie Vertreter aller relevanten Stakeholder wie Legistik-Abteilungen, Personalvertretung, Richtervereinigung, Rechtsanwaltskammer und Notariatskammer werden bereits sehr früh bei der Anforderungserhebung und Prioritätensetzung und auch später umfassend in den gesamten Projektverlauf eingebunden. Bei Bedarf werden auch Praktiker von den Gerichten in die Projektteams integriert und z.B. als fachliche Experten bei der Evaluierung von Design-Alternativen, beim Review des Userinterface-Design und beim Test von neuen Funktionen eingesetzt.
  • Qualität des eingesetzten Personals: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim BMJ sind anerkannte Experten auf ihrem juristischen Fachgebiet und bringen zudem große praktische Erfahrung von ihrer Tätigkeit als Richter oder Staatsanwalt mit, die Voraussetzung für eine Aufnahme im BMJ ist.
[207]
Diese Erfolgsfaktoren der österreichischen Justiz werden verstärkt durch die persönlichen Erfolgsfaktoren des Jubilars Dr. Martin Schneider:
  • Er verkörpert in Person die «e-Justice» Vision der österreichischen Justiz und stellt in bemerkenswerter Weise sicher, dass die großen Ziele dieser Vision auch über lange Zeiträume nie aus dem Auge verloren werden und stufenweise in kontrollierten Schritten durch Projekte umgesetzt werden. Dabei ist er aber flexibel genug um auf geänderte externe Rahmenbedingungen zu reagieren und sorgt daher auch für die periodische Anpassung und Aktualisierung der (Detail-) Ziele und Maßnahmen.
  • Seine aktive Suche nach der «best practice»: Auf Grund seiner Initiative stellt sich die österreichische Justiz dem internationalen Vergleich und sucht aktiv «best practice» Beispiele nicht nur in Österreich sondern auch in anderen Ländern, seien es Ideen, Trends, Konzepte, Organisation, Vorgehensweisen, Regelungen, Architekturen und Techniken, die sich im echten praktischen Einsatz bewähren. Solche «best practice» Beispiele werden aufgegriffen um die eigenen Konzepte zu verbessern und um sie auch im eigenen Bereich umzusetzen. Ebenso lernt man aus der Diskussion mit ausländischen Besuchern bei der österreichischen Justiz.
  • Durch ihn und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist die österreichische Justiz aktiv in allen wichtigen «e-Justice» Gremien im EU Rat (z.B.: «Working party e-Justice and e-Law») und bei der EU Kommission vertreten. Er ist ein überaus geschätzter Partner bei internationalen EU-Projekten. Durch sein pragmatisches unbürokratisches Vorgehen und seine Handschlagqualität vermittelt er seinen Projektpartnern Vision, Richtung und Vertrauen in den Projekterfolg und er ist daher ein stabilisierender Ankerpunkt für jedes von ihm mitgestaltete Projekt.
  • Seine Aufgeschlossenheit für Innovation lässt ihn neue Lösungsmöglichkeiten frühzeitig erkennen. Er ist bereit kontrollierte Risiken einzugehen, damit nützliche Innovationen möglichst schnell eingesetzt werden können.
  • Er versteht es Teams zu motivieren, indem er Mitarbeiterinnen und internen und externen Partnern zwar herausfordernde Ziele setzt, ihnen aber auch Freiräume für eigene Entscheidungen im jeweiligen Aufgabenbereich lässt. Insbesondere in kritischen Situationen lässt er seine Mitarbeiter und Teams aber nicht alleine im Regen stehen, sondern er trägt zu einer sachlichen Problemlösung bei. Er lässt sie am Projekterfolg teilhaben, was zu einer hohen Motivation auch in organisationsübergreifenden Teams mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Justiz, BMF, Bundesrechenzentrum und externen Subunternehmern wie IBM führt, die sich mit hoher Identifikation alle als Mitglieder des «Justiz-Teams» erleben. Wir haben selten Projekte erlebt, wo dieser organisationsübergreifende Schulterschluss von fachlichen und technischen Experten so gut gelingt!
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Wir bedanken uns bei der österreichischen Justiz, dass wir als Partner bei so vielen Projekten mitarbeiten durften und wünschen Dr. Martin Schneider zum 60. Geburtstag Gesundheit und weiterhin viel Erfolg bei seinen schwierigen Aufgaben zur Verwirklichung der e-Justice Vision durch permanente Erweiterung, Anpassung und Erneuerung der IT-Anwendungen der österreichischen Justiz.

 

Mag. Tatjana Oppitz, Generaldirektorin der IBM Österreich.

 

Mag. Sonja Grassberger, IBM Kundenbetreuerin für die Justiz, verantwortlich für Großkunden im öffentlichen Sektor wie BMJ und BMF.

 

Dipl.‐Ing. Johann Kickinger, IBM Retiree. Aktuell als freier Dienstnehmer bei der Bundesrechenzentrum GmbH für EU Projekte im Justizumfeld tätig, johann.kickinger@brz.gv.at.